G. Deleuze / F. Guattari. Rhizom

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Gilles Deleuze I Felix Guattari

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ftd\S rm\l l>ent iibcr Merve Verlag Berlin
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niß R lld uiel~n ttihmjell tricrlJI ~,; fJOrijontat im tl{um enl1oidc!l meift jcber ,Smeig an idner Gpitle
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langen :Hei~e oon ~nl)ren bod) nicl)t, roit onbte Die!•
jä~rige 6tenge!orgnne, ftetig ~ri.JB.m ~imenfiontnj
er ijt nur inlmifd,Jeu dn anbrer geiU(Itben. Rhizoma
(Radix) Calami, stuhnußluur~el; R(H:n<lix)Caricis,
rote Cuede, 6onbric'to!ra~muqel; R (Radix) Chi-
IHle, ij~innwuL·~el; R ( {adix) CUl'l·IJtuac, lfurfuma;
B. (lb<lix.J Filids, F. muis, '1\.\urmioltnl\lllrje(; R.
fHa1lix) Gnlnng~e, (llal~ont; R. (Ha.di:t) Ül'aulinii
C.ned'emultr.wC; R. (R1111ix) Imperaturiae. 3Reifter:
luuqe{; R. fRa.1lix) Iridk I. florentinae, !l_lei!djcn,
JI/Ur;d; H. (Radix) 'formentillae. XorntentiUmutje[·
R. !Ridix) Yernni, V, albi, Hellebori nlbi, roei~;
l)lie~·muqcl; R. (Radix)Zerloatine,,Sitrotrrour!d ·lt,
(H;11iix) .'Zing-ihcri~. ~ngroer, '
Aus dem Französischen von INHALT
Dagmar Berger, Clemens-Carl Haerle, Helma Konyen,
Alexander Krämer, Michael Nowak und Kade Schacht.
Titel der Originalausgabe : "Rhizome. Introduction"
Paris : Les Editions de Minuit, 1976 RHIZOM
5
42 Anmerkungen

ANHANG
49 Über Kapitalismus und Schizophrenie
Gespräch mit Felix Guattari und
Gilles Deleuze

Q Les Editions de Minuit, Paris 1976


Q der deutschen Ausgabe, 1977 by Merve Verlag GmbH,
1 Berlin 15, Postfach 327, Printed in Germany. Drucl
und Bindearbeiten: Dressler, Berlin. Umschlagentwurl
11
Betrieb 11 , Köln.
ISBN 3-920986-83-0
Wir haben den 11 Anti-ÖdipuS 11 zu zweit geschrieben. Da
jeder von uns mehrere war, machte das schon eine
Menge aus. Dabei haben wir alles benutzt, was uns
einfiel, das Nächstliegende und das Fernste. Geschickt
haben wir Pseudonyme verteilt, um Unkenntlichkeit zu
erzeugen. Warum wir unsere Namen beibehalten haben?
Aus GewOhnheit, lediglich aus Gewohnheit. Um uns un-
sererseits unkenntlich zu machen. Nicht, um uns selbst
zu verbergen, sondern das, was uns handeln, empfin-
den oder denken läßt. Und dann auch, weil es Spaß
macht, wie jedermann zu reden rmd zu sagen: die Son-
ne geht auf, wenn alle wissen, daß dies eben eine Re-
densart ist. Nicht, um dabei an einen Punkt zu kom-
men, wo man nicht mehr ich sagt, sondern dahin, wo
es völlig gleichgültig ist, ich zu sagen. oder nicht. Wir
sind nicht mehr wir selbst. Jeder wird seine Teile
schon erkennen. Man hat uns unterstützt, verschlun-
gen und vervielfältigt.

Wir sprechen nicht mehr viel von der Psychoanalyse,


doch tun wir es noch, und das zuviel. Da läuft
nichts mehr. Wir hatten das alles satt, waren aber un-
fähig, sofort damit Schluß zu machen. Die Psychoana-
lytiker und erst recht die Analysierten langweilen uns
zu Tode. Es war nötig, dieses Zeugs, das uns aufhielt,
für unser Vorhaben zu beschleunigen - ohne uns Illu-
sionen über die objektive Tragweite einer solchen Ope-
ration zu machen; es war nötig, ihm eine künstliche
Geschwindigkeit zu verleihen, bis es zwischen ihm und
Paris 1972 (Frankfurt 1974) erschien der erste Band uns zum Bruch kam. Es ist aus, wir werden nach die-
von "Kapitalismus und Schizophrenie", "Anti-Ödipus" sem Buch überhaupt nicht mehr über die Psychoanaly-
Der vorliegende Text, "Rhizom", ist die Einführung se reden. Niemand wird darunter leiden, weder sie
noch wir. Es ist merkwürdig, wie hinderlich die Ein-
zum zweiten Band, der frühestens 1979 in Paris er· wände sind, die man euch macht. Wenn ihr versucht,
scheinen wird. in einem Bach zu schwimmen, bindet man euch Klötze
ans Bein. Habt ihr an dieses gedacht, was macht ihr
mit jenem? Seid ihr auch schön kohärent? Seht ihr
nicht den Widerspruch? Welche Sanftmut, niemals zu
antworten. Nur eins ist schlimmer als die Einwände
und Widerlegungen der Einwände: die Reflexion, das
5
Zurück-zu . . . Zum Beispiel der Rückgriff auf ein vor- währleistet. Wie überall, so kommt es auch hier vor
hergehendes Buch: was kam schon drin vor? Habt ihr allem auf die Maßeinheiten an: die Schrift quan-
Freud auch richtig verstanden? Und euer neues Buch t if i zieren . Es gibt keinen Unterschied zwischen
habt ihr eure Meinung geändert? Was für ein Horror' dem, wovon ein Buch handelt, und der Art, wie es ge-
Bilanz zu ziehen. Ein Buch hat weder Objekt noch Sub- macht ist. Ein Buch hat also kein Objekt mehr. Als
jekt, es ist aus den verschiedensten :Materialien ge- Verkettung steht es nur in Verbindung mit anderen
macht, aus ganz unterschiedlichen Daten und Geschwin- Verkettungen und im Verhältnis zu anderen organlo-
digkeiten. Sobald man das Buch einem Subjekt zu- Sen Körpern. Man fragt nie, was ein Buch bedeuten
schreibt, vernachlässigt man die Arbeit der Materia- will, Signüikat hin, Signifikant her, nian sucht in ei-
lien und die Äußerlichkeit ihrer Beziehungen. Man fa- nem Buch nichts zu begreifen; man fragt, womit ein
briziert einen lieben Gott der geologischen Bewegun- Buch funktioniert, in welchen Verbindungen es Inten-
gen. Wie überall, so gibt es auch in einem Buch Li- sitäten strömen läßt, in welche Vielheiten es seine
nien der Art~ulation oder Segmentierung, Schichten Vielheit einführt und verwandelt, mit welchen anderen
und Territorialitäten; aber auch Fluchtlinien, Bewegun- organlosen Körpern sein eigener konvergiert. Ein Buch
gen der Deterritorialisierung und Entschichtung, Ent- existiert überhaupt nur durch das Außen und im Außen.
sprechend diesen Linien gibt es Fließgeschwindigkeiten Wenn ein Buch also selbst eine kleine Maschine ist, in
mi_t denen. Phänomene relativ~r Verzögerung und Zähig~ welchem meßbaren Verhältnis steht dann diese litera-
keit oder 1m Gegenteil, der Uberstürzung und des Ab- rische .Maschine zu einer Kriegsmaschine, einer Lie-
bruchs einhergehen (ja, die Psychoanalyse war unser besmaschine, einer Revolutionsmaschine, etc. - und
Klotz am Bein, der abgefeilt werden mußte). Beide zu- zu einer abstrakten Maschine, die alle mit
sa~men, . die Li_nien und die meßbaren Geschwindig- sich zieht? Man hat uns vorgeworfen, wi:t hätten uns
k~lten, ·blJ?en ~me maschinelle Verkettung. zu oft auf Literaten berufen. Ein idiotischer Vorwurf.
Ern Buch 1st eme solche Verkettung und insofern nicht Denn beim Schreiben geht es nur darum, zu wissen,
zuschreibbar. Es ist eine Vielheit (multiplicit~) aber an welche andere Maschine die literarische Maschine
~n weiß noch n~cht, was das Viele (multiple) {mpli- angeschlossen werden kann, ja angeschlossen werden
Zlert, wenn es mcht mehr zuschreibbar ist, d. h. wenn muß, damit sie funktioniert. Kleist und eine verrück-
es substantiviert wird. Eine maschinelle Verkettung te Kriegsmaschine, Kafka und eine Unerhörte bürokra-
ist gegen die Schichten gerichtet, die aus ihr zweifel- tische Maschine ... (und wenn man durch Literatur
los eine Art Otrganismus machen, eine signifikante To- Tier oder Pilanze werden würde, was gewiß nicht lite-
talität oder eine eine·m Subjekt zuschreibbare Bestim- rarisch zu nennen wäre? wird man nicht vor allem
mung. Sie ist aber auch gegen einen o r g an 1o s e n durch die Stimme zum Tier?). Die Literatur ist eine
Kör_p.-e-r gerichtet, der fortwährend den Organismus Verkettung, sie hat nichts mit Ideologie zu tun, es
schwächt, der asignifikante Teilchen, reine Intensitäten gibt keine und gab nie Ideologie.
s?"ömen und zirkulieren läßt; der die Subjekte auf sich
z1eht, denen er nur einen Namen als Spur einer Inten- Wir sprechen nur noch von Vielheiten, Linien, Schich-
sität läßt. Was ist der organlose Körper eines Buches? ten, Segmentierungen, Fluchtlinien und Intensitäten, ma-
Es gibt mehrere, entsprechend der Art der betrachte- schinellen Verkettungen und ihren verschiedenen Typen,
ten Linien, ihrem Gehalt, ihrem spezifischen Gewicht organlosen Körpern und ihrer Konstruktion und Selek-
und ihrer möglichen Konvergenz auf einem 11 Konsi- tion, über den KonsistenzpJan und die jeweiligen Maß-
stenzplan11 (plan de consistance), der ihre Selektion ge- einheiten. Die Stratameter , die Deleometer,
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die CsO-Einheiten*des spezifischen Ge- guistik hält an diesem Grundmodell des Wurzelbaum
wichts und der Konvergenz quantifizieren nicht fest und bleibt damit dem klassischen. Denken verhaf-
nur die Schrift, sondern definieren diese immer als tet (Chomsky' s syntagmatischer Baum beginnt an einem
das l\1aß von etwas anderem. Schreiben hat nichts mit Punkt S und pflanzt sich dichotomisch fort). Insofern
Bedeuten zu tun, sondern mit landvermessen und Kar- kann man sagen, daß dieses Denken die Vielheit nie
tographieren, auch des gelobten I.andes. begriffen hat: es muß von einer starken, Vorgängigen
Einheit ausgehen, um zu zwei zu kommen, und es folgt
Ein erster Buchtyp ist das Wurzelbuch. Der Baum dabei einer geistigen Methode. Auf der Seite des Ob-
ist bereits Bild der Welt, ode"r besser: die Wurzel ist jekts kann man mit der natürlichen Methode zweifel-
Bild der Baumwelt. Das ist das klassische Buch, los direkt von dem Einen zu drei, vier oder fünf
schöne organische Innerlichkeit, jede Schicht signifi- kommen, aber immer nur unter der Voraussetzung
kant und subjektiv. Das Buch imitiert die Welt wie die einer starken vorgängigen Einheit, d. h. einer Haupt-
Kunst die Natur: mit seinen eigenen Verfahrensweisen, wurzel, die die Seitenwurzeln trägt. Besser geht's
die das zum guten Ende führen, was die Natur nicht kaum. Man hat lediglich die binäre Logik der Dicho-
oder nicht mehr vermag. Das Gesetz des Buches ist tomie durch biunivoke (ein-eindeutige) Beziehungen
dasjenige der Reflexion: das Eine, das zwei wird. Wie zwischen aufeinanderfolgenden Kreisen ersetzt. Die
sollte das Gesetz des Buches in der N3.tur zU finden Hauptwurzel erfaßt die Vielheit auch nicht besser als
sein, da es doch gerade der Teilung zwii!!Chen Welt und die dichotome Wurzel. Die eine operiert im Objekt
Buch, Natur und Kunst vorausgeht? Aus Eins wird zwei: und die andere im Subjekt. Die binäre Logik und die
jedesmal, wenn wir dieser Formel begegnen, ob sie nun biunivoken Beziehungen beherrschen selbst noch.die
:Mao als Strategie ausgegeben oder man sie so 11 dialek-. Psychoanalyse (der Baum des Deliriums in der Freud-
tisch 11 wie möglich begriffen hat, haben wir es mit dem schen Schreber-Interpretation), die Linguistik und den
reflektiertesten, ältesten klassischen Denken zu tun, das Strukturalismus, ja noch die Informatik.
völlig abgenutzt ist. Die Natur geht so nicht vor: dort
sind Wurzeln Piahlwurzeln mit zahlreichen Verzweigun- Die büschelige Wurzel oder das System der kleinen
gen, seitlichen und sternförmigen, jedenfalls keinen di- Wurzeln ist der zweite Buchtyp, den die Moderne gern
chotomischen. Der Geist bleibt hinter der Natur zurück. für sich in Anspruch nimmt. Die Hauptwurzel ist ver-
Als natürliche Realität gleicht das Buch einer Pfahl- kümmert, ihr' Ende abgestorben; und schon beginnt ei-
wurzel, mit seiner Achse und den Blättern drumherum. ne Vielheit von Nebenwurzeln wild zu wuchern. Hier
Seine geistige Realität hingegen, sofern Baum oder Wur- erscheint die natürliche Realität als Verkümmerung der
zel dafür Modell stehen, bringt unaufhör lieh das Gesetz Hauptwurzel; gleichwohl besteht ihre Einheit als vergan-
hervor : aus Eins wird zwei, aus zwei wird vier ... Die gene, zukünftige oder als mögliche fort. l\1an muß sich
binäre Logik ist die geistige Realität des Wurzelbaum. fragen, ob nicht Geist und Reflexion diesen Zustand
Sogar eine so 11 fortschrittliche 11 Disziplin wie die Lin- dadurch ausgleichen, daß sie ihrerseits eine noch um-
fassendere verborgene Einheit oder eine erweiterte To-
talität verlangen. Z.B. Burroughs' 11 cut-up 11 -Metho-
de (la): ein Text wird mit einem anderen zusammenge-
* Stratameter: Gerät zur Messung von Schichten schnitten, wobei eine Vielzahl von Wurzeln, sogar Luft-
Deleometer: Gerät zur Messung von Zerstörung wurzeln entstehen(man könnte auch Stecklinge sagen),
CsO: Corps sans Organes (organloser Körper) (A.d. Ü.) was eine supplementäre Dimension impliziert, die zu·
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den jeweiligen Texten hinzutritt. In ihr setzt die Ein- schicklichkeiten genügen nicht, um ihm Gehör zu Ver-
heit ihre geistige Arbeit fort. Auf diese Weise kann schaffen. Das Viele (multiple) muß man machen:
man ein noch so zerstückeltes Werk als Gesamtwerk nicht dadurch, daß man fortwährend übergeordnete Di-
oder Magnum Opus hinstellen. Zwar eignen sich die mensionen hinzufügt, sondern im Gegenteil ganz
meisten modernen Methoden durchaus dazu, Serien sich schlicht und einfach in allen Dimensionen, über die
vermehren oder Vielheiten linienförmig wachsen zu las- man verfügt: jedesmal n - 1 (Das Eine ist nur dann_
~-sen; in einer anderen Dimension aber, der des Krei- ein Teil der Vielheit, wenn es von ihr abgezogen ~1rd).
ses oder des Zyklus, setzt sich eine totalisierende Das -Einzelne abziehen, wenn eine Vielheit konstitu1ert
Einheit dann um so mehr durch. Jedesmal, wenn sich wird; n - 1 schreiben.
eine Vielheit in einer Struktur verfängt, wird ihr
Wachstum durch eine Reduktion der Kombinationsge- Ein solches System kann man Rhizom nennen. Als un-
setze kompensiert. Die Abtreiber der Einheit sind hier terirdischer Sproß unterscheidet sich ein Rhizom grund-
geradezu Engelmacher, doctores angelici: in sätzlich von großen und kleinen Wurzeln. Knollen und
Wirklichkeit bestätigen sie eine höhere, 11 englische 11 Ein- Knötchen sind Rhizome. Pflanzen mit großen oder klei-
heit. Die Wörter eines Joyce, denen man zu Recht nen Wurzeln können in vielerlei Hinsicht rhizomorph
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Vielwurzligkeit 11 nachsagt, brechen die lineare Einheit i sein: man muß sich wirklich fragen, ob nicht das Rhi-
der Wörter, sogar der Sprache nur auf, um im gleichen Zugel zomorphe gerade das Spezifische an der Botanik au_s~
eine zyklische Einheit des Satzes, des Textes oder des Wis·: macht. Auch die Tiere sind es, wenn sie Meuten bll-
sens herzustellen. Nietzsches Aphorismen brechen die line ·I den, z, B. die Ratten. Ein Bau ist in allen seinen Funk-
are Einheit des Wissens nur auf, um im gleichen Zuge '1
tionen rhizomorph: als Wolmung, Vorratslager, Ran-
a,uf die zyklische Einheit der ewigen Wiederkehr zu ver- I giergelände, Versteck und Ruine. Das Rhizom selbst
weisen, die im Denken· als Nichtgewußtes anwesend ist. , kann die verschiedensten Formen annehmen, von der
Man sieht also, daß auch ein System gebündelter Wur- Verästelung und Ausbreitung nach allen Richtungen an
zeln nicht wirklich mit dem Dualismus, mit der Kom- der Oberfläche bis zur Verdichtung in Knollen und
plementarität von Subjekt und Objekt, Natur und Geist Knötchen. Wenn die Ratten übereinanderg1eiten. Im Rhi-
bricht. Während die Einheit im Objekt fortwährend ver- zom gibt es das Beste und das Schlimmste: die Kartof-
eitelt 'wird, triumphiert im Subjekt ein neuer Typ von feln, die Quecke , das Unkraut. Tier und Pflanze, die
Einheit. Die Welt hat ihre Hauptwurzel verloren, das Quecke das ist Meersalzkraut • . Wir almen schon,
Subjekt kann nicht einmal mehr Dichotomien bilden; es daß wi; niemanden überzeugen werden, wenn wir nicht
erreicht aber eine höhere Einheit der Ambivalenz und wenigstens annäherungsweise bestimmte Merkmale des
der Überdeterminierung in einer Dimension, die zu der- 1
Rhizoms aufzählen. 1, und 2, - Prinzip der Konnexion
jenigen des Objekts immer als Supplement hinzutritt. Die und der Heterogenität. Jeder beliebige Punkt eines Rhi-
Welt ist chaotisch geworden, aber das Buch bleibt Bild zoms kann und muß mit jedem anderen verbunden wer-
der Welt, Würzelchen-Chaosmos statt Wurzel-Kosmos. den. Ganz anders dagegen der Baum oder die Wurzel,
Welch seltsame Mystifikation: das Buch wird umso to- wo ein Punkt und eine Ordnung festgesetzt werden.
taler, je zerstückelter es ist. Das Buch als Bild der Chomsky"' s linguistischer Baum beginnt an einem Punkt S
Welt - langweilig in jeder Hinsicht! Es genügt eben
nicht zu rufen: Hoch lebe das Viele (multiple)! so • frz. chiendent Quecke, wörtlich: Hundezahn
schwer es auch sein mag, diesen Schrei auszustoßen. frz. crab-grass :r: Meersalzkraut, wörtlich: Krab-
Typografische, lexikalische und selbst syntaktische Ge- bengras.(A.d. ü.)
10 11
und breitet sich dichotomisch aus. In einem Rhizom Sprache ist nach einer Formulierung von Weinreich
dagegen verweist nicht jeder Strang notwendig auf einen rreine wesentlich heterogene Wirklichkeitu (1). Es gibt
linguistischen Strang: semiotische Kettenglieder aller keine Muttersprache, sondern die Machtergreifung ei-
Art sind dort nach den verschiedensten Codierungsarten ner herrschenden Sprache in einer politischen Viel- .
mit politischen, ökonomischen und biologischen Ketten- heit. Die Sprache stabilisiert sich im Umkreis einer
gliedern verknüpft; es werden also nicht nur ganz un- Pfarrei, eines Bistums, einer Hauptstadt. Sie bildet
terschiedliche Ze~chensysteme ins Spiel gebracht, son- Knollen. Sie entwickelt sich durch Stenge! und unter-
dern auch verschiedene Arten von Sachverhalten. Die irdische Ströme, längs Flußtälern oder Eisenbahnlinien,
kollektiven Aussageverkettungen funktionieren sie verschiebt sich durch Ölflecken (2). Man kann die
tat-sächlich unmittelbar in den maschinellen Verket- Sprache natürlich immer internen strukturalen Dekom-
tungen, und man kann keinen radikalen Einschnitt positionen unterziehen: das unterscheidet sich nicht
zwischen den Zeichensystemen und ihren Objekten an- grundsätzlich von der Wurzelsuche. Gewiß gibt es im-
setzen. Selbst da, wo sie den Anspruch erhebt sich mer etwas Genealogisches am Baum, das J;J.icht der
ans Exph'zit'e zu halten und nichts an der Spra~he vor- gängigen Methode entspricht. Die Sprache mit einer
auszusetzen, bleibt die Linguistik befangen in den Sphä- rhizomatischen Methode analysieren heißt vielmehr,
ren emes Diskurses, der je schon verschiedene Verket- sie auf andere Dimensionen und andere Register hin
~ng~w.eisen und besondere gesellschaftliche Machttypen zu dezentrieren. Nur als Funktion von Entmachtung
1mpliz1ert. Chomsky' s Grammatikalität, das kategoriale zieht sich eine Sprache auf sich selbst zurück.
Symbol S, das alle Sätze beherrscht, markiert in erster
~inie ein Machtverhältnis und daiUl erst einen syntak- 3.- Prinzip der Vielheit: nur wenn das Viele als Substan-
h.~chen Zusammenhang: du bildest grammatikalisch kor- tiv, -als Vielheit behandelt wird, hat es keine Bezie-
rekte Sätze, du unterteilst jede Aussage in Nominal- hung· mehr zum Einen als Subjekt und Objekt, als Na-
Syntagma und Verbal-Syntagma (erste Dichotomie ... ). tur und Geist, als Bild und Welt. Vielheiten sind rhi-
Wrr werfen solchen linguistischen Modellen nicht vor zomatisch und entlarven die baumartigen Pseudo-Viel-
sie seien zu abstrakt; ganz im Gegenteil: sie sind es' heiten. Keine Einheit, die im Objekt als Stütze fun-
nicht genug; sie erreichen nicht die ab s t r a k t e M a- giert oder sich im Subjekt teilt. Nicht einmal eine
s c hin e, welche die Konnexion einer Sprache mit se- Einheit, die im Objekt verkümmert, um im Subjekt
11 w iederzukehren 11 , Eine Vielheit hat weder Subjekt
mantischen und pragmatischen Aussageinhalten herstellt
m~t kolle_k~iven Aussageverkettungen, mit einer ganzen ' noch Objekt; sie wird ausschließlich durch Determi-·
Mikropolltik des gesellschaftlichen Feldes. Ein Rhi- nierungen, Größen und Dimensionen definiert, die
zom verknüpft unaufhörlich semiotische Kettenteile nicht wachsen, ohne daß sie sich dabei gleichzeitig
Machtorganisationen, Ereignisse in Kunst, Wissen: verändert (die Kombinationsgesetze wachsen also mit
schaft und gesellschaftlichen Kämpfen. Ein semioti- der Vielheit). Als Rhizom oder Vielheit verweisen die
sches. Kettenglied gleicht einem Tuberkel, einer Agglo- Fäden der Marionette nicht auf den angeblich einheit-
meration von mimischen und gestischen, Sprech-, lichen Willen eines Künstlers oder Marionettenspielers,
Wahrnehmungs- und Denkakten: es gibt keine Sprache sondern auf die Vielheit seiner Nervenfasern. Diese
an sich, keine Universalität der Sprache, sondern ei- bilden nämlich in anderen Dimensionen, die mit den
nen Wettstreit von Dialekten, Mundarten, Jargons und Fäden der Marionette verknüpft sind, selbst eine :Ma-
Fachsprachen. Es gibt keinen idealen Sprecher-Hörer rionette: 11 Die Fäden oder auch die Drähte, mit denen
ebensowenig eine homogene Sprachgemeinschaft. Die ' die Figuren bewegt werden. Wir wollen sie Gespinst
12 nennen. ( ... ) Eingewandt könnte werden, daß seine
13
rr

1\1annigfaltigkeit * im Schauspieler wohne und von ihm Dimensionen ausfüllen und besetzen; wir werden des-
projiziert werde. Gut, aber dessen Nervenfasern sind halb vom Konsistenzplan der Vielheiten sprechen,
auch Gespinst. Und das führt über die graue 1\1asse, obwohl die Dimensionen dieses 11 Plansn sich vermehren
den Raster, ins Ungesonderte zurück ( ... ) Das Spiel mit der Zahl der Konnexionen, die sich auf ihm her-
nähert sich dem bloßen Weben, wie es die Mythen. den stellen. Vielheiten werden durch das Außen definiert:
Parzen und Nornen zuschreiben. 11 (3) Eine Verkettung durch die abstrakte Linie, die Flucht- oder Deterrito-
ist gerade diese Zunahme der Dimensionen in einer rialisierungslinie, auf der sie sich verändern, indem
Vielheit, die sich in dem Maße automatisch verändert, sie sich mit anderen verbinden. Der Konsistenzplan
in dem sich ihre Konnexionen vermehren. In einem (Raster) ist das Außen aller Vielheiten. Die Fluchtli-
Rhizom gibt es keine Punkte oder Positionen wie etwa nie markiert gleichzeitig die Realität einer Anzahl end-
in einer Struktur, einem Baum oder einer Wurzel. Es licher Dimensionen, welche die Vielheit restlos aus-
gibt nichts als Linien. Wenn Glenn Gould die Tempi füllt; es ist folglich unmöglich, eine supplementäre Di-
forciert, macht er das nicht nur aus Virtuosität; er mension zu konstruieren, ohne daß sich die Vielheit
verwandelt musikalische Punkte in Linien und läßt das auf dieser Linie verändert. Es ist möglich und notwen-
Ganze wuchern. Die Zahl ist kein universeller Begriff dig alle diese Vielheiten auf ein und demselben Kon-
mehr, der Elemente aufgrund ihres Ortes in einer be- sisfenz- oder ÄußerlichkeitspJan flachzudrücken, wel-
liebigen Dimension mißt; sie ist selbSt eine. Vielheit che Dimensionen sie auch immer haben mögen. Das
geworden, die entsprechend den jeweiligen Dimensio- Ideal eines Buches wäre, alles auf einem solchen Plan
nen variiert. (Primat des Bereichs über einen Zahlen- der Äußerlichkeit auszubreiten, auf einer einzigen Sei-
komplex, der mit ihm verbunden ist.) Wir haben keine te, auf ein und demselben Strand: gelebte Ereignisse,
1\1aßeinheiten, sondern nur 1\1aßvielheiten oder Maßman- historische Bestimmungen, Gedankengebäude, Individu-
nigfaltigkeiten. Der Begriff der Einheit taucht nur dann en, Gruppen und soziale Formationen. Kleist erfand
auf, wenn in einer Vielheit der Signifikant die Macht eine Schrift dieses Typs, eine Verkettung, die von M-
ergreift oder ein entsprechender Subjektivierungspro- fekten zerbrochen ist, mit variablen Geschwindigkeiten,
zeß abläuft: wie etwa die Achseneinheit, die ein En- Überstürzungen und Transformationen, immer in Bezie-
semble biunivoker Relationen zwischen Elementen oder hung zum Außen. Offene Ringe. Daher sind seine Tex-
objektiven Punkten begründet; oder das Eine,, das sich te auch in jeder Hinsicht dem klassischen und roman-
im Subjekt nach dem Gesetz einer Qinären Logik der tischen Buch entgegengesetzt, das sich durch die Inner-
Differenzierung teilt. Die Einheit operiert immer im lichkeit einer Substanz oder eines Subjekts konstituiert.
Innern einer leeren Dimension, die zu der des jeweili- Das Kriegsmaschinenbuch gegen das Staatsapparatbuch.
gen Systems als Supplement hinzutritt (Übercodierung). Die flachen Vielheiten mit n Dimensionen
Ein Rhizom und eine Vielheit lassen sich aber nicht sind asignifikant und nichtsubjektiv. Sie werden durch
übercodieren, sie haben keine supplementäre Dimen- unbestimmte oder besser: durch Teilungsartikel bezeich-
sion, die zur Zahl iht:er Linien hinzutreten könnte, d.h. net (etwas Quecke, etwas Rhizom ... ).
zur Zahlenvielheit, die mit diesen Linien verbunden
ist. Alle Vielheiten sind flach, insofern sie alle ihre :Man fragt also nicht, was eine Vielheit bedeutet oder
wem sie zugeordnet wird. Wenn eine Vielheit gegeben
ist, z. B. FASCHISMUS - schreckliche Vielheit -, die
* Im Französischen "'m~~tiplici~ ', sonst mit .. Viel- durch ihre Linien und Dimensionen definiert und genau
heit' übersetzt. (A. d. U.) auf einem Konsistenzplan ausgebreitet ist -, fragt man
14 15
sich, entsprechend welcher Dimension sie dieses oder
jenes bezeichnet, und nach welcher Linie sie einem In- I,
dividuUm, einer Gruppe oder einer soZialen Formation
zugeordnet werden kann. Denn es gibt einen individuel-
~ ~ ~"~••rn• """". "' '" .,_,,. "'' """ ""
Rhizom. Das Gute und Böse kann nur Ergebnis einer
aktiven und vor läufigen Auswahl sein, immer wieder
von neuem.
len Faschismus, einen Gruppenfaschismus, einen Fa-
schismus der sozialen Formation. Diese Unterschiede Wie sollten die Deterritorialisierungsbewegungen und
gehören nicht wirklich zur Sache, sondern sind sekun- Reterritorialisierungsprozesse sich nicht aufeinander
där und abgeleitet im Verhälbüs zur direkten Unter- beziehen, sich nicht fortwährend verzweigen_ und inein-
suchung der Vielheiten. (4) Wir sind Schmiede des Un- ander verfangen? Die Orchidee deterritorialisiert sich,
bewußten und hämmern und schlagen flach. indem sie ein Bild formt, eine getreue Nachahmung der
Wespe; die Wespe aber reterritorialisiert sich auf die-
4. - Prinzip des asignifikanten Bruchs: gegen die über- sem Bild; dennoch deterritorialisiert sie sich, indem
signifikanten Einschnitte, rlie die Strukturen voneinander sie ein Stück im Reproduktionsapparat der Orchidee
trennen oder· eine davon durchqueren. Ein Rhizom kann wird· aber sie reterritorialisiert die Orchidee, indem
an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört wer- sie deren Blütenstaub transportiert. Wespe und Orchi-
den; es wuchert entlang seinen eigenen oder anderen dee 11 machen Rhizom 11 , insofern sie heterogen sind.
Linien weiter. Man wird mit den Ameisen nicht fertig, Man könnte sagen, daß die Orchidee die Wespe nach-
weil sie ein tierisches Rhizom bilden: es rekonstituiert ahmt, deren Bild sie auf signifikante Weise reprodu-
sich auch dann noch, wenn es schon größtenteils zer- ziert (Mimesis, Mimikry, Köder, etc. ). Aber das
stört ist. Jedes Rhizom enthält Segmentierungslinien, trifft nur auf dem Niveau der Schichten zu - Paralle-
nach denen es geschichtet ist, territorialisiert, organi- lismus zweier Schichten, indem eine pflanzliche Orga-
siert, bezeichnet, zugeordnet etc.; aber auch Deterri- nisation auf der einen eine tierische Organisation auf
torialisierungslinien, auf denen es unaufhaltsam flieht. der anderen Seite nachahmt. Gleichzeitig handelt es
Jedesmal, wenn segmentäre Linien in eine Fluchtlinie sich um etwas ganz anderes: keine Spur von Nachah-
explodieren, gibt es Bruch im Rhizom, aber die Flucht- mung mehr, sondern Einfangen von Code, Mehrwert
linie ist selbst Teil des Rhizoms. Diese Linien verwei- an Code, Vermehrung von Wertigkeit, wirkliches Wer-
sen unun.terbrochen aufeinande:r;. Deshalb kann man nie den, Wespe-Werden der Orchidee, Orchidee-Werden_
von einem Dualismus oder einer Dichotomie ausgehen, der Wespe; jedes Werden sichert die Deterritorialisie-
auch nicht in der rudimentären Form von Gut und Böse. rung des einen und die R.eterritorialisierung des ande-
Man vollzieh·t ~inen Bruch, zieht eine Fluchtlinie; man ris- ren Terms; das eine und das andere Werden verketten
kiert aber immer, auch hier auf Organisationen zu sich und lösen sich gemäß einer Zirkulation der Irrten-
stoßen,. difjl: ,das Ganze erneut schichten, auf Formatio- sitäten ab, die die Deterritorialisierung .~mmer weiter
nen, die die Macht einem Signifikanten zurückgeben, und treibt. Es gibt weder Nachahmung noch Ahnlichkeit,
auf Zuordnungen, die ein Subjekt wiederherstellen - al- sondern eine Explosion zweier heterogener Serien in
les was man will, vom Wiederaufleben des Ödipus bis die Fluchtlinie, die aus einem gemeinsamen R.hizom
zu fascP.istischen Verhärtungen. Man hat uns des Fa- zusammengesetzt ist, das nicht mehr zugeordnet und
schismus bezichtigt; so faschistisch könrien wir gar nicht auch keinem Signifikanten unterworfen werden kann.
sein, solange wir uns bewußt sind, daß Faschismus R~my Chauvin sagt treffend: nA p a r a 1I e 1 e E v o 1 u-
nicht nur derjenige der Anderen ist. Gruppen und Indi- tion zweier Wesen, die überhaupt nichts miteinander
viduen enthalten Mikrofaschismen, die nur darauf war- zu tun haben. 11 (5) Allgemeiner: es ist möglich, daß die
16 17
Schemata der Evolution mehr und mehr dazu tendieren Für das Buch gilt dasselbe wie für die Welt: das Buch
das alte Modell des Baumes und der Abstammung auf~ ist nicht Bild der Welt, wie uns ein eingewurzelter
zugeben. Unter bestimmten Bedingungen kann sich ein Glaube weismachen will. Es 11 macht Rhizomn mit dex:
Virus mit Keimzellen verbinden, und sich selbst als Welt; es gibt eine aparallele Evolution von Buch und
Gen von Zellen einer komplexeren Spezies vermehren· Welt: das Buch bewirkt die Deterritorialisierung der
er könnte sogar fliehen und in die Zellen einer gan~ Welt die Welt jedoch eine Reterritorialisierung des
anderen Spezies eindringen, und dabei 11 genetische In- Buches das sich seinerseits selbst in die Welt deterri-
formationen11, die vom ersten Wirt stammen in diese torialis'iert (wenn es dazu in der Lage ist). "Mimesisn
einbauen (vgl. die neuen Untersuchungen von' Benve- ist ein sehr schlechter Begriff, der einer binären Lo-
rriste und Todara über einen Virus vom Typ C mit sei- gik folgt, um Phänomene zu erfassen, ~ie ~nz anders-
ner doppelten Verbindung zur DNS des Pavians und der artig sind. Das Krokodil nimmt eben mcht d1e Form
DNS gewisser Spezies von Hauskatzen). Die Schemata eines Baumstammes an, ebenSowenig das Chamäleon
der Evolution würden dann nicht mehr nur nach dem die Farben seiner Umgebung. Der rosa Panther ahmt
Modell des Stammbaumes funktionieren wo sich das nichts nach er reproduziert nichts, er malt die Welt
Differenziertere aus dem weniger Düfe~enzierten ent- in. seiner Farbe, rosa auf rosa, das ist sein Welt-Wer-
wic~elt, sondern wie ein Rhizom, das unmittelbar in den: er wird selbst unsichtbar und asignifikant, macht
der Heterogenität operiert und von einer schon differen- seinen Bruch, treibt seine Fluchtlinie und seine 11 aparal-
zierten Linie zu einer anderen springt. ( 6) Eine a p a- lele Evolution 11 auf die Spitze. Weisheit der pflanzen:
rallele Evolution auch von Pavian und Katze wo auch wenn sie Wurzeln haben, gibt es immer ein Außen,
offensichtlich weder der eine das Modell des ander'en wo sie 11 Rhizom machen 11 - mit dem Wind, mit einem
ist, noch der andere die Kopie des einen (ein Pavian- Tier mit dem Menschen (in dieser Hinsicht können auch
Werden in der Katze würde nicht bedeuten daß die Tier~ selbst 11 Rhizom machen 11 ) ebenso Menschen etc. ).
Katze den Pavian 11 macht 11 ). Wir 11 machen Rhizom 11 mit 11 Die Trunkenheit als triumphaler Einbruch der pflanze

unseren Viren oder besser: unsere Viren n machen 11 in uns. 11 Immer dem Rhizom folgen: durch Bruch, die
uns mit anderen ':fieren 11 Rhizom machen". Wie Jacob Fluchtlinie verlängern, ausdehnen, wechseln, ändern,
sagt, führen die Übertragungen von genetischem Mate- bis die abstrakteste und verschlungenste Linie produ-
rial durch Viren oder andere Prozesse und die Ver- ziert wird die n Dimensionen hat und deren Richtungen
schmelzung von Zellen unterschiedlicher Spezies zu gebrochen' sind. Deterritorialisierte Ströme verbinden.
ähnlichen Ergebnissen wie die "Formen der abscheu- Den pflanzen folgen: man beginnt damit, die Grenzen
lichen Liebe, die der Antike und dem Mittelalter teu~ einer ersten Linie entsprechend den Konvergenzkreisen
er waren. 11 {7) Transversale Verbindungen zwischen dif- um aufeinanderfolgende Singularitäten herum festzule-
ferenzierten Linien bringen die Stammbäume durchein- gen; dann sieht man schon, ob sich innerhalb dieser
ander. Immer das Molekulare suchen oder sogar das Linie neue Konvergenzkreise bilden, mit neuen Punkten,
s~bmolekulare Teilchen, mit dem wir eine Verbindung die außerhalb dieser Grenzen und in anderen Richtungen
emgehen, Wir entwickeln uns eher durch polymorphe liegen. Schreiben, 11 Rhizom mach.~n 11 , seil_l Territo~i~m
und rhizomaUsehe Grippen und sterben an ihnen als an durch Deterritorialisierung vergroßern, dlC Fluchtl1me
Erbkrankheiten oder solchen, die ihre eigene Genealo- bis zu dem Punkt ausziehen, wo sie als abstrakte Ma-
gie haben, Das R.hizom dagegen ist eine Anti-Genealo-. schine den ganzen Konsistenzplan bedeckt. 11 Gehe zuerst
gie. zu deiner alten pflanze und sieh dir gerrau die Wasser-
18 rinnen des Regens an. Inzwischen muß der Regen die
19
Samen weit fortgetragen haben. Beobachte die Rinnen Psychoanalyse ein Unbewußtes, das selbst nur reprä-
des Abflusses, und von da mußt du die Richtung des sentativ ist, das sich in codifizierten Komplexen kri-
Laufs erkennen. Dann suche die Fflanze, die am wei- stamsiert und auf einer genetischen Achse oder in ei-
testen entfernt von deiner Fflanze wächst. Alle Teu- ner syntagmatischen Struktur verteilt ist. Ihr Ziel ist
felskrautpflanzen gehören· dir. Wenn sie später Samen die Beschreibung eines status quo, der Ausgleichspro-
trag~n, kannst du dein Gebiet vergrößern, indem du zesse in intersubjektiven Beziehungen, oder die Erfor-
auf dem Weg dem Wasserverlauf jeder Fflanze folgst. rr schung eines bereits vorhandenen Unbewußten, das man
(8) Die Musik hört nicht auf, ihre Fluchtlinien ziehen in die dunkeln Winkel der Erinnerung und der Sprache
zu lassen, gleichsam als 11 Transformations-Vielheiten 11 verbannt hat. Sie beschränkt sich darauf, was je schon
und kehrt dabei sogar ihre eigenen Codes um die sie' gegeben ist, von einer überkodierenden Struktur oder
arbrifizieren und strukturieren; die musikalis~he Form stützenden Achse aus zu kopieren. Der Baum artiku-
ist so bis in ihre Brüche und Wucherungen hinein dem liert und hierarchisiert die Kopien, die Kopien sind
Unkraut ver.gleichbar, ein Rhizom. (9) sozusagen Blätter des Baumes.

5. und 6. - Prinzip der Kartographie und der Dekal- Ganz anders das Rhizom: es ist Karte und nicht
komonie * : ein Rhizom ist keinem strukturalen oder Kopie. Karten, nicht Kopien machen* . Die Orchi-
generativen Modell verpflichtet. Es kennt keine gene- dee reprozudiert nicht die Kopie der Wespe, sie 11 macht
tische Achsen oder Tiefenstrukturen. Eine genetische Karte 11 mit der Wespe innerhalb eines Rhizoms. Wenn
Achse gleicht einer objektiven Achseneinheit auf der die Karte der Kopie entgegengesetzt ist, so deshalb,
sich aufeinanderfolgende Stadien organisiere~· eine Tie- weil sie ganz und gar dem Experiment als Eingriff in
fenstruktur gleicht eher einer Basisfolge di~ in ihre die Wirklichkeit zugewandt ist. Die Karte reproduziert
unmittelbaren Bestandteile zerlegt werde~ kann wäh- nicht ein in sich geschlossenes Unbewußtes, sondern
rend die Einheit des Produkts in eine andere Dimen-- konstruiert es. Sie trägt zur Konnexion der Felder bei,
sion übergeht, die transformationeil und subjektiv ist. zur Freisetzung der organlosen Körper, zu~ threr maxi-
~uf diese Weise entkommt man nicht dem repräsenta- malen Ausbreitung auf einem Konsistenzplan. Sie macht
hven Modell des Baumes und der Wurzel - sei es nun gemeinsame Sache mit dem Rhizom. Die Karte ist offen,
zentriert oder gebündelt (z. B. der Chomsky• sehe sie kann in allen ihren Dimensionen verbunden, demon-
11
Baumu, der mit der Basisfolge verbunden ist und den tiert und umgekehrt werden, sie ist ständig modifizier-
Prozeß seiner Generierung entsprechend einer binären bar. ~n kann sie zerreißen und umkehren; sie kann
Logik repräsentiert). Eine Spielart des ältesten Den- sich Montagen aller Art anpassen; sie kann von einem
kens. Wir sagen, daß genetische Achse und Tiefen- Individuum, einer Gruppe oder gesellschaftlichen For-
struktur in erster Linie Prinzipien der Kopie sind mation angelegt werden. ~n kann sie auf :Mauern zeich-
u?d deshalb unendlich reproduzierbar. Die ganze Lo- nen, als Kunstwerk begreifen, als politische Aktion oder
gik des Baumes ist eine Logik der Kopie und der Re- als Meditation konstruieren. Vielleicht ist es eines der
produktion. Thr Gegenstand ist in Linguistik und wichtigsten Merkmale des R-hizoms, viele Eingänge zu
haben; insofern ist der Bau ein tierisches Rhizom, wo
* Dekalkomonie Abziehbild; Verfahren, Abziehbilder
herzustellen. (A.d', Ü.) * A.d. ü.: unübersetzbares Wortspiel: faire la carte
20 = das Spiel gewinnen
21
manchmal klar zwischen der Fluchtlinie als Verbin- und subjektive Zuordnungen verwurzelt sind? Tragen
dungsgang und den Schichten für Vorratshaltung und nicht selbst die Fluchtlinien - unter dem Vorwand,' sie
Wohnen unterschieden werden kann (vgl. die Moschus- zu zerstreuen - gerade zur Reproduktion derjenigen
ratte). Eine Karte ~at viele Eingänge, im Gegensatz Formation bei, die sie hätten auflösen und umwälZen
zu einer Kopie, die immer 11 auf das Gleiche 11 hinaus- sollen? Aber auch das Gegenteil trifft zu, das ist: ei-
läuft. Eine Karte hat mit der Performanz zu tun wäh- ne Frage der Methode: man muß die Kopie im-
rend die Kopie immer auf eine vermeintliche nK~mpe­ mer auf die Karte zurückübertragen. Und
tenzn verweist. Psychoanalyse und psychoanalytische diese Operation verhält sich keineswegs symmetrisch
Kompetenz bringen jeden Wunsch und jede Aussage auf zur vorhergehenden. Denn streng genommen trifft: es
eine genetische Achse oder eine übercodierende Struk- nicht zu, daß eine Kopie die Karte genau reproduziert.
tur herunter; sie fertigen ohne Ende monotone Kopien Sie gleicht eher einem Photo, einer Rundfunksendung,
von den Stadien auf dieser Achse oder den Bestandtei- insofern sie das auswählt und isoliert, was sie repro-
len dieser Sb.tktur an; die Schizoanalyse dagegen weist duzieren will. Dies geschieht mit HiHe künstlicher Mit-
jeden Gedanken an ein abkopiertes Schicksal mit Ent- tel, von Farbstoffen und anderen Zwangsverfahren:. Die
schiedenheit zurück, welchen Namen man diesem auch Imitation verschafft sich ihr Modell selbst und zieht es
immer geben mag, ob man es göttlich, anagogisch, an. Die Kopie hat je schon die Karte in ein Bild liber-
historisch, ökonomisch, struktural, hereditär oder setzt, sie hat je schon das Rhizom in große und kleine
syntagmatisch nennt. (Man merkt, daß Melanie Klein Wurzeln verwandelt. Entsprechend ihren eigenen ~ch­
vom Problem der Kartographie des kleinen Richard ei- sen der Signifikanz und Subjektivierung hat sie die Viel-
ner ihrer Kinderpatienten, nichts begriffen hat und' sich heiten organisiert, stabilisiert und neutralisiert. Sie
damit begnügt, allbekannte Kopien abzuziehen - Ödi- hat das Rhizom generiert und strukturalisiert; diei Ko-
pus, der gute und der böse Papa, die böse und die gu..;. pie reproduziert nur sich selbst, wenn sie glaubt, et-
te Mama -, während das Kind verzweifelt eine Perfor- was anderes zu reproduzieren. Gerade deshalb ist sie
manz verfolgen will, die von der Psychoanalyse völlig so gefährlich. Sie injiziert Redundanzen und verbrei-
verkannt wird. (10)) Triebe und Partialobjekte sind we- tet sie. Die KoPie reproduziert von einer Karte Und
der Stadien auf einer genetischen Achse noch Positio- einem Rhizom im Grunde nur die Sackgassen und Sper-
nen in einer Tiefenstruktur, sie sind politische Optio- ren, die Ansätze zu Achsen und Punkte der Struktu-
nen für Probleme, Ausgänge und Eingänge, Sackgassen rierung. Schauen wir uns noch einmal die Psychoana-
die das Kind politisch erlebt, das heißt mit der ganzen' lyse und die Linguistik an: die eine hat immer nul;' das
Kraft seines Wunsches. Unbewußte, die andere die Sprache kopiert und foto-
grafiert, mit all den Verfälschungen, die damit einher-
Stellen wir nicht doch einen' einfachen Dualismus wieder gehen (kein Wunder, daß die Psychoanalyse ihr Schick-
her, wenn wir die Karte der Kopie wie das Gute dem sal mit dem der Linguistik verknüpft hat). Sehen ;wir,
Bösen gegenüberstellen? Kann nicht gerade eine Karte was schon mit dem klE!inen Hans passiert ist, eiriem
kopiert werden? Kann nicht gerade ein Rhizom mit Wur- klassischen Fall der IG.r\deranalyse: unaufhörlich hat
zeln verwachsen sein? Enthält nicht eine Karte redun- man SEIN RHIZOM ZERBROCHEN, SEINE KARTE
dante Phänomene, die schon als ihre eigene Kopie er- BEKLECKERT; man hat ihn in die Enge getrieben~ ihm
scheinen? Hat nicht auch eine Vielheit Schichten wo alle Ausgange versperrt, bis er schließlich selbst sei-
Vereinheitlichungen
. und Totalisierungen , Häufung' en , mi- ne Scham und Schuld wünscht, bis man Scham und
metlsche Mechanismen, signifikante Machtergreifungen SchuW fest in ihm verankert hat, die PHOBIE (man hat
22 23
,''{/

ihm das Rhizom von Haus und Straße verbarrikadiert, und sie dadurch auf mögliche Fluchtlinien hin öffnen.
man hat ihn im Bett der Eltern eingewurzelt, man hat Dasselbe gilt für eine Gruppen-Karte: ~ier wäre zu
kleine Wurzeln in seinen Körper getrieben, man hat zeigen, an welchem Punkt des Rhizoms ~hänomene w~e
ihn an den Doktor Freud gefesselt). Freud geht aus- Vermassung, Bürokratisierung, leadership und Faschl-
drücklich auf die Kartographie des kleinen Hans ein, sierung auftreten und welche unterirdisch_en ~ini~n .
aber immer nur, um sie auf ein Familienphoto zu re- trotzdem fortbestehen und im Dunkeln weüerhm Rhi-
duzieren. Und was macht Melanie Klein mit den geo- zom machen 11 • Die Methode Deligny: eine Karte der
politischen Karten des kleinen Richard? Sie macht Fa- Gesten und Bewegungen eines autistischen Kindes an-
milienphotos daraus, Abzüge. Nehmt Haltung an, folgt legen und verschiedene Karten für ein Kind ~ombinie­
der Achse. Ob Entwicklungsphase oder strukturales ren, für mehrere Kinder ... (11) Wenn es stimmt, daß
Schicksal - man macht euer Rhizom kaputt. Man läßt Karte und Rhizom prinzipiell viele Ei~gänge haben,
euch leben und sprechen - unter der Bedingung, daß könnte man sogar auf dem Wege über! Kopien ,und Wur-
alle Ausgänge verstopft sind. Wenn ein Rhizom ver- zelbäume in sie eindringen, wenn man nur behutsam ge-
stopft ist, w·enn man einen Baum daraus gemacht hat, nug vorgeht (auch hier weist man einen manichäischen
dann ist es aus, dann kann der Wunsch nicht mehr Dualismus zurück). :Man wird nämlich oft gezwungen
strömen. Denn der Wunsch bewegt sich und produziert sein in Sackgassen zu wenden, signifikante Mächte und
nur durch ein Rhizom. Jedesmal wenn der Wunsch ei- Subj~ktivismen zu durchschreiten, sie~ auf ö~ipale, pa-
nem Baum folgt, kommt es zu inneren Rückschlägen, ranoide und noch schlimmere Formationen w1e auf ver-
die ihn zusammenbrechen lassen und in den Tod trei- härtete Territorialitäten zu stützen, die ande~e Trans~
ben. Das Rhizom dagegen wirkt auf den Wunsch durch formationen ermöglichen. Es könnte sogar sem, daß d1e
produktive Anstöße von außen. Psychoanalyse wider Willen als StUtzpunkt dient. ~ an-
deren Fällen hingegen stützt man sich direkt auf eme
Deshalb ist es so wichtig, die andere Operation auszu- Fluchtlinie, um Schichten aufzusprengen, Wurzeln a.b-
probieren, die umgekehrt, aber nicht symmetrisch ist. zutrennen und neue Verbindungen herzustellen. Es g1bt
Die Kopien wieder an die Karte anschließen, Wurzeln also die verschiedensten Verkettungen von Karten und
und Bäume auf ein Rhizom beziehen. Das Unbewußte Kopien, von Rhizomen und Wurzeln, ~it variablen De-
studieren: im Falle des kleinen Hans wäre zu zeigen, territorialisierungskoeffizienten. Es g1bt Baum- und
wie er versucht, aus der elterlichen Wohnung und auch Wurzelstrukturen in den Rhizomen, aber Zweige und
aus der Fluchtlinie des Hauses, der Straße etc. ein Wurzelteile können auch plötzlich rhizomartig Knospen
Rhizom herzustellen; es wäre zu zeigen, daß diese Li- treiben. Die Bestimmung hängt hier nicht von theore-
nien verbarrikadiert sind, so daß er sich schließlich in tischen Analysen ab, die Universalien implizieren, son-
der Familie einwurzeln, unter dem Vater photographie- dern von einer Pragmatik, die Vielheiten oder Ensemb-
ren und auf das Bett der Mutter abpausen läßt; dann, les von Intensitäten zusammensetzt. Im Innern eines
wie die futervention von Doktor Freud in einer Subjek- Baumes in der Höhlung einer Wurzel oder in der Gabe-
tivierung der Aspekte die Machtergreifung des Signifi- lung ei~es Zweiges kann ein neues Rhizom entstehen.
kanten garantiert; wie das Kind nur noch durch ein ()der besser: ein mikroskopisches Element des Wurzel-
Tier-Werden fliehen kann, was voller Scham und Schuld baumes oder eine Wurzelfaser setzt die Produktion des
gefürchtet wird (das Fferd-Werden des kleinen Hans Rhizoms in Gang. Buchführung und Bürokratie arbeiten
als wirklich politische Entscheidung). M'an muß immer mit Kopien: trotzdem können sie, wie in einem Roman
von neuem die Sackgassen auf der Karte lokalisieren von Kafka, plötzlich zu sprossen beginnen und Stenge!
24 25
hervortreiben. Ein intensiver Strich verselbständigt sich, getäuschten Vielheiten heraus. Auch durch Regene~a­
eine halluzinatorische Wahrnehmung, eine Synästhesie, tionen, Reproduktionen, Rückkehr zu .. , Hydren und
eine perverse Mutation, ein Spiel von Bildern reißen Medusen können wir nicht entkommen. Baumsysteme
sich los, und schon ist die Vorherrschaft des Signifi- sind hierarchisch und enthalten Zentren der Signifikanz
kanten in Frage gestellt. Bei den Kindern gewinnt die und Subjektivierung, Zentralautomaten, die als organi-
Semiotik der Gesten, des Mienenspiels, der Spiele etc. siertes Gedächtnis funktionieren. Das hat zur Folge,
ihre Freiheit zurück und löst sich von der nKopie 11 , d. h. daß in den-· entsprechenden Modellen ein Element Infor-
von der herrschenden Sprachkompetenz des Lehrers mationen immer nur von einer höheren Einheit erhält
ab - ein mikroskopisches Ereignis stürzt das Gleichge- und subjektive Wirkungen nur von bereits bestehenden
wicht der lokalen M1thte um. Genauso können die Stamm. Verbindungen ausgehen können. :Man sieht das gut an
bäume des syntagmatischen Modells von Chomsky sich den aktuellen Problemen der Informatik und der elek-
nach allen Richtungen öffnen und ihrerseits 11 Rhizom trOnischen :Maschinen, wo sich in dem Maße 1 wie die
machen 11 • (12) Rhizomorph sein heißt, Stenge! und Fa- Macht an ein Gedächtnis oder ein Zentralorgan dele-
sern produzieren, die aussehen wie Wurzehl oder bes- 0: giert wird, immer noch das älteste Denken erhä~t. In
ser: die gemeinsam mit ihnen in den Stamm eindrin- einem hübschen Artikel entlarven Pierre Rosenstiehl
gen und einen neuen und ungewöhnlichen Gebrauch von und Jean Petitot die 11 Bilderwelt der Kommandobäumen
ihnen machen. Wir sind des Baumes müde. Wir dürfen ,. (zentrierte System cd er hierarchische Struktu_ren). : ~ie
nicht mehr an die Bäume glauben, an große urid kleine Wur- '.1· schreiben: 11 Hierarchischen Strukturen das Pnmat em-
zeln, wir haben genug darunter gelitten. Die ganze '; zuräumen läuft auf die Privilegierung von Baumstruk-
Baumkultur ist auf ihnen errichtet, von der Biologie Ii! turen hin~us ( ... ) Der Baumform entspricht eine topa-
bis zur Linguistik. Nur unterirdische Sprößlinge und I logische Erklärung ( ... ) In einem hierarchischen Sy-
Luftwurzehl, Wildwuchs und das Rhizom sind schön, ti stem duldet ein Individuum nur einen einzigen aktiven
politisch und verlieben sich. Amsterdam: Stadt ohne !1 Nachbarn und zwar den ihm in der Hierarchie über-
Wurzehl, Rhizom-Stadt der Stengelkanäle, wo sich in ' geordnet~n ( ... ) Die Übertragungskanäle sind ~o!l vorn-
einer Handelskriegsmaschine Nützlichkeit mit größtem herein festgelegt: die Baumform geht dem Ind1V1duum
Wahnsinn verbindet. voraus das an einer gerrau bestimmten Stelle in sie
eingef;{gt wird" (Signifikanz und Subjektivierung). Die
Der Baum und die Wurzel zeichnen ein trauriges Bild Autoren weisen in diesem Zusammenhang darauf hin,
des Denkens, das unaufhörlich, ausgehend von einer
höheren Einheit, einem Zentrum oder Segment, das Vie-
le imitiert. Und tatsächlich spielt der Stamm, wenn
man die Menge Zweige-Wurzehl betrachtet, für eine
der Untermengen, wenn diese von unten nach oben
l
I•
!
daß selbst dann, wenn man eine Vielheit zu erreichen
glaubt, diese falsch sein kann - was wi~ Syste~ der
kleinen Wurzel nennen -, weil ihre schembar mc.ht
hierarchische Darstellung und Formulierung ir! Wirk-
lichkeit nur eine gänzlich hierarchische Lösung zuläßt.
durchlaufen werden, die Rolle des gegenläufigen I
I Z.B. das berüchtigte Freundschafts-Theorem:
Segments . Ein solches Segment ist ein 11 Verbin- i "Wenn in einer Gesellschaft zwei beliebige Individuen
dungsdipol", im Unterschied zu den "Einheitsdipolen 11 ,
die strahlenförmig von einem einzigen Zentrum aus- I
!
genau einen gemeinsamen Freund haben, dann gibt es
ein Individuum, das der Freund aller anderen ist. n
gehen. (13) Aber die Verbindungen können sich noch so (Wer ist nun dieser gemeinsame Freund? fragen Ro-
vermehren - wie im System der kleinen Wurzeln -, senstiehl und Petitot. 11 Der universelle Freund dieser
man kommt nie aus dem Eins- Zwei und den bloß vor-
fI Gesellschaft von Paaren, ist es der Meister, der
I 27
26
I
~.
Beichtvater oder der Arzt? Lauter Vorstelltmgen die von daß der Gegensatz zentriert - nicht zentriert wenige"r
den Ausgangsaxiomen erstaunlich weit entfernt si~d. 11 Der aufgrund der Dinge gilt, die er bezeichnet, als auf-
Freund Pes Menschengeschlechts? Ist es womöglich der . grund der Modi des Kalküls, das er auf die Dinge an-
Phi 1 o -soph des klassischen Denkens, jene verkümmerte wendet. Bäume können mit einem Rhizom in Verbin-
Einheit, die sagt: ich weiß nichts, ich bin nichts, de- dung stehen oder auch in ein Rhizom ausschlagen. Und
ren -Geltung also nur in ihrer Abwesenheit und Subjek- allgemein gilt, daß ein- und dieselbe Sache beide Mo-
tivität liegt?). Die Autoren sprechen hier von Diktatur- di des Kalküls und beide R.egulationstypen zuläßt, aber
Theoremen. Und dies ist auch das Prinzip der Wurzel- nicht ohne jeweils von Grund auf ihren Zustand zu ver-
bäume oder der Ausweg, die Lösung der kleinen Wur- ändern. Nehmen wir nochmals die Psychoanalyse als
zeln, die Struktur der Macht. (14) Beispiel: nicht nur in der Theorie, sondern auch in
ihrer Praxis des Kalküls und der Behandlung unter-
Die Autoren setzen diesen zentrierten Systemen nicht wirft sie das Unbewußte Baumstrukturen, hierarchi-
zentrierte Systeme entgegen, Netzwerke endlicher Au- schen Graphen, wiederholenden Erinnerungen, Zentral-
tomaten, in denen die Kommunikation zwischen beliebi- organen, Phallus, Phallusbäumen. Die Psychoanalyse
gen Nachbarn verläuft, und Stenge! 'oder Kanäle nicht kann in dieser Hinsicht ihre Methode nicht lindern: auf
schon von vornherein existieren; wo alle Individuen mit- eine diktatorische Konzeption des UnJ?ewußten gründet
einander vertauschbar und nur durch einen momentanen sie ihre eigene diktatorische Macht:die Macht der Psy-
Zustand definiert sin:l, so daß lokale Operaüonen choanalytiker über die Analysanden, der psychoanaly-
sich koordinieren und sich· das allgemeine Endergebnis tischen Gesellschaften über die Psychoanalytiker. Die
unabhängig von einer zentralen Instanz synchronisiert. Manövrierfähigkelt der Psychoanalyse ist also sehr
Eine Transduktion intensiver Zustände löst die Topolo- ;r eingeschränkt. In der Psychoanalyse, ebenso in ihrem
gie ab: 11 Der Informationsfluß wird von. einem Graphen Objekt gibt es immer einen General, einen Chef (Ge-
geregelt, der sozusagen das Gegenteil des hierarchi- neral Freud). Im Gegensatz dazu erreicht die Schizo-
schen Graphen ist ... Es gibt keinen Grund daß dieser , analyse einen ganz anderen Zustand des Unbewußten,
Graph ein Baum sein muß. 11 (einen solchen Graphen nen- ! indem sie es als nicht zentriertes System behandelt,
nen wir Karte). Das Problem der Kriegsmaschine oder · als maschinelles Netz endlicher Automaten (Rhizom).
des Firing Squad • : braucht man einen General, damit Dasselbe gilt für die Linguistik; Hosenstiehl und Pe:..
n Individuen gleichzeitig a bf euer n ? Vom Standpunkt titot erwägen mit vollem Recht die Möglichkeit einer
eines Kriegsrhizoms oder einer Guerillalogik aus findet nnicht zentrierten Organisation einer Gesellschaft von
man die Lösung ohne General für eine· nicht zentrierte Wörtern 11 • Für die Aussagen und Wünsche geht es nie
Vielheit, die eine endliche Anzahl von Zuständen und darum, das Unbewußte zu reduzieren, zu interpretieren
Signalen entsprechender Geschwindigkeit enthält. Es oder es nach einem Baumschema signifikant zu machen.
wird sogar gezeigt, daß eine solche Vielheit, maschi- Es geht darum, Unbewußtes zu produzieren und
nelle Verkettung oder maschinelle Gesellschaft, jedeil mit ihm neue Aussagen, andere Wünsche: das Rhizom
zentralisierenden und vereinheitlichenden Automaten als ist gerade diese Produktion des Unbewußten.
~~asozialen Eindringling 11 abweist. (15) N ist von nun an
immer n - 1. Rosenstiehl und Petitot bestehen darauf, Seltsam, wie der Baum die Wirklicllli.eit und das gesam
te Denken des Abendlandes beherrscht hat, von der Bo·
tanik bis zur Biologie, der Anatomie, aber auch Er-
• Schießtrupp (A. d, Ü. ) kenntnistheorie, Theologie, Ontologie, der ganzen Phi-
28 29
losophie ... :der Wurzelgrund, Grund • , roots em1gen beide G~schlechter in sich und unterwerfen die
und f o und a t i o n s . Das Abendland unterhält eine pri- Sexualität dem Modell der Reproduktion; das Rhizom
vilegierte Beziehung zum Wald und zur R.odung; die dagegen befreit die Sexualität nicht nur von der Repro-
dem Wald abgerungenen Felder sind von Kornpflanzen duktion, sondern auch von der Genitalität. Bei uns hat
bewachsen, Objekte einer Abstammungskultur vom man den Baum in die Körper eingepflanzt; selbst die
Baumtyp, die auf der Spezies beruht; die Viehzucht, Geschlechter hat er verhärtet und geschichtet.
die sich auf dem Brachfeld ausbreitet, beruht auf der
Auswahl von Abstammungslinien, die einen ganzen Tier- Einen besonderen Ort müßte man Amerika einräumen.
stammbaum bilden. Der Orient zeigt ein anderes Mu- Sicher, es ist nicht frei von der Vorherrschaft der
ster: eher ein Verhältnis zu Steppe und Garten (in an- Bäume und der Wurzelsuche. Man sieht es sogar in
deren Fällen Wüste und Oase), als zu Wald und Feld; der Liter.atur, in der Suche nach einer nationalen Iden-
eine Knollenkultur, die durch Teilung der Einzelorga- tität und einer europäischen Herkunft und Genealogie
nismen verfährt; die Viehzucht tritt in den Hintergrund, (Kerouac macht sich auf die Suche nach seinen Vorfah-
wird auf geschlossene Bäume begrenzt oder in die ren). Nichtsdestoweniger bewegt sich alles Wichtige in
Steppe der Nomaden zurückgedrängt. Im Abendland: Vergangenheit und Gegenwart durch amerikanisches Rhi-
Landwirtschaft mit auserlesenen Abstammungslinien zom: beatnik, underground, Keller, Bands und Gangs,
und vielen verschiedenen Individuen; im Morgenland: aufeinanderfolgende Seitenstöße in unmittelbarer Ver-
Gartenbaukultur mit einer kleinen Anzahl von Individu- bindung mit einem Außen. Unterschied zwischen dem
en, die auf eine große Skala von nKlonenn•• verweist. amerikanischen und europäischen Buch, auch dort noch,
Ist nicht der Orient, besonders Ozeanien, ein rhizo- wo das amerikanische nach Bäumen strebt. Ein Unter-
matisches Modell, das in jeder Hinsicht dem abend- schied, der die Auffassung des Buchs betrifft. Und i?
ländischen Baummodell entgegengesetzt ist? Haudri- Amerika gibt es nicht nur eine Richtung: im Osten fm-
court sieht darin sogar einen Grund für den Gegen- det die Baumsuche und Rückkehr zur Alten Welt statt.
satz zwischen den Ethiken und Philosophien der Trans- Aber der Westen ist rhizomatisch, mit seinen India-
zendenz, die dem Abendland teuer sind1und jenen der nern ohne Herkunft, seinem immer fliehenden Horizont,
Immanenz im Orient: der Gott, der sät und mäht, gegen Seinen beweglichen und verschobenen Grenzen. Im We-
den Gott, der sticht und gräbt (stechen gegen säen). (16) sten eine typisch amerikanische 11 Karte 11 , wo sogar die
Transzendenz: eine typisch europäische Krankheit. Und Bäume 11 Hhizom machen 11 • Amerika hat die Richtungen
es wird eine andere Musik gespielt, die Erde bringt vertauscht: es hat seinen Orient in den Westen verlegt,
dort nicht dieselbe Musik hervor. Und es handelt sich als ob die Welt sich gerade in Amerika gerundet hätte;
um eine ganz andere Sexualität: die Kornpflanzen ver- sein Westen ist die Franse des Ostens. (17) (Nicht ln-
dien, wie Haudricourt glaubte, spielt den Vermittler
zwischen Okzident und Orient, sondern Amerika: es ist
• Im Original deutsch. (A.d.Ü.) Scharnier und Mechanismus der Umkehrung). Die ame-
•• Nachkommengruppe {speziell von Bakterien), die rikanische Sängerirr Patti Smith singt das Evangelium
sich durch vegetative Fortpflanzung aus einer des amerikanischen Zahnarztes: sucht keine Wurzeln,
Mutterzelle her leitet; werden 10 000 oder mehr folgt dem Kanal ...
Bakterien auf einem Nährboden ausgestrichen, so
wachsen die vielen Kolonien zu einer dünnen Gibt es nicht auch zwei oder sogar drei (und mehr)
Schicht {11 Rasen 11 ) zusammen. (A.d. Ü.) Bürokratien? Die abendländische Bürokratie: ihr agra-
30 31
rischer Ursprung, Grundbücher, Wurzeln und Felder, Mit all diesen geographischen Verteilungen sind wir auf
Bäume und Schlagbäume, die große Volkszählung unter einen falschen Weg geraten. Eine Sackgasse - umso
Wilhelm dem Eroberer, das Lehnswesen, die Politik besser. Sollte es darum gehen, zu zeigen, daß auch
der französischen Könige, die Gründung des Staates iJ_
die Rhizome ihren Despotismus und ihre Hierarchie
auf Eigentum, die Ausdehnung der Ländereien durch 'j haben, die sogar rigider sind - nur zu, denn es gibt
Krieg, Prozesse und Heiraten. Ist es im Orient genau~ keinen Dualismus, weder einen ontologischen noch ei-
so? Gewiß ist es zu einfach, einen Orient des Rhizoms nen axiologischen Dualismus von Gut und Böse, auch
und der Immanenz vorzuführen; aber der Staat handelt keine amerikanische Verschmelzung und Synthese. Es
dort nicht nach einem Baumschema, dem eingesessene, gibt Baumknoten in Rhizomen und rhizomatische Schü-
angestammte und eingewurzelte Klassen entsprechen; be in Wurzeln. Oder besser: Rhizome haben ihre eige-
dort gibt es eine Bürokratie der Kanäle, z. B. das be- nen despotischen Formationen der Immanenz und Kana-
rühmte hydraulische Vermögen bei 11 schwachem Ei- lisierung. Im transzendenten System der Bäume gibt es
gentum 11 , wo der Staat kanalisierende und kanalisierte anarchische Deformationen, Luftwurzeln und unterir-
Klassen hervorbringt (vgl. jene Aspekte von Wittfogels dische Stengel. Es kommt nur darauf an, daß Wurzel-
Thesen,* die nie widerlegt worden sind). Der Despot baum und Kanalrhizom nicht wie zwei Modelle einan-
funktioniert als Fluß und nicht als Quelle, die Punkt, der gegenüberstehen: der eine funktioniert als trans-
Baumpunkt oder Wurzel wäre; er vermählt sich eher zendentes Modell und Kopie, auch wenn er seine eige-
den Gewässern 1 als daß er unter einem Baum säße; nen Fluchten erzeugt; das andere funktioniert als ~m­
und Buddhas Baum wird selbst Rhizom; :Maos Fluß und manenter Prozeß, der das Modell umstürzt und eine
Ludwigs Baum. Ist nicht auch hier Amerika als Ver- Karte entwirft, auch wenn es eigene Hierarchien er-
mittler aufgetreten? Es funktioniert nämlich gleichzei- richtet oder einen despotischen Kanal aufreißt. Es geht
tig durch Ausrottung und Liquidationen im Innern (nicht weder um diesen oder jenen Ort auf der Erde 1 noch um
nur der Indianer, auch der Pächter etc.) und auf ein- ~~ einen bestimmten Moment der Geschichte und erst
anderfolgende Einwanderungsschübe von Außen. Der Ka- f!: recht nicht um irgendeine Kategorie .des Geistes. Es
pifitalstrom produziert einen riesigen Kanal, eine Quan- ~j geht um das Modell, das sich unaufhörlich aufrichtet
t· izierung der Macht mit. unmittelbaren 11 Quanten 11 , wo und eindringt, und um den Prozeß, der sich fortwährend
jeder auf seine Weise in den Genuß des vorbeifließen- verlängert, abbricht und wieder einsetzt. Kein ande-
den Geldstroms kommt (daher Realität und Mythos des rer oder neuer ~nualismus. Problem der Schrift: p.ur
Armen, der Milliardär wird, um dann wieder arm zu mit ungenauen Ausdrücken kann man etwas genau be-
werden): so vereinigt sich alles in Amerika, das zu- zeichnen. Nicht, weil man da hindurch müßte oder
gleich Baum und Kanal, Wurzel und Rhizom ist. Es immer nur durch Annäherungen vorankäme: die Unge-
gibt keinen universellen Kapitalismus, keinen Kapita- nauigkeit ist keineswegs eine Annäherung, sie ist im
lismus an sich; der Kapitalismus liegt im Schnittpunkt Gegenteil der genaue Verlauf der Ereignisse. Wir
von allen möglichen Formationen, er ist von Natur aus stützen uns auf einen Dualismus nur, um einen ande-
immer Neokapitalismus und noch schlimmer: er erfin- ren zurückzuweisen. Wir bedienen uns eines Dualis-
det ein orientalisches und abendländisches Gesicht und mus der Modelle nur, um einen Prozeß zu erreichen,
die Umbildung beider. der jedes Modell zurückweist. Es ist Sache des Le-
sers, über korrigierende Denkweisen zu verfügen, um
* Karl Wittfogel, Die orientalische Despotie. Eine ver- die Dualismen aufzulösen, die wir im übrigen nicht
gleichende Untersuchung totaler Macht, Ffm. 1977, setzen wollten, durch die wir lediglich hindurchgehen.
S. 29. (A. d. ü.) 33
32
Es liegt beim Leser, zu der magischen Formel zu ge- Eroberung, Fang und Stich vor. Im Gegensatz zu Gra-
langen, die wir alle suchen: PLURALISMUS = MONIS- phik, Zeichnung und Photo, zu den Kopien bezieht sich
MUS, und dabei durch alle Dualismen hindurchzugehen; das Rhizom mit seinen Fluchtlinien auf eine Karte mit
sie sind der Feind, der absolut notwendig ist, das vielen Ein- und Ausgängen; man muß sie produzieren
Mobiliar, das wir pausenlos verschieben. und konstruieren, immer aber auch demontieren, an-
schließen, umkehren und verändern können. Man muß
Fassen wir die wichtigsten Merkmale eines Rhizoms die Kopien auf Karten zurückübertragen und nicht um-
zusammen: im Unterschied zu den Bäumen und ihren gekehrt. In zentrierten (oder auch polyzentrischen)
Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt Systemen herrschen hierarchische Kommunikation und
mit einem anderen; jede seiner Linien verweist nicht von vornherein festgelegte Verbindungen; dagegen ist
zwangsläufig auf gleichartige Linien, sondern bringt das Rhizom ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches
sehr verschiedene Zeichensysteme ins Spiel und sogar und nicht signifikantes System ohne General, organi-
nicht signifikante Zustände (Hats de non-signes). Das sierendes Gedächtnis und Zentralautomat; es ist einzig
Rhizom läßt sich weder auf das Eine noch auf das Vie- und allein durch die Zirkulation der Zustände definiert.
le zurückführen. Es ist nicht das Eine, das zwei wird, Im Rhizom geht es um ein Verhältnis zur Sexualität,
auch nicht das Eine, das direkt drei, vier, fünf etc. aber auch zu Tier und Pilanze, zu natürlichen und
wird. Es ist weder das Viele, das vom· Einen· abgelei- künstlichen Gegenständen, das sich völlig vom Baum-
tet wird, noch jenes Viele, zu dem das Eine hinzuge- verhältnis unterscheidet: um uwerdenu aller Art.
fügt wird (n+l). Es besteht nicht aus Einheiten, sondern
aus Dimensionen. Ohne Subjekt und Objekt bildet es Ii- Jede Vielheit, die mit anderen durch an der Oberfläche
neare Vielheiten mit n Dimensionen, die auf einem verlaufende unterirdische Stenge I verbunden werden kann,
Konsistenzplan ausgebreitet werden können, und von de- so daß sich ein Rhizom bildet und ausbreitet, nennen
nen das Eine immer abgezogen wird. Eine Vielheit va- wir P la t ea u. Wir schreiben dieses Buch als Rhizom.
riiert ihre Dimensionen nicht,ohne sich selbst zu än- Wir haben es aus Plateaus zusammengesetzt. Zum
dern und zu verwandeln. Eine Struktur ist durch ein Spaß haben wir ihm eine zirkuläre Form gegeben. I~oior­
Ensemble von Punkten und Positionen definiert, durch gens nach dem Aufstehen hat sich jeder überlegt, '.vel-
binäre Relationen zwischen diesen Punkten und biuni- chen Plateaus er folgen soll) und dann fünf Zeilen hier
voke Relationen zwischen diesen Positionen; das Rhizom und zehn Zeilen dort geschrieben. Wir haben halluzi-
dagegen besteht nur aus Linien: den Dimensionen der natorische Erfahrungen gemacht, haben Linien gesehen,
Segmentierungs- und SChichtungslinien, aber auch der die wie Kolonnen winziger Ameisen von einem Plateau
Maximaldimension der Flucht- und Deterritorialisie- zu einem anderen liefen. Wir haben Konvergenzkr~ise
rungslinie, auf der die Vielheit abfährt und sich ver- gezogen. Jedes Plateau kann an b€liebiger Stelle ge!·e-
wandelt. Man darf solche Linien und Spuren nicht mit sen und zu beliebigen anderen in Beziehung gesetzt wer-
den Abstammungslinien des Baumtyps verwechseln, die den. Das Viele erfordert eine Methode, mit der man es
nur Verbindungen zwischen Punkten und Positionen an- wirklich machen kann; kein typographischer Trick, kein
geben. Im Gegensatz zum Baum ist das Rhizom nicht lexikalisches Geschick, weder Wortmischung noch
Gegenstand der Reproduktion: weder einer äußeren Re- -Schöpfung, auch nicht' syntaktische Kühnheit können sie
produktion als Bildbaum, noch einer inneren Reproduk- ersetzen. In Wirklichkeit sind das meistens nur mime-
tion als Baumstruktur. Das Rhizom ist eine Anti-Genea- tische Verfahren, die dazu bestimmt sind, eine Einheit
logie. Das Rhizom geht durch Wandlung, Ausdehnung, zu zerstreuen und zu dislozieren, um sie in einer ande-
34 35
ren Dimension für ein Bilderbuch aufrechtzuerhalten. bündelt ist. Niemals Wurzeln schlagen, nie welche an-
Technonarzißmus., Typographische, lexikalische oder pflanzen, auch wenn es schwierig ist, ~~cht in.. di~se
syntaktische Schöpfungen sind nur notwendig, wenn sie alten Verfahren zurückzufallen. 11 Alle Dmge namlich,
nicht mehr zur Ausdrucksform einer verborgenen Ein- die mir einfallen, fallen mir nicht von der Wurzel aus
heit gehören, sondern selbst eine der Dimensionen .der ein sondern erst irgendwo gegen ihre Mitte. Versuche
jeweiligen Vielheit werden; wir kennen nur wenige Fäl- sie' dann jemand zu halten, versuche jemand ein Gras
le, wo dies gelungen ist. (18) Wir haben es nicht ge- und sich an ihhl zu halten, das erst in der Mitte des
schafft. Wir haben lediglich Wörter verwendet, die für Stengels zu wachsen anfängt.·11 (19) Warum ist das so
uns als Plateaus funj<tionierten. RlllZOMA TIK = SCHI- schwierig? Das ist bereits eine Frage der Wahrneh-
ZOANALYSE = STRATOANALYSE = PRAGMATIK= mungssemiotik. Es ist nicht leicht, die Dinge von ih-
MIKROPOLITIK. Diese Wörter sind Begriffe, aber die rer Mitte her wahrzunehmen und nicht von oben nach
Begriffe sind Linien,d.h. Zahlensysteme, die mit die- unten von links nach rechts oder umgekehrt: versucht
ser oder jel}er Dimension der Vielheiten verknüpft es un'd ihr werdet sehen, daß alles sich ändert.
sind (Schichten, molekularen Ketten, Flucht- und Bruch-
linien, Konvergenzkreisen etc .) . Wir beanspruchen kei- Man schreilit Geschichte aber immer aus der Sicht der
nesfalls den Status einer Wissenschaft. Wir kennen kei- Seßhaften im Namen eines einheitlichen Staatsapparats,
ne Wissenschaftlichkeit und Ideologie mehr, ·wir kennen und das war selbst dann noch möglich, als von Noma-
nur noch Verkettungen. Es gibt nur noch maschinelle den die Rede war. RHIZOMATIK = NOMADOLOGIE. Es
Wunschverkettungen als kollektive Aussageverkettungen. gibt aber auch hier große und seltene Erfolge • .1\fan den-
Weder Signifikanz noch Subjektivierung: zu n schreiben ke zum Beispiel an die Ki.nderkreuzzüge: an das Buch
(jeder individuierte Aussagevorgang bleibt in den herr- von :Marcel Schwob das die Berichte vervielfacht wie
schenden Bedeutungen gefangen, jeder signifikante eine Unmenge von Plateaus mit variablen Dimensionen.
Wunsch verweist auf unterworfene Subjekte). In ihrer ()der 11 Die Piorten des Paradieses 11 von Andrzejewski,
Vielheit bearbeitet eine Verkettung zwangsläufig zu- das aus einem einzigen ununterbrochenen Satz besteht,
gleich semiotische, materielle und gesellschaftliche einem Kinderstrom Strom eines :Marsches, der auf
Ströme (unabhängig davon, ob sie in einem theoreti- der Stelle tritt, si~h dahinwälzt, sich überstürzt, Zei-
schen oder wissenschaftlichen Korpus wiederaufgenom- chenstrom der Kinderbeichten, die vor dem alten
men wird). Es gibt keine Dreiteilung mehr zwischen Mönch ·an der Spitze des Zuges abgelegt werden, Strom
einem Feld der R.ealität: der Welt, einem Feld der Re- des Wunsches und der Sexualität; alle sind aus Liebe
präsentation: dem Buch und einem Feld der Subjektivi- losgezogen und werden mehr oder weniger direkt vom
tät: dem Autor. Eine Verkettung stellt Verbindungen schwarzen posthumen, päderastischenVerlangen des Com-
zwischen Vielheiten aus allen diesen Ordnungen her, so te de Vendöme geleitet, in Konvergenzkreisen; - es ist
daß ein Buch weder im folgenden Buch eine Fortsetzung nicht wichtig ob es sich dabei um einen oder viele
findet 1 noch die Welt zum Objekt oder einen oder meh- Ströme hand~lt darüber sind wir hinaus: ·es gibt eine
rere Autoren als Subjekt hat. Kurzum, wir glauben, kollektive Auss~geverkettung und eine maschinelle
daß die Schrift nie genug auf ein Außen bezogen werden Wunschverkettung, die ineinander vers,chränkt und an
kann. Das Außen kennt kein Bild, keine Bedeutung und ein ungeheures Außen angeschlossen sind, das in jeder
keine Subjektivität. Das Buch als Verkettung mit dem Hinsicht Vielheilen herstellt. Und cll!nn das erst kürz-
Außen gegen das Bilderbuch der Welt. Ein Rhizom- lich erschienene Buch von Armand Farrachi über den
buch, das nicht mehr dichotomisch, zentriert oder ge- N. Kreuzzug, 11 La Dislocation", wo die Sätze ausein-
36 37
anderlaufen und sich zerstreuen oder sich dran·· 1n d prekäres pragmatisches Gedankengebäude mehr als ·der
b ühr ge un
er- en, wo_ Buchstaben und Typographie in dem Ma- Abklatsch von Begriffen, die ihren Einschnitten und
ße tanzen,_ Wie der J?'euzzug deliriert. (20) Das sind Weiterentwicklungen zum Trotz doch nichts ändern. _Lie-
~odelle ~mer nomadischen und rhizomatischen Schrift ber ein unmerklicher Bruch als ein signifikanter Ein-
D1e Sc~~ft ve~mählt sich einer Kriegsmaschine und ' schnitt. Die Geschichte hat nie das Nomadentum, das
Fluchtl~me~; Sie·läßt Schichten und Segmentierungen, Buch nie das Außen begriffen. Für diejenigen schrei-
Seßhaftigkeit und Staatsapparat hinter sich zurück. Aber ben, die nicht lesen können; manche Leute grins~n hä-
weshall~_ braucht _man überhaupt noch ein Modell? Ist misch: 11 ilrr sitzt doch im Elfenbeinturm; merkt 1hr
ct:nn?das Bu~.h mcht il;nmer noch ein ''Bild 11 der Kreuz- nicht, was für Wörter ihr benutzt; und euer Bildungs-
zuge_. U_nd halt man mcht auch hier an einer Einheit zwang?11 Darauf antworten wir nicht. Wir stellen uns
fest,. be1 Sch~_ob an der Achseneinheit, bei Farrachi unter einem Buch etwas anderes vor; wir haben uns
an e1~er verkummerten Einheit, in ''Die Pforten des nie selbst zitiert, wir haben nie das Lied der Avant-
Pa~ad1esesn, dem schönsten aller BeispieieJ an der Ein- garde angestimmt ä la 11 Tel Quelu und uBouillant
heit des. toten Grafen? Muß das Nomadisieren noch wei- Achille". Also, NE NOUS DERANGEZ PAS *, Edith
ter getrieben werden als in den Kreuzzügen und bei den Piaf. Wie herrlich, wenn gesagt wird: da haben sie
e~hte~ Nomaden,. bis zum Nomadenturn derjenigen, die uns aber enttäuscht, oder: jetzt sind sie verrückt ge-
s_ICh uberhaupt mcht mehr rühren und riichts inehr imi- worden, oder: denen fällt auch nichts neues mehr ein.
tieren? Sie verketten nur noch. Wie findet das Buch ein Umso besser. Wir sind ganz anderswo. Was haben
A_ußen, mit d~m es sich im Heterogenen Verketten, statt 1 denn die Nomaden gemacht? Gegen den Staatsapparat
~mer Welt, die es nur reproduzieren kann? Kulturell haben sie die Kriegsmaschine erfunden, die etwas ganz
ISt das Buch zwangsläufig eine Kopie: schon Kopie sei- anderes ist als der Staatsapparat. Kriegsmaschinenrhi-
ner selbst, Kopie eines vorangegangenen Buches des- zom gegen Staatsbaum. Der Baum ist genau die Staats-
selbe~ Autors, Kopie anderer Bücher, wie sie sich macht. Im Laufe einer langen Geschichte war der Staat
auch 1mm~r ':'-.nterscheiden mögen, endloser Abklatsch Modell für Buch uitd Denken: Logos, Philosophenkönig,
von Gememplatzen und -begriffen, blasse Nachahmung Transzendenz der Idee, Innerlichkeit des Begriffs, Ge-
der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. (21) Das an- lehrtenrepublik, Tribunal der Vernunft, das b_eamtete
bkulturelle Buch kann zwar von einer schwerfälligen Denken, der Mensch als Gesetzgeber und SubJekt. Wel-
Kultur durc~drungen sein, es macht eher aktiven Ge- che Anmaßung des Staates, das verinnerlichte Bild der
brau~h von Ihr: Vergessen gegen Erinnerung, Unter- Weltordnung zu sein und den Menschen zu verwurzeln.
entwiCklung gegen fortschrittliche Entwicklung Noma- Aber die Beziehung einer Kriegsmaschine auf das Au-
denturn gegen Seßhaftigkeit, Karte gegen Kopi~. RHI- ßen das ist kein anderes 11 Mode11 11 , sondern eine Ver-
ZOMATIK = POP'ANALYSE, auch wenn das Volk ande- kethmg, die das Denken selbst nomadisiert und aus dem
r~s zu.. tun ha~ als solche Bücher zu lesen, auch wenn Buch ein Teilstück aller beweglichen 1\r:Iaschinen macht,
die Blocke umversitärer Kultur und Pseudowissen- Stenge! eines Rhizoms (Kleist und Kafka gegen Goethe).
s~haft~ichkeit übergenau und schwerfällig bleiben. Denn
d~.e W1ssenschaftlic~ei~ wäre schon längst völlig ver- Die meisten Bücher, die wir zitieren, sind Bücher, die
ruckt, wenn ~n Sie Sich selbst überlassen hätte. wir mögen (manchmal aus geheimen oder perversen
Schaut euch d1e Mathematik an, das ist keine Wissen-
schaft, sondern ein wuchernder, nomadisierender Jar-
gon. Sogar und vor allem in der Theorie leistet ein * 11 Laßt uns in Ruhe 11 (A.d. Ü.)
38 39
Gründen). Es macht nichts, daß einige sehr bekann~ andere was ihr wollt. Wir haben nicht vor, eine Schule zu grün-
weniger bekannt oder vergessen sind. w·enn wir zitie- den; auch Schulen, Sekten, Cliquen, Kirchen, Avantgar-
ren, dann nur aus Liebe. Wir beanspruchen nicht, eine den und Arri~regarden * sind Bäume, die in ihrer lä-
Summa zu verfassen oder -eine Chronik aufzustellen, un- cherlichen Erhabenheit und durch ihren lächerlichen
sere Verfahren sind Vergessen und Subtraktion. Ein Sturz alles zermatschen, was sich Wichtiges ereignet.
Rhizom bilden, Maschinen bauen, die vor allem dernon-
tierbar sind; ein Milieu schaffen, wo mal dies und mal Zu n, n - 1 schreiben, Schlagworte schreiben: macht
jenes auftauchen kann: wie mürbe Brocken in der Suppe. Rhizom, nicht Wurzeln, pflanzt nichts an! Sät nicht,
O::ler besser noch, ein funktionelles, pragmatisches Buch: stecht! Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten!
nehmt euch, was ihr wollt. Das Buch hat aufgehört, ein Macht nie Punkte, sondern Linien! Geschwindigkeit
Mikrokosmos nach klassischer und abendländischer Art verwandelt den Punkt in eine Linie !(22) Seid schnell,
zu sein. Das Buch ist kein Bild der Welt und noch viel auch im Stillstand! Glückslinie, Hüftlinie, Fluchtlinie.
weniger Signifikant. Es ist nicht schöne organische To- Laßt keinen General in euch aufkommen! Macht Karten,
talität, auch nicht mehr Einheit des Sinns. Michel Fou- keine Photos oder Zeichnungen! Seid der rosarote Panther,
cault antwortet auf die Frage, was für ihn ein Buch und liebt euch wie Wespe und Orchidee, Katze und
sei: eine Werkzeugkiste. * Und Proust, dessen Werk Pavian.
voller Bedeutungen stecken soll, meinte, daß sein Buch
wie eine Brille sei: probiert, ob sie euch paßt; ob ihr
mit ihr etwas sehen könnt, was euch sonst entgangen
wäre; wenn nicht, dann laßt mein Buch liegen und sucht
andere, mit denen es besser geht. Findet die Stellen
in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt. Wir
lesen und schreibau nicht mehr in der herkömmlichen
Weise. Es gibt keinenTod des Buches, sondern eine
neue Art zu lesen. In einem Buch gibt' s nichts zu ver-
stehen, aber viel,_ dessen man sich bedienen kann.
Nichts zu interpretieren und zu bedeuten, aber viel,
womit man experimentieren kann. Ein Buch muß mit
etwas· anderem 11 Maschine machen", es muß ein kleines
Werkzeug fUr ein Außen sein. Keine Repräsentation der
Welt, auch keine Welt als Bedeutungsstruktur. Das Buch * Nachhut(A.d.Ü.)
ist kein Wurzelbaum, sondern Teil eines Rhizoms, Pla-
teau eines Rhizoms für den Leser, zu dem es paßt. Die
Kombinationen, Permutationen und Gebrauchsweisen sind
dem Buch nie inhärent, sondern hängen von seinen Ver-
bindungen mit diesem oder jenem Außen ab. Ja, nehmt

* Vgl. Michel Foucault, Mikrophysik der Macht, Ber-


lin 1976, S. 45. (A.d. Ü.)
40 41
Anmerkungen: Verhältnis zum Begrüf, der zunächst als Vielheit
betrachtet werden muß, z. B. eine Aussage des
(1a) Vgl. W. S. Burroughs, Die unsichthare Gene- folgenden Typs : ''Keine Form des Überichs ist vom '
<i'
ration, in: Acid, hrsg. von R.D. Brinkmann Individuum auf eine gegebene Gesellschaft übertrag-
u. R.R.Rygulla, Frankfurt/Main 1975, bar. 11 Eine schlechte Methode. Denn es gibt keine
S. 166!1. (A.d.Ü.) Form des Begriffs, deren Inhalt ausschließlich (o_der
(1) Vgl. Francoise Robert, Aspects sociaux du chan- von vornherein) entweder Individuen oder Kollekti-
gement dans une grammaire gtm~rative, in: Lan- ven zugeordnet werden könnte. Wenn der Begriff
gages, Nr. 32, Dez. 1973, S. 90 wirklich eine Vielheit bezeichnet, wird er den Ge-
(2) Vgl. Bertil Malmberg, Nya vägar inom sprak- sellschaften nach bestimmten Linien, den Gruppen
forskningen und Familien nach anderen und den Individuen
eng!. Übers.: New trends in lingnistics, 1964 nach wieder anderen Linien zugeordnet; und alles,
frz. Übers.: Les nouvelles tend.ances de la lin- dem er zugeordnet wird, ist selbst eine Vielheit.
guistique, 1966, S. 97 ff (das Beispiel des ka- Anderenfalls handelt es sich um einen schlechten
stilianischen Dialekts) Begriff (man hätte sich das für das Überich, wie
(3) Ernst Jünger, Annäherungen. Drogen und ftir die meisten psychoanalytischen Begriffe den-
Rausch, Stuttgart 1970, § 218, S. 358 f ken können, die falsche Zusammenstellungen und
(4) Methode :Man sucht keine gemeinsame Gattung, de~ Differenzierungen vornehmen).
deren Spezies die Faschismen oder sogar die To- (5) R.~my Chauvin 1 in: Entretiens sur Ja sexualit~
talitarismen wären. Man sucht auch keine besonde~ (Colloquium in Cerisy-la-Salle), hrsg. von
re Spezies, die den Faschismen oder besser dem Max Aron u. Robert Couvrier, Paris 1969
deutschen Faschismus zueigen wäre und sich von (6) Über die Arbeiten von R.. -E. Benveniste und
allen anderen unterscheiden würde. Man betrachtet G. -J. Todaro, vgl. Yves Christen, Le rOle des
den Begriff eher als eine Vielheit, die durch ihre virus dans l'~volution in: La Recherche, Nr. 54,
Dimensionen definiert wird, auf welchem Niveau März 1975: s. 271: 11 Wenn bei der Abtrennung ein
der Allgemeinheit oder Besonderheit er auch ge- Irrtum vorliegt, können die Viren nach der Inte-
wonnen sein mag (es gibt gleichzeitig die verschie~ gration-Extraktion Fragmente der DNS ihres Wirts
densten Arten von deutschen Faschismen, mit rech~ mitreißen und sie auf neue Zellen übertragen: das
ten und linken 11 Strömungen", Massenlinien und ist übrigens die Grundlage des genetic engi-
Fluchtlinien, städtischen und ländlichen Spielarten n e er in g. Dadurch kann durch die Viren gene-
etc.) J.P. Faye hat das überzeugend gezeigt.(vgl. tische Information von einem Organismus auf ei-
Jean Pierre Faye, Theorie der Erzählung, Frank- nen anderen übertragen werden. Und wer an ausge-
furt/M. 1977, ersch. demnächst A. d Ü.) Die Be- fallenen Situationen Gefallen findet, könnte sich
deutung, die der Faschismus in einem bestimmten sogar vorstellen· daß diese Informationsübertra-
Augenblick annimmt, und seine Zuordnung hängen gung von einer triehr entwickelten Spezies auf_ ei-
davon ab, welche Dimensionen über die anderen ne weniger entwickelte oder die ':'ätergenerahon
die Oberhand gewinnen, und welche Linien sich zum stattfindet. Dieser Mechanismus würde also gegen-
Schaden der anderen entwickeln. Fragen der Be- sinnig zu dem funktionieren, der die klassis_che
deutung und Zuordnung sind immer sekundär im Evolution beherrscht. Wenn solchen Informahons-
42 43
übertrag1mgen eine große Bedeutung zukäme, könn- Es sammelt alle Formen des Eins- Zwei, Theo.:
te man in bestimmten Fällen, die Busch- und rie des Dipols. Die Menge Stamm-Wurzel-Zweige
Baumschemata, die heute die Evolution ergibt das folgende Schema:
repräsentieren, durch netzförmige

~I \I
Schemata ersetzen (in denen Verbin-
dung.en zwischen Zweigen noch nach
ihren Differenzierungen entstehen), n
gegenläufiges I Segment
(7)

(8)
FrancQis Jacob, Die Logik des Lebenden. Von der
Urzeugung zum genetischen Code, Frankfurt/M.
1972, 8.331
Carlos Castaneda, Die andere Realität. Die Lehren
1\ ?\
Erst kürzlich hat Michel Serres Arten und Se-
des Don Juan. Ein Yaqui-Weg des Wissens, Frank- quenzen von Bäumen in verschiedensten wissen-
furt/M. 1972, 8.127 schaftlichen Bereichen analysiert und gezeigt, wie
(9) Pierre Boulez, Par volont~ et par hasard, Seuil, sich der Baum aus einem 11 Netz 11 bildet. (Hermes
S.14: 11 Man braucht sie nur in einen bestimmten Ill. La traduction, Paris 1974, S. 27 ff; Feux et
Humus zu pflanzen - schon beginnt sie zu wuchern signaux de brume. Zola, Paris 1975, S.35 ff)
wie Unkraut ... 11 Und passim über das Wuchern (14) Pierre Rosenstiehl und Jean Petitot, Automate
der Musik. S. 89: ueine schwebende Musik, wo es asocial et svst~mes acentr~s, in: Communications,
gerade die Notation dem Instumentalisten Unmög- Nr. 22, 1974. Über das Freundschaftstheorem
lich macht, den Takt zu halten. 11 vgl. H. S. Wilf, The Friendship Theorem, in: Com-
(10) Vgl. Melanie Klein, Der Fall Richard. Daß voll- binatorial Mathematics, Welsh Academic Press;
ständige Protokoll einer Kinderanalyse, durchge- über ein Theorem desselben Typs, das sogenannte
führt von Melanie Klein, München 1975 Theorem der kollektiven Unentschlossenheit, vgl.
(di€ Rolle der Kriegskarten in Richards Aktivi- K. J.Arrow, Social choice and individual values.
täten). (15) ebenda: Das wichtigste Merkmal eines nicht zen-
(11) Cahiers de l'Immuable I, L~gendes de Fernand trierten Systems: die lokalen Initiativeri werden
Deligny,in: Recherches, Nr. 8, April 1975 unabhängig von einer zentralen Instanz koordiniert,
(12) Vgl. Dieter Wunderlich, Pragmatik, Sprechsitu- und Kalküle werden im gesamten Netzwerk (Viel-
ation, Deixis,in: Ztschr, f. Literaturwissenschaft heit) erstellt. 11 Ein Personenregister kann des-
und Linguistik, Jg.1, !;!.1/2, Frankfurt/M 1971, halb nur bei den Personen selbst angelegt werden.
S. 153-190. (Die Versuche von McCawley, Sadock Nur sie können sich beschreiben und die Angaben
und Wunderlich, 11 pragmatische Eigenschaften 11 in auf dem laufenden halten: Die Gesellschaft ist das
die Bäume Chomsky' s einzuführen.) einzig mögliche Personenregister. Eine von Natur
(13) Vgl. Julien Pacotte, Le r~seau arborescent, aus nicht zentrierte Gesellschaft weist einen zen-
Sch~me primordial de Ia pens~e, Paris 1936. tralisierenden Automaten als asozialen Eindring-
Dieses Buch analysiert und entwickelt verschie- ling zurück. 11 (S. 62) Zum 11 Theorem des Firing
dene Schemata der Baumform, die nicht als ein- Squad 11 , vgl. S. 51-57. Es kommt sogar vor, daß
facher Formalismus dargestellt wird, sondern Generäle in ihrem Traum, sich formelle Gueril-
als l:J.ie 11 reale Grundlage des formalen Denkens. 11 latechniken anzueignen, auf Vielheiten ''synchro-
Es treibt das klassische Denken auf die Spitze. ner Module 11 zurückgreifen, "die aus zahfreichen
44 45
voneinander unabhängigen leichten Zellen aufge- graphie, sogar durch seinen Stil; im Gegensa_tz ·
baut sind" und theoretisch ein Minimum zentrali- zu dem was sich bei uns abspielt, legt er eme
sierter Macht und nhierarchischer SchaUstellen" Karte a'n die sich direkt mit den wirklichen so-
enthalten. So auch Guy Brossolet, Ver.teidigung zialen B~wegungen verbindet, die Amerika durch-
ohne Schlacht, München (Hanser) 1977, ersch, ziehen. z. B. die Markierung der geographischen
demnächst Richtungen im Gesamtwerk von Fitzgerald. .
(16) Über die abendländische Landwirtschaft der Korn- (18) So Joelle d€ la Casini~re, Absolument n~cessaire,
pflanzen und die orientalische Gartenkultur der Paris 1974, ein wirklich nomadisches Buch. In
Knollen, den Gegensatz säen-stechen und di€ Un- dieselbe Richtung weisen die Forschungen des
terschiede im Verhältnis zur Viehzucht, vgl. Montfaucon Research Centers.
Haudricourt, Domestication des animaux, cultures (19) Kafka, Tagebücher 1910-1923, Frankfurt/M. 1973
des plantes et traitement d~autrui, in: L"Homme, (Fischer TB), S. 11
1~62 1 und L"origine des clones et des clans, in: (20) Marcel Schwob Der Kinderkreuzzug, frz. 1896 ,
L'Homme, ·Januar 1964. Mais und Heis sind-kei- dt. z.B. Berli~ 1947; Jerzy Andrzejewski, Die
ne Einwände: diese Getreidesorten wurden 11 erst Piorten des Paradieses; Armand Farrachi, La
spät von Knollenbauern übernommen rr und auf Dislocation 1974. Im Hinblick auf das- Buch von
gleiche Weise behandelt; wahrscheinlich ist der Schwob safite Paul Alphandt:lry, daß die Literatur
Reis "als Unkraut in den Tarogräben • aufge- in gewissen Fällen die Geschichte erneuern und
treten. rr "ganze Forschungsrichtungen" erschließen kann .
(17) Vgi. Lesiie Fiedler, Die Rückkehr des verschwun- (La chrHient~ et l'id~e de croisade, Bd. 2, Albm
denen Amerikaners, Frankfurt/M. 1970 . .Man fin- Michel, S,l16)
det in diesem Buch eine sehr schöne Analyse der (21) Vgl. Foucaults scherzhafte _Antw~rt auf_ die Fra~e:
Geographie, ihrer mythologischen und literari- was passiert, wenn man (siCh) mcht wied_erholt.
schen Rolle in Amerika und der Vertauschung der unann wiederholt man, wiederholt man die Spra-
Richtungen. Im Osten die Suche nach einem eigen- che selbst". In: Nietzsche, Cahiers de Royaumont,
ständigen amerikanischen Code und nach einer Re- Paris 1966
codierung mit Europa (Henry James, Eliot, Pound (22) Vgl. Paul Virilio, V~hiculaire, i~: Nomades et
etc. ); die Sklavenhalterische Übercodierung im Vagabondes, Paris 1975, 8.44: Wie als Fo~e von,
Süden mit ihrem eigenen Ruin und dem der Plan- Geschwindigkeit Linearität auftaucht und die Wahr-
tagen im Sezessionskrieg (Faulkner, Caldwell); nehmung umstürzt.
die aus dem Norden stammende kapitalistische
Dekodierung (Das Passes, Dreis er); aber die Rol-
le des Westens --~ls Fluchtlinie, wo sich Reise,
Halluzination, Wah~sinn, Indianer, Experimente
in Wahrnehmung und Denken, Bewegung der Gren-
zen und das Rhizom vermählen (Ken Kesey und
seine 11 Nebelmaschine' 1; die Beatnikgeneration usw.),
Jeder große amerikanische Autor macht eine Karto-

• tropische Kilo!lenfrucht. (A.d. Ü.)


47
46
ANHANG ÜBER KAPITALISMUS UND SCHIZOPHRENIE
Gespräch mit Fe'lix Guattari und
Gilles Deleuze

FRAGE: Einer von Ihnen ist Psychoanalytiker, der an-


dere ist Philosoph; Ihr Buch, 11 Anti-Ödipus 11 , ist eine In-
fragestellung sowohl der Psychoanalyse als auch der
Philosophie, und Sie führen etwas anderes ein: die
Schizoanalyse. Welches ist nun der gemeinsame Ort
dieses Buches? Wie haben Sie sich dieses Unterneh-
men gedacht, 'Qnd welche Veränderungen brachte es
für den einen und für den anderen?

GILLES DELEUZE: Man sollte wie die kleinen Mädchen


im Konditional sprechen: man würde sich getroffen ha-
ben, dieses würde sich ereignet haben ... Vor zweiein-
halb Jahren habe ich Felix getroffen. Er hatte den Ein-
druck, daß ich ihm voraus war, er erwartete etwas.
Ich hatte nämlich weder die Verantwortlichkeiten eines
Psychoanalytikers, noch unterlag ich den Schuldigkeiten
und Konditionierungen eines Analysierten. Ich hatte
überhaupt keinen Standort, das machte es mir leicht,
Das folgende Gespräch mit Deleuze und Guattari und ich fand es eher komisch, wie elend die Psychoana-
das Catherine Backes-Cl€ment am 2. März 1972, lyse war. Aber ich arbeitete einzig und allein mit die-
führte und das im Deleuze-Heft der Zeitschrift nL' Aren sen Begriffen, und das noch schüchtern. Felix erwähn-
(Nr. 49) veröffentlicht wurde, entstand anläßlich te mir gegenüber etwas, was er bereits die Wunsch-
maschinen nannte: eine umfassende theoretische und
d~~~ ~rste_n .~~ndes von uKapitalismus und Schizophre- praktische Konzeption des 1\tfaschinen- Unbewußten, des
nie : Anti-Od1pus", Paris 1972 (dt.Frankfurt 1974).
schizophrenen Unbewußten. Nun hatte ich den Eindruck,
daß er es war, der mir voraus war. Aber mit sei-
nem ''1\tfaschinen- Unbewußten 11 sprach er noch in Ter-
men von Struktur, von Signifikant, von Phallus usw.
Das ist zwangsläufig so, da er ja vieles Lacan ver-
dankte (ich auch). Aber ich sagte mir, daß das noch
besser gehen würde, wenn man adäquate Begriffe fän-
de, anstaU sich der Ausdrücke zu bedienen, die nicht
vori Lacan selbst, sondern von einer Orthodoxie geprägt
wurden, die; sich um ihn herum gebildet hat. l..acan
sagt: man hilft mir damit nicht. So half man ihm ge-
48 49
rade ~uf sc.hizophrene Weise. Und wir verdanken La.- Und dann hatte ich in der Klinik von La Borde in
c~n s.rcherlich umso mehr, als wir solche AusdrUcke Cour-Cheverny mitgearbeitet, seit ihrer GründWlg durch
wre dle d~r Struktur, des Symbolischen oder des Signifi- Jean Oury 1953, in der Verlängerung der Erfahrung
kanten, dre ganz und gar schlecht sind, aufgegeben ·ha- Tosquelles * : man versuchte praktisch und ~heoretisch 1
ben, u_nd als Lacan selbst es immer wieder verstanden Grundlagen der institutionellen Psychotherapie zu de-
hat, sre umzuwenden, um deren Kehrseite aufzuzeigen. finieren (ich für mein Teil probierte Ausdrücke wie den
der 11 Transversalitätn ** oder den des "Gruppenphan-
F~lix u~d ich, wir haben also beschlossen zusammen tasmas11 aus). Und dann war ich auch durch Lacan aus-
zu arberten. Zunächst geschah das durch Briefe. Und gebildet worden, seit dem Beginn der Semi~re .. Schließ-
dan~ ab und zu Sitzungen, wo der eine dem anderen lich hatte ich eine Art Schizo-Ort oder Schrzo-Drskurs,
zuhorte .. Man hat sich viel amüsiert, man hat sich viel ich bin immer in die Schizos ver liebt gewesen, ich fühl-
g~langwellt. Immer gab es einen von beiden, der zu- te mich von ihnen angezogen. Man muß mit ihnen leben,
VIel sprach. Es kam oft vor, daß der eine einen Aus- um zu begreifen. Die Probleme der Schizos sind wenig-
druck vorschlug·, der dem anderen nichts sagte der stens wirkliche Probleme, nicht Probleme von Neuro-
andere dann mehrere Monate später, in einem ~nde­ tikern. Meine erste Psychotherapie wurde mit einem
ren Zusammenhang, dazu kam, ihn zu benützen. Und Schizo durchgeführt, mit Hilfe eines Tonbandes.
dann hat man viel gelesen, keine garizen Bücher son- Nun waren diese vier Orte, diese vier Diskurse nicht
dern Teile. Manchmal fand man ganz und gar Id,ioti- nur Orte und Diskurse, sondern Lebensweisen, die
sche~, das uns in den Freveltaten von Und mit Ödipus zwangsläufig ein bißeben zerrissen waren. Der Mai
und m. dem großen Elend der Psychoanalyse bestätigte. '68 ist eine Erschütterung für ·Gilles und für mich ge-
Manchmal_ Sac~en, die uns bewunderungswlirdig erschie- wesen wie für viele andere. Wir kannten uns damals
nen ~d dre _wrr Lust hatten, auszuschlachten, Und d~mn nicht 'und trotzdem ist der 11 Anti-ÖdipUS 11 gegenwärtig
s~hrreben. wrr viel. F€lix behandelt das Schreiben wie eine 'Folgeerscheinung des Mai. Für mich w~r es nö-
~~nen Sc~rzo~Fluß, der alle möglichen Dinge mit sich tig meine vier Lebensweisen nicht zu vereinheitlichen,
fuhrt .. Mrch r_nteressiert, daß eine Seite über alle En- so~dern wieder ein bißeben einander anzunähern. Ich
den hmaus fheht, und daß sie dennoch fest über sich hatte Anhaltspunkte, z. B. die Notwendigkeit, die Neu-
selbs_t geschlossen ist wie ein Ei. Und dann auCh daß rose von der Schizophrenie aus zu interpretieren. Aber
e~ Ernhaltungen gibt, Resonanzen, Überstürzunge~ und ich hatte nicht die nötige Logik für diese Wiederverei-
er_ne ~enge Larven in einem Buch. Nun schrieb man nigung. Ich hatte in der Zeitschrift "Hecherches 11 einen
wrrkhch zu zweit, man hatte von daher keine Proble- Text geschrieben, ''D'un Signe a r Autre'', stark ge-
me. Man hat aufeinanderfolgende Versionen gemacht. prägt von Lacan, in dem es aber keinen . Si~ifika~ten
gab. Trotzdem war ich noch in einer Art Dralekhk
FELIX 9UATTARI: Was mich betrifft ich hatte zu verstrickt. was ich von der Arbeit mit Gilles erwar-
viele no;terr, ich hatte mindestens vi~r. Ich kam von tete, waren Dinge wie diese: der organlose Körper,
der IIVOl€ c?~muniste"' dann von der Links-Opposition;
V?r d_em ."Mar 68 regte man sich heftig auf, man schrieb
e_rn brßchen, z. B. die 11 neun Thesen der Links-Opposi- * vgl. F. Guattari, Psychotherapie, Politik und die
tion" •. Aufgaben der institutionellen Analyse, Ffm. 1976,
s. 68
* vgl. F. Guattari, Psychanalyse et Transversaute ** vgl. ebenda Seite 39-55
Paris 1972, S. 98f' 51
50
die Vielheiten, die Möglichkeit einer Logik der Viel- der Theorie herauskommen. Es gibt keinen Zweifel dä..-
heiten mit Befestigungen auf dem organlosen Körper. ran daß die Psychoanalyse Verwirrung in die gesamte
In unserem Buch sind die logischen Operationen auch Medizin der Geisteskrankheiten gebracht hat, sie hat
körperliehe. Und das, was wir gemeinsam gesucht die Rolle einer Höllenmaschine gespielt. Kaum der Re-
haben, war ein zugleich politischer und psychiatri- de wert daß es von Anfang an Bloßstellungen gegeb:en
scher Diskurs, aber ohne eine der Dimensionen auf hat das' brachte die Verwirrung, das drängte neue Ar-
die andere zu reduzieren. ti~Iationen auf, das enthüllte den Wunsch. Sie ber'?':"'
fen sich selbst auf die psychischen Apparate, so wre
~RAGE: Sie stellen andauernd ein schizoanaly- Freud sie analysiert: es gibt dort durchaus einen
bsches Unbewußtes, gebildet aus Wunschmaschinen Aspekt der 1\lfaschinerie, der Wunschproduktion, der
einem psychoanalytischen Unbewußten gegenüber a~ Produktionseinheiten. Und dann gibt es den andere~.
dem Sie alle mögliche Kritik üben. Sie messen' alles Aspekt, eine Personüizierung dieser Appar~te (das D_ber-
an der Schizophrenie. Aber können Sie wirklich sagen l.ch das ilch das Es), eine Theater-Inszemerung, dre
daß Freud den Bereich der .Maschinen, oder wenig- ' bloße' repräsentative
' Werte an die Ste 1le von Wir
. k-
stens der Apparate, ignorierte? Und daß er den Be- liehen produktiven Kräften de-!3 Unbewußten setzt. Folg-
reich der Psychose nicht verstanden hat? lich werden die Wunschmaschinen mehr und mehr The-
11
ater-Maschinen: das Überich, der Todestrieb als deus
FELIX GUATTARI: Das ist kompliziert. In gewisser ex machina ''. Sie tendieren immer mehr dazu, hinter
Hinsicht wußte Freud wohl, daß sein wahres klinisches der Wand in der Kulisse zu funktionieren. Od.er aber
Material, seine klinische Basis, auf der Psychose be- als Illusi~ns- als Effektmaschinen. Die ganze Wunsch-
ruhte, auf Bleuler und Jung. Und das hörte nicht auf: produktion wi~d erdrückt. Wir sagen gleichzeitig dies:
alles, was in der Psychoanalyse neu dazu kam von Freud entdeckt den Wunsch als Libido, den Wunsch, der
Melanie Klein bis I..acan, kam von der Psycho;e. Auf produziert; und er hat nichts Eiligeres z?. tun, ll:ls d_~e
der anderen Seite der Fall Tausk: Freud fürchtete viel- Libido wieder zu entfremden in der famrlialen Repra-
leicht eine Konfrontation der analytischen Begriffe mit sentation (Ödipus). Mit der Psychoanalys~:.Jst es. die
der Psychose. Im -Kommentar zum Fall Sehreber fin- selbe Geschichte wie mit der petitsehen Okonom1e, so
det man alle möglichen Ambiguitäten. Und was die wie .Marx sie sieht: Adam Smith und Ricardo entdecken
Schizos anbelangt, so hat man den Eindruck daß Freud das Wesen des Reichtums als produktive Arbeit, und,
sie überhaupt nicht mag, er sagt abscheuli~he, ganz sie haben nichts Eiligeres zu tun, als es wieder zu
und gar unangenehme Dinge über sie ... Wenn Sie jetzt entfremden in der Repräsentation des Eigentums. Die
sagen, daß Freud die Wunschmaschinen nicht ignoriert erneute Beschränkung des Wunsches auf eine Familien-
hat, so stimmt das. Der Wunsch die Wunschmaschi- szene -bewirkt, daß die Psychoanalyse d~e Psychose ver-
nerien sind sogar die Entdeckung' der Psychoanalyse. kennt sich nur mehr in der Neurose wredererkennt und
Das Surr_en, . Knirschen, Produzieren wird nicht abge- von der Neurose selbst eine Interpretation abgibt, die
schaltet m emer Psychoanalyse. Und die Psychoana- die Kräfte des Unbewußten entstellt.
ly_tiker hören nicht auf, .Maschinen anzuwerfen oder
w_rede~ anzuwerfen auf schizophrenem Untergrund. Aber FRAGE: Ist es das, was Sie sagen wo.~len, wenn Sie
vrellercht machen oder entfesseln sie Dinge von denen von einer ''idealistischen Wende" mit Odipus in der
sie kein klares Bewußtsein haben. Vielleicht enthält Psychoanalyse sprechen, und wenn Sie versuche~, ?em
ihre Praxis angedeutete Operationen, die nicht klar in Idealismus in der Psychiatrie einen neuen Materralis-
52 53

l
m~s gegenüberzustellen? Wie geschiehtdie Artikulation der kapitalistischen. Wir greifen ihn nicht an im Na-.
zw~schen Materialismus und Idealismus im psychoana- men angeblich höherer Ideale als die Sexualität, son-
lytischen Bereich? dern im Namen der Sexualität selbst, die sich nicht
auf das 11 Schmutzige kleine FamiliengeheimniS 11 be-
GILLES DELEUZE: Was wir angreifen, ist nicht etwa schränkt. Und wir machen keinen Unterschied zwischen
eme Ideologie ~er. Psychoanalyse. Es ist die Psycho- imaginären Variationen von Ödipus und einer struktu-
~nal.yse se~st. m 1~rer Praxis und ihrer Theorie. Und ralen Invarianten, da es- ja immer dieselbe Sackgas-
m die_ser Hms1cht 1st es kein Widerspruch, zu sagen, se mit zwei Enden ist, dieselbe Erdrückung der
da0 s1e _etwas Hervorragendes ist, und daß sie sich Wunschmaschinen. Was die Psychoanalyse Auflösung
se_It Begmn zum Schlechten gewendet hat. Die ideali- oder Untergang des Ödipuskomplexes nennt, ist ganz
stisch~. We_nde beste?t von Anfang an. Das ist nicht wi- und gar komisch, es ist genau die Oper~til:!?- _der end-
derspruchlich: herrhebe Blumen, und dennoch verfault losen Schuld, die unendliche Analyse, die Odlpusseu-
v~n A_nfang an. Idealismus der PsychOanalyse nennen che ihre Übertragung vom Vater auf die Kinder. Es
Wir e:m ga~zes s.ystem von Wieder-Beschränkungen, ist 'verrückt daß man Dummheiten hat sagen können
v?n H:du~tw.~en m der analytischen Theorie und Pra- im Namen ;on Ödipus und vor allem über das Kind.
XIs: Emschrankung der Wunschproduktion auf ein Sy-
stem sogenannter unbewußter Repräsentationen und auf Eine materialistische Psychiatrie ist diejenige, die
entsprechende Arten der Verursachung des Ausdrucks die Produktion in den Wunsch einführt, und umgekehrt
oder des Begriffsvermögens. Einschrä:UCUng der Fabri- den Wunsch in die Produktion. Das Delirium beruht
ken des U~bewußten auf eine Theaterszene Ödipus weder auf dem Vater noch auf dem Namen des Vaters,
Hamlet; E~n~chränkung der gesellschaftlichen Be:Set~un­ es beruht auf den Namen der Geschichte. Es ist wie
gen ~er Libido auf familiale Besetzungen, erneute Be- die Immanenz der Wunschmaschinen in den großen ge-
schran~ng dt;:s . Wunsch~s auf familiale Koordinaten, sellschaftlichen l\faschinen. Es ist die Besetzung des
noch ernmal Od~pus. Wir wollen nicht sagen, daß die historischen gesellschaftlichen Feldes durch die Wunsch-
Psychoanalys_e Odipus erfindet. Sie antwortet auf die maschinen. Was die Psychoanalyse von der Psy<:~ose
N~chfrage, d1e Leute kom~en mit ihrem Ödipus an. begriffen hat, ist die 11 Paranoia 11 ~Linie, die z.'! Odipus
l>Ie Psych"":!"'iYSe erhebt .Odipus ledig: lieh ins Quadrat, führt zur Kastration usw. , all drese Unterdruckungs-
Odipus der Ubertragung, Odipus von Ödipus auf der appa;ate, die dem Unbewußten injizie_rt. werden: ~~er .
Couch als ~!eine ~chmutzige Welt. Aber ob familial der schizophrene Untergrund des Dehrmms, die Schi-
od~r analytisch, Odipus ist grundsätzlich ein Unter- zophrenie11- Linie, die E!in nicht-familiales Must~r ent-
drucku~gsapparat ~uf den Wunschmaschinen und keines- wirft, entgeht ihr. völlig. Foucault sagte_, daß die Psy-
wegs. em~ Formation ~es Unbewußten selbSt. Wir wol- choanalyse taub geblieben ist für die Sbmme des Wa~­
len mcht sagen, daß Odipus oder sein Äquivalent mit sinns. Tatsächlich neurotisiert sie alles; und durch die-
d~~ betra~hteten gesellschaftlichen Formen variiert. Wir se Neurotisierung trägt sie nicht nur dazu bei, den Neu-
wurd_en VIelm~hr m_it den S~ukturalisten glauben, daß rotiker für die unendliche Kur zu produzieren, sie trägt
er eme Invarmute Ist. Aber es ist die fuvariante ei- auch dazu bei den Psychotiker als denjenigen zu re-
ner. Dreh~ng ..d~r Kräfte -des Unbewußten. Deswegen produzieren der sich der Ödipalisierung widersetzt.
greife~ w_Ir O~Ipus a_n, nicht ini Namen vOn Gesellschaf- Aber ein di~ekter Zugang zur Schizophrenie fehlt ihr
t:n,. die_ Ihn -~Icht mit sich bringen, sondern in jener, völlig. Nicht weniger fehlt ihr die unbe~ßte Natur der
dl€ Ihn Im hqchsten Grade mit sich bringt, in unserer, Sexualität: cJ_urch Idealismus, durch famllmlen und thea-
54 55
tralischen Idealismus.
ideal für die gezielte Anwendung auf Grup~en und auf
FRAGE: Ihr Buch hat einen psychiatrischen und psy- militante Gruppen, weil man dort am unmlttelb~rsten
choanalytischen Aspekt, aber auch einen politschen über ein außerfamiliales Material verfügt, und die :Pra-
und ökonomischen. Wie verstehen Sie aus Ihrer Sicht xis manchmal gegensätzlich zu den Besetzungen er-
die Einheit dieser beiden Aspekte? Nehmen Sie in scheint. Die Schizoanalyse ist eine militante Analyse,.
gewisser Weise den Versuch von Reich wieder auf? ökonomisch-libidinös, politisch-libidinös. Wenn ~Ir die
Sie sprechen von faschistischen Besetzungen, sowohl zwei Typen der gesellschaftlichen Besetzunge? em~nder
auf der Ebene des Wunsches als auch auf der des ge- gegenüber stellen, stellen wir nicht ~e~. Wuns~h als
sellschaftlichen Feldes. Dort gibt es wohl etwas was romantisches Luxusphänomen den rem o~onomische.n
gleichzeitig die Politik und die Psychoanalyse b~trifft. und politischen Interessen geg~nüber. Wir glauben Im
Aber man sieht kaum, was Sie den faschistischen Be- Gegenteil daß die Interessen Immer dort gefunden
setzungen gegenüberzustellen versuchen. Was arbeitet und eing~richtet werden 1 wo der Wunsch ihre? Plat.z
dem Faschismus entgegen? Die Frage betrifft also vorbestimmt hat. Auch gibt es keine Revolution,. die
nicht .nur die Einheit dieses Buches, sondern auch die den Interessen der unterdrückten Klassen entspricht,
praktischen Konsequenzen: und sie sind ungeheuer wich- wenn der Wunsch nicht selbst eine revolutionäre. stel-
ti.g, weil, ~enn die 11faschistischen .Besetzungen n durch lunk einge-ti.ommen hat, die auch für die Formahonen
mchts verhmdert werden, durch keine :Macht in Schran- des UnbeWußten ausschlaggebend ist. Denn de~ ~uns~h
ken gehalten werden, wenn man ihre Existenz einfach ist in jeder Hinsicht an der Infrastruk.tur be.tei~Igt. (wir
n.u: k o n s tat i er e n kann, was bedeutet dann ihre po- glauben überhaupt nicht an Begrüfe Wie denJemgen der
lihsche Reflexion, und welche Intervention in der Wirk- Ideologie, der den Problemen sehr schl~cht gerecht .
lichkeit stellen Sie sich vor? wird: es gibt keine Ideologien). Das, was an~aue~nd d1e
revolutionären Apparate bedroht, ist der puntan.1sche
FELIX GUATTARI: Ja, wie viele andere kündigen wir Begriff den man sich von Interessen macht. Dies~
die Entwicklung eines verallgemeinerten Faschismus an. werden' niemals anders realisiert, als zugun~ten emer
:Man hat noch nichts gesehen, was gegen die Entwick- Fraktion der unterdrückten Klasse, so daß dieSe Fr~k­
lung des Faschismus spricht: Oder vielmehr: entweder tion wieder eine perfekt unterdrückende Kaste und Hier-
bildet sich eine revolutionäre Maschine, fähig, den archie liefert. Je mehr man in einer Hierarchie auf-
Wunsch und die Phänomene des Wunsches in Dienst zu Steigt sogar in einer pseudo-revolutionär_~~' desto. we-
nehmen, oder der Wunsch bleibt durch die beklemmen- niger 'wunschausdruck ist möglich, {dagegen ersc~emt
den, unterdrückenden Kräfte maniPuliert, und bedroht er in den Basisorganisationen, wenn auch deformiert).
die revolutionären l\.1aschinen sogar von innen. Wir un- Diesem Faschismus der Macht stell.en ~ir ak~iv.e und
terscheiden zwei Arten der Besetzung des gesellschaft- positive Fluchtlinien gegenüber, ~ell}1ese Lmien: z'?m
lichen Feldes: die vorbewußten Besetzungen des Inte- Wunsch führen, zu Wunschmaschmen und zur ?rgam-
r~sses und die unbewußten Besetzungen des Wunsches. sation eines gesellschaftlichen Wunschfeldes: m.cht sel-
Die Besetzungen des Interesses können wirklich revo- ber oder "persönlich 11 fliehen, sondern ~um Fheh~n
lutionär sein und dennoch unbewußte Besetzungen des bringen, wie man einen Schlauch oder emen Absz~ß
~unsches fortbestehen lassen, die nicht revolutionär aufsticht. Ströme durchgehen las~e.n unter de~ ges,ell-
smd oder die sogar faschistisch sind. In gewissem Sin- schaftlichen Codes, die sie kanahs1eren, abdamm~n
ne wäre das, was wir als Schizoanalyse vorschlagen, wollen. Es gibt keine Position des Wunsch~.s gege~- .
56 über der Unterdrückung, wie lokal, beschrankt und wm-
'57
zig diese Position auch sein ,mag, die mcht allmählich
immer mehr das ganze kapitalistische System infrage
stellt und die nicht dazu beiträgt, es in die Flucht zu
schlagen. Wir lehnen alle die Fragestellungen ab, die
auf dem Gegensatz Mensch/:Maschine, Mensch, entfrem-
r d~m
lls haftliehen Feld aber nicht weniger tragend
gese. c Noch einmal das Delirium: man hat uns
smd als Jene.. . als einen Schizophrenen gesehen
gefragt, ob Wir_ Jtm d'e Psychoanalytiker zu fragen,
hätten; an uns I~ es, ..I hört haben. Man deliriert
det durch die Maschine usw., beruhen. Seit der Bewe- ob sie jemals em Dehrmm ge anne d' Are und
gung des :Mai hat die :Macht, unterstützt durch die lin-
ken Pseudo-Organisationen, versucht, glauben zu ma-
chen, daß es sich um allzu verwöhnte junge Leute han-
delte, die gegen die Konsumgesellschaft ankämpften,
während die richtigen Arbeiter sehr wohl wußten, wo
I über die Chinesen, dAie _Deutsdchde~~ J:den das Geld,
G ß ogul die rier un
den ro m ' . duld'
'
über Papa-Mama uber-
die Macht und die ~r~ h:onder berühmte Familien-
haupt nicht. Oder VI~. mie ;on den utibewußten gesell:-
..

roman hängt zwangsläuf gb d'e im Delirium erscheinen,


ihre wahren Interessen lagen ... usw. Es hat niemals schaftliehen Besetzungen a ' I h zeigen. in wei-
einen Kampf gegeben gegen die Konsumgesellschaft, die- ht kehrt Wir versuc en zu '
und nie umge · uf ein Kind zutrifft. Wir schla-
Sinne ~as schon a o die sich der Psychoanaly-
ser blödsinnige Ausdruck. Unsere List ist, im Gegen-
chem
g en eine
teil, zu sagen, daß es überhaupt nicht genug Konsum Schizoanalyse v r' d. bei' den Punkte er-
gibt, niemals werden die Interessen. auf d~e Seite der t llt Man muß nur Ie
Revolution übertreten, wenn die Wunschlinien nicht bis sf e entge~~~~ ~ie. die Psychoanalyse stolpert: sie .
assen, . die Wunschmaschinen von Je-
kommt mcht da~u, an weil sie sich an ödipale Figu-
_zu dem Punkt reichen, wo Wunsch und. Maschine, Wunsch
Ußd List nur eins sind, bis zu dem Punkt, wo sie. sich mand heranzureichen,.. . . ommt nicht zu den ge-
z. B. gegen die sogenannten natürlichen Gegebenheiten ren oder Strukturen halt, Sied k Libido weil sie sich
der kapitalistischen Gesellschaft wenden. Also ist dieser sellschaftlichen Besetzunge~ erD sieht man gut in
Punkt gleiChzeitig am leichtesten zu erreichen, weil er an familiale Besetzungen halt. l as . v i t r o von Prä-
zum Winzigsten Wunsch gehört, aber auch am schwer- d~r exempl3.rischen Psyc:oi~::e~~i~~t) ist das, w~s die
sten, weil er alle Besetzungen des Unbewußten in An-
spruch nimmt. Sldent Schreber .. Wa~ un ·ert· was ist das, deme
Psychoanalys: mc~t mte~:ts~as . deine Art, das gesell-
Wunschmaschmen · was_ . e en?' Die Einheit unseres
schaftlic_he Feld ~~ ~!~~r:nglichkeiten der Psychoana-
GILLES DE LEUZE: In diesem Sinn stellt sich das Pro-
cheinf'n mit ihrer tiefen Zug~­
blem der Einheit dieses Buches nicht. Es gibt wohl zwei
Buches Ist, daß I€
Aspekte: der erste ist eine Kritik an Ödipus und an der ,lyse uns verbund~n ~rs_ sellschaft ebenso mit
hörigkeit zur kapltahshsc:.en ~enen Unte~grundes. Die
Psychoanalyse; der zweite ist eine Studie über den Ka-
pitalismus und seirle Beziehungen zur Schizophrenie. ihrer Verleugm:ng d~s sc IZOp italismus: sie hat wohl
Folglich hängt der erste Aspekt zwangsläufig vom zwei- Psychoanalyse I_st Wie der Kap aber sie hört nicht auf,
aLsh.Ie~r~nz~nd glei~hzeitig versucht
ten ab. Wir greifen die Psychoanalyse an in folgenden
Punkten, die ihre Praxis nicht weniger betreffen als die
die Schizophreme
Grenze zu versc e ,
ihre Theorie: ihr Ödipuskult, ihre Reduktion der Li- sie, sie zu beschwören.
bido auf familiale Besetzungen, sogar in den indirek-
ten und verallgemeinerten Formen des Strukturalismus FRAGE· Ihr Buch ist vol~ von Bezugen,
.. von '. inb ihrem
s
. . ·t.. b utzten Texten, a er e
und des Symbolismus. Wir sagen, daß die Libido nach Sinn oder Gegensm~, WI z~g ~~ auf dem Boden einer
unbewußten Besetzungen verfährt, die zwar von den vor- ist auf alle Fälle em Buc ' h . ßt Sie legen der
bewußten Besetzungen des Interesses verschieden, auf bestimmten ~~Kulturll steht. J?asun%Id~r Linguistik we:..
58 Ethnologie viel Bedeutung bel, 59
nig; viel Bedeutung gewissen englischen und amerika- interessiert 1 ist, wie eine Sache läuft, funktioniert,"
nischen Romanciers, aber kaum den zeigenössischen welche Maschine. Also ist der Signüikant immer noch
Schrifttheorien. Warum greifen Sie besonders den Be- aus dem Bereich der Frage 11 was bedeutet das? 11 , in-
griff des Signifikanten an, und mit welchen Begrün- sofern ist diese Frage selbst versperrt. Aber für uns
dungen lehnen Sie das System ab? will das Unbewußte nichts sagen, die Sprache auch nicht
mehr. Was den Mißerfolg des Funktionalismus erklärt,
FELIX GUATTARI: Mit dem Signifikanten hat man ist, daß man versucht hat, ihn in Bereiche einzufUh-
nichts zu tun. Wir sind weder· die einzigen noch die ren, die nicht die seinigen sind,; in große strukturier-
ersten: z. B. Foucault oder das neueste Buch von Lyo- te Komplexe, die sich seitdem nicht formen köMen,
tard. Wenn wir unklar sind in unserer Kritik am Sig- geformt werden können so, wie sie funktionieren. Da-
nifikanten, dann liegt das daran, daß er eine diffuse gegen ist der Funktionalismus König in der Welt der
Entität ist, die alles von einer veralteten Schriftma- Mikro-Vielbei ten, der Mikro-Maschinen, der Wunsch-
schine abzieht. -Der ausschließliche und erzwungene maschinen, der molekularen Formationen. Auf dieser
Gegensatz zwischen Signifikant und Signifikat kommt Ebene gibt es keine als dies oder jenes geeigneten Ma-
nicht zur Ruhe durch den Imperialismus des Signifi- schinen, z. B. eine linguistische Maschine. Es gibt lin-
kanten, so wie er mit der Schriftmaschine auftaucht. gttistische Elemente mit anderen Elementen in jeglicher
Alles bezieht sich dann mit Recht auf den -Buchstaben. Maschine. Das Unbewußte ist ein Mikro-Unbewußtes,
Das ist sogar das Gesetz der despotischen Übercodie- es ist molekular, die Schizoanalyse ist eine Mikro-Ana-
rung. Hier unsere Hypothese: es ist das Zeichen des lyse. Die einzige Frage ist, wie funktioniert das mit
großen Despoten (das Zeitalter der Schrift) 1 das, in- Intensitäten, Strömen, Prozessen, Partialobjekten, lau-
dem es sich zurückzieht, ein Feld z\_lrückläßt, das in ter Dingen, die nichts bedeuten.
minimale Elemente und in geregelte Beziehungen zwi-
schen diesen Elementen zerlegbar ist. Diese Hypothe- GILLES DELEUZE: Wir glauben dasselbe von unserem
se wird wenigstens dem tyrannischen, terroristischen, Buch. Es handelt sich darum, zu wissen, ob es funk-
kastrierenden Charakter des Signifikanten gerecht. Das tioniert, und wie, und für wen. Es ist selbst eine Ma-
ist ein enormer Archaismus, der auf die großen Im- schine. Man muß es nicht noch einmal lesen, sondern
perien verweist. Wir sind nicht sicher, daß der Signi- etwas anderes machen. Es ist ein Buch, das wir mit
fikant selbst für die Sprache funktioniert. Aus diesem Freude gemacht haben. Wir wenden uns nicht an jene,
Grunde haben wir uns auf die Seite von Hjelmslev ge- die finden, daß es der Psychoanalyse gut geht und daß
schlagen: es ist schon lange her, daß er eine Art von ihre Ansicht vom Unbewußten richtig ist. Wir wenden
spinozistischer Theorie der Sprache gemacht hat, in uns an jene, die finden, daß Ödipus, die Kastration,
der die Ströme des Inhaltes und des Ausdrucks auf den der Todestrieb usw. . . . monoton, trübselig und ein
Signifikanten verzichten: die Sprache als System konti- Röcheln sind. Wir wenden uns an protestierende Unbe-
nuierlicher Strö'me ·von Inhalt und Ausdruck, zerschnit- wußte. Wir suchen Verbündete. Wir haben Verbündete
ten durch maschinelle Verkettungen in diskreter und nötig. Und wir haben den Eindruck, daß diese Verbün-
diskontinuierlicher Form. Was wir in diesem Buch deten schon da sind, daß sie nicht auf uns gewartet ha-
nicht entwickelt ·haben, ist eine Konzeption der kollek- ben, daß es viele Leute gibt, die genug davon haben,
tiven AussageagEmten, die über den Einschnitt zwischen die in ähnlichen Richtungen denken, fühlen und arbei-
Subjekt des Aussagans und Subjekt der Aussage hinaus- ten: nicht die Frage der Mode, sondern einer viel tie-
gehen würde. Wir sind reine Funktionalisten: was uns feren 11 Zeitströmung'', wo übereinstimmende Forschun-
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gen sich in sehr verschiedenen Bereichen ereignen, der List: der Schizo ist jemand, der decodiert, deter-
z. B. in der Ethnologie, in der Psychiatrie. Oder was ritorialisiert ·ist. Das heißt, man ist nicht verantwort-
Foucault macht: wir haben nicht dieselbe Methode, aber lich flir Sinnwidrigkeiten. Es gibt immer Leute, die
wir haben den Eindruck, daß wir ihn an allen mög- die Sinnwidrigkeiten zum Ausdruck bringen (siehe die
lichen Punkten wiedertreffen, die uns wesentlich er- Angriffe gegen Laing und die Antipsychiatrie). Kürzlich
scheinen, auf Wegen, die er zuerst vorgezeichnet hat. ist im 11 Nouvel Observateur 11 ein Artikel erschienen,
Ja, es stimmt, Wir haben viel gelesen. Aber das ein in dem der Autor, ein Psychiater, sagte: ich bin sehr
bißeben ins Blaue hinein. Unser Problem ist gewiß mutig, ich brandmarke die modernen Strömungen der
nicht das einer Rückkehr zu Freud oder einer Rück- Psychiatrie und der Antipsychiatrie. Nichts von alle-
kehr zu Ma.rx. Es ist keine Lektüre-Theorie. Was wir dem. Er wählte gerrau den Moment, wo die !!politische
in einem Buch suchen, ist die Art, wie es etwas durch- Reaktion' 1 sich stark machte gegen jeden Versuch, et-
gehen läßt, was den Codes entkommt: Ströme, aktive was zu verändern, was es auch sei, in der psychia-
revolutionäre Fluchtlinien, Linien der absoluten Deco- trischen Klinik und in der Arzneimittelindustrie. Es
dierung, die siCh der Kultur widersetzen. Sogar für die gibt immer eine Politik hinter den Sinnwidrigkeiten.
Bücher gibt es ödipale Strukturen, umso tückischere Wir stellen das sehr einfache Problem auf, ähnlich
ödipale Codes und Ligaturen 1 als sie abstrakt, nonfigu- dem, das Burroughs hinsichtlich der Drogen hat: kann
rativ sind. Was wir bei den großen englischen oder man die Macht der Drogen fassen) ohne Drogen zu ge-
amerikanischen Romanciers finden, ist die Gabe, die brauchen, ohne sich wie ein drogensüchtiger Lappen
die Franzosen nur selten haben: die Intensitäten, die aufzufUhren? Mit der Schizophrenie ist es dasselbe.
Ströme, die Buch-Maschiren, die Gebrauchsbücher, die Wir unterscheiden die Schizophrenie als Prozeß von
Schizo-Bücher. Wir, wir haben Artaud und eine Hälfte der Produktion des Schizo aLs klinische Entität, die
von Beckett. Man wird unserem Buch vielleicht vorwer- für das Hospital geeignet ist: die beiden sind im Grun-
fen, es sei zu literarisch, aber wir sind sicher, daß de eher entgegengesetzt. Der Schizo des HospitaLs ist
dieser Vorwurf von Literaturprofessoren kommen wird. jemand, der etwas versucht und der dran gescheitert
Ist es unser Fehler, daß Lawrence, Miller, Kerouac, ist, der zusammengebrochen ist. Wir sagen nicht, daß
Burroughs, Artaud oder Beckett mehr über die Schizo- der Revolutionär Schizo ist. Wir sagen, daß es einen
phrenie wissen als die Psychiater und die Psychoanaly- Schizo-Prozeß der Decodierung und Deterritorialisie-
tiker? rung gibt, und nur die revolutionäre Aktivität verhin-
dert es, daß er in Produktion von Schizophrenie um-
FRAGE: Riskieren Sie nicht einen schwereren Vorwurf? schlägt. Wir stellen ein Problem, das die enge Be-
Die Schizoanalyse, die sie vorschlagen, ist tatsächlich ziehung zwischen Kapitalismus und Psychoarialyse auf
eine Desanalyse. Man wird Ihnen vielleicht sagen, daß der einen Seite, zwischen den revolutionären Bewe-
Sie die Schizophrenie auf eine romantische und unver- gungen und der Schizoanalyse auf der anderen Seite
antwortliche Weise aufwerten. Und sogar, daß Sie die betrifft. Kapitalistische Paranoia und revolutionäre
Tendenz haben, den Revolutionär mit dem Schizo zu Schizophrenie; wir können so sprechen, weil wir nicht
verwechseln. Welches wäre Ihre Haltung mit Bezug auf Von einem psychiatrischen Sinn dieser Worte ausge-
diese eventuellen Kritikpunkte? hen, im Gegenteil, wir gehen von ihren gesellschaft-
lichen und politischen Bestimmungen aus, von denen
- Ja, eine Schule der Schizophrenie, das wäre nicht allein, unter gewissen Bedingungen, ihre psychiatri-
schlecht. Die Ströme befreien, immer weitergehen in sche Verwendung herrührt. Die Schizoanalyse hat nur
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einen Zweck, nämlich, daß die revolutionäre- Maschine,
die künstlerische Maschine, die analytische :NJ.aschine
Teile und R.äderwerke voneinander werden. Noch ein-
mal, wenn man das Delirium betrachtet, so scheint es
uns zwei Pole zu haben: einen paranoischen faschisti-
schen Pol und einen schizo-revolutionären Pol. Zwi-
schen diesen Polen oszilliert es unaufhörlich. Das ist
es, was uns interessiert: die revolutionäre Spaltung im
Gegensatz zum despotischen Signifikanten. Jedenfalls
ist es nicht der Mühe wert, im Voraus gegen die Wi-
dersinnigkeiten zu protestieren, man kann sie nicht vor-
aussehen, ebensowenig sie bekämpfen, wenn sie ein-
mal da sind. Es ist wichtiger, andere Dinge zu tun,
mit denen zu arbeiten, die in dieselbe Richtung gehen.
Was das Verantwortlich- oder Nichtverantwortlichsein
betrüft, wir kennen diese AusdrUcke nicht, es sind
Ausdrücke der Polizei oder der Gerichtspsrchiatrie.

Zu den Autoren

G i ll es D e 1 e uze ist Professor der Philosophie an


der Universität Paris-Vincennes.
Veröffentlichungen:
Empirisme et subjectivite, P. U. F. ,1953
Nietzache et la philosophie, P. U. F., 1962 (dt.: Nietz-
ache und die Philosophie, München 1976)
La philosophie critique de Kant, P. U. F., 1963
Marcel Proust et les signes, P. U. F., 1964
Le Bergsonisme, P.U.F.,1966
Presentation de Sacher-Masoch, Ed. de Minuit, 1967
(dt. in: L.v.Sacher-Masoch, Die Venus im Pelz,
Frankfurt/M. 1968)
Dilll!rence et repetition, P. U. F. ,196\}.--
Spinoza et le problt!me de 1' expression, Ed. de Minuit 1969
Logique du sens, Ed. de Minuit, 1969
Proust et les signes, erweiterte Neuaufl. P. U. F. , 1970

F e l i x G u a t t a r i , Schüler von Jacques Lacan, arbeitet


seit 1953 als Psychoanalytiker in der Klinik La Borde in
Cour-Cheverny und war lange in der kommunistischen Links-
opposition aktiv.
Veröffentlichung:
Psychanalyse et transversalit~, Maspero,, 1972 (dt. auszugsweise
in: Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institutionel-
len Analyse, Frankfurt/M. 1976)

Veröffentlichungen von G. DeI euz e/F. G ua t tar i:


Capitalisme et Schizophrenie, tome I, L' Anti-Ödipe, Ed. de
Minui~, 1972 (dt. Kapitalismus und Schizophrenie, Band I,
Anti-Odipus, Frankfurt/M. 1974)
Kafka. Pour une littl!rature mineure, Ed. de Minuit 1975 (dt.
Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt/M. 1976)

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