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NEVES, Marcelo. Grenzen Der Autonomie Des Rechts in Einer Asymmetrischen Weltgesellschaft - Von Luhmann Zu Kelsen
NEVES, Marcelo. Grenzen Der Autonomie Des Rechts in Einer Asymmetrischen Weltgesellschaft - Von Luhmann Zu Kelsen
NEVES, Marcelo. Grenzen Der Autonomie Des Rechts in Einer Asymmetrischen Weltgesellschaft - Von Luhmann Zu Kelsen
Luhmann zu Kelsen
Author(s): Marcelo Neves
Source: ARSP: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie / Archives for Philosophy of Law
and Social Philosophy, Vol. 93, No. 3 (2007), pp. 363-395
Published by: Franz Steiner Verlag
Stable URL: http://www.jstor.org/stable/23680855
Accessed: 22-03-2017 13:55 UTC
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für Rechts- und Sozialphilosophie / Archives for Philosophy of Law and Social
Philosophy
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Marcelo Neves, Säo Paulo
Abstract: This article sets out to move from questioning the autonomy of law from the
external Standpoint of sociology to problematizing it from the internal legal Standpoint. The
first step is an analysis of the Kelsenian theoretical model of the hierarchically structured
self-production of law, taking into considération the concept of reason for the validity of a norm
and of a legal order, as well as the role of efficacy as a condition for validity. The second is a
présentation of Luhmann's conception of autopoiesis of the legal system, and in particular
the function of the Constitution in the operative closure of law. Based on this exposition,
the discussion then focuses on the limits of both conceptions, but in reverse order: first
questioning the possibility of transporting the concept of autopoiesis to the différent condi
tions for reproduction of law in contemporary world society, and then raising objections to
the adequacy of the concept of hierarchically structured self-production of law to the many
différent legal orders in today's world. The conclusion drawn from these critical observations
is the argument that the Luhmannian sociological theory of the operative self-reference of
the legal system and the Kelsenian legal theory of the self-produced step-structure of law
are applicable only to legal Systems minimally grounded in the rule of law.
I.
Alle Versuche der Annäherung von Luhmanns Systemtheorie des Rechts an Kelsens
Reine Rechtslehre erweisen sich mindestens im Prinzip als problematisch. Führt man
den soziologischen Begriff der Autopoiesis des Rechts ohne weiteres auf das Konzept
der Selbsterzeugung des Rechts zurück,1 so wird der radikale Unterschied zwischen
den theoretischen Grundlagen der beiden Begriffsmodelle übersehen: Während Kel
sen von der vorgestellten Grundnorm, auf der die Einheit des Stufenbaus des Rechts
beruhe, ausgeht, bezieht sich Luhmann auf die Einheit des Rechtskreislaufs stiftende
innergesellschaftliche Differenz von Recht und Unrecht. Nimmt man dennoch an, dass
die Grundnorm sich aus einer systemtheoretischen Perspektive als „Beobachtung
Diesen Aufsatz habe ich im Rahmen zweier Forschungsaufenthalte an der Johann Wolf
gang Goethe Universität in Frankfurt am Main und Leopold Franzen Universität in Ham
burg in den Monaten Juni/Juli 2004 und Januar/Februar 2005 ausgearbeitet. Er bildet die
überarbeitete Fassung des Vortrags, den ich anlässlich der internationalen Konferenz
„Recht, Staat und Internationale Gemeinschaft bei Hans Kelsen" vom 1 .-3. Juli 2004 an der
Universität Flensburg gehalten habe. Meinen wissenschaftlichen Gastgebern in Frankfurt
am Main, Gunther Teubner, und in Hamburg, Karl-Heinz Ladeur, bleibe ich sehr verbunden.
Hauke Brunkhorst, Mathias Jestaedt, Ulrich Thiele, Fatima Bajiji-Kastner, Andräs Jakab,
Oliver Eberl und Franz von Weber bin ich für kritische Hinweise sehr dankbar. Der Alexan
der von Humboldt-Stiftung danke ich für die institutionelle und finanzielle Unterstützung.
François Ost, Entre ordre et désordre: le jeu du droit. Discussion du paradigme autopoïé
tique appliqué au droit, in: Archives de Philosophie du Droite (1986), 133-62, insbes.
141-44.
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364 Marcelo Neves
zweiter Ordnung"
Schwierigkeit, ein
auf eine Ebene de
der Gesellschaft z
sich bereits auf di
theoretischen Sin
Rechtslehre erhob
systems nicht auf
men der moderne
als rechtswissens
ausklammert.
Dieser Beitrag versucht nicht, Kelsens Reine Rechtslehre und Luhmanns Sys
temtheorie des Rechts auf diese Weise anzunähern, geschweige denn will er eine
Zurückführung der letzteren auf erstere unternehmen.4 Auch ist es nicht das Ziel, einen
gemeinsamen Nenner bzw. eine Synthese der beiden Theoriemodelle aufzuzeigen.
Dagegen werden hier die begrifflichen Unterschiede dieser beiden Auffassungen der
Eigengesetzlichkeit des Rechts anerkannt und auf ihre jeweilige theoretische Bedeutung
und praktische Relevanz für das Verständnis des Rechts in der heutigen, asymmet
rischen Weltgesellschaft hinterfragt. Dabei gilt das Interesse der Frage, ob die Modelle
der Autonomie des Rechts, die von Kelsen und Luhmann konstruiert wurden, auf die
normativen Strukturen bzw. die kommunikativen Operationen des gegenwärtigen Rechts
eine theoretisch befriedigende Antwort geben können. Betont werden soll, dass es sich
um eine „rechtswissenschaftliche" und eine rechtssoziologische Begriffskonstruktion der
Autonomie des Rechts handelt, die unter dem systemtheoretischen Gesichtspunkt auf
die Unterscheidung von Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung zurückgehen.5 In
diesem Zusammenhang beanspruche ich, von einer bereits früher von mir unternom
menen Infragestellung der Autonomie des Rechtssystems aus einer soziologischen,
fremdbeobachtenden Perspektive6 zu einer „rechtswissenschaftlichen", „selbstbeob
achtenden" Problematisierung der Eigengesetzlichkeit des Rechts überzugehen.
Im Folgenden werde ich zuerst auf die Analyse der auf dem Stufenbau der Rechts
ordnung beruhenden Selbsterzeugung des Rechts nach Kelsens Theoriemustereinge
Michael Pawlik, Die Lehre von der Grundnorm als eine Theorie der Beobachtung zweiter
Ordnung, in: Rechtstheorie 25 (1994), 451-57.
Raffaele De Giorgi, Scienza del Diritto e Legittimazione: Critica dell'epistemologia giuridica
tedesca da Kelsen a Luhmann, Lecce 1998, S. 83 f.
Aus anderer Perspektive hat auch Horst Dreier, Hans Kelsen und Nikias Luhmann: Po
sitivität des Rechts aus rechtswissenschaftlicher und systemtheoretischer Perspektive,
in: Rechtstheorie 14 [1983], 419-458, 457, betont, dass bei allen „Konvergenzen in der
Problemanalyse" „die aufgedeckten Parallelen und Ähnlichkeiten in der Einschätzung der
Voraussetzungen, Funktionen und Folgen der Positivierung des Rechts weder in Kelsen
einen bislang unentdeckten Vorläufer hochaggregierter Systemtheorie zu erkennen erlau
ben noch Luhmann zu einem Adepten der Reinen Rechtslehre avancieren lassen."
Das gilt nicht für das Selbstverständnis der Reinen Rechtslehre, nach dem die „Rechts
wissenschaft" außerhalb des positiven Rechts steht, also sie beschreibt dieses mit Wahr
heitsanspruch, ohne Teil desselben zu sein (vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl.,
Wien 1960, 72 ff.; ders., General Theory of Law and State, Cambridge [MA] 1946, 63 f.).
Marcelo Neves, Verfassung und Posltivität des Rechts in der peripheren Moderne: Eine
theoretische Betrachtung und eine Interpretation des Falls Brasilien, Berlin 1992; ders.,
Symbolische Konstitutionalisierung, Berlin 1998, 107 ff.; ders., Zwischen Subintegration
und Überintegration: Bürgerrechte nicht ernstgenommen, in: Kritische Justiz 32 (1999),
557-77; ders., Grenzen der demokratischen Rechtsstaatlichkeit und des Föderalismus in
Brasilien, Fribourg-CH / Basel 2000; ders., Von der Autopoiesis zur Allopoiesis des Rechts,
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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 365
hen und dabei das Konzept des Geltungsgrundes einer Norm und einer Rechtsord
nung sowie die Rolle der Wirksamkeit als Bedingung ihrer Geltung berücksichtigen (II).
Zweitens wird die Auffassung der Autopoiese des Rechts Systems im Luhmannschen
Theoriemodell dargestellt und in diesem Zusammenhang die Funktion der Staats
verfassung für die operative Geschlossenheit des Rechtssystems betont (III). Auf
der Basis dieser Ausführungen werde ich die Grenzen der beiden Auffassungen der
Autonomie in den Mittelpunkt stellen, aber in umgekehrter Reihenfolge: Ausgehend
von der kritischen Infragestellung der Übertragbarkeit des Begriffs der Autopoiesis
auf die verschiedenen Situationen der Reproduktion des Rechts in der (modernen)
Weltgesellschaft (IV) soll versucht werden, Vorbehalte gegen die Angemessenheit des
Konzepts der auf dem Stufenbau der Rechtsordnung beruhenden Selbsterzeugung
des Recht für die Beschreibung zahlreicher Rechtsordnungen der heutigen Weltge
sellschaft vorzubringen (V). Diesen kritischen Beobachtungen entsprechend wird im
Schluss die These aufgestellt, dass Luhmanns soziologische Theorie der operativen
Selbstreferenz des Rechtssystems und Kelsens Lehre der in dem Stufenbau der
Rechtsordnung verankerten, normativ-strukturellen Selbsterzeugung des Rechts nur
auf Rechtssysteme adäquat anwendbar sind, die auf (wenigstens minimaler) Rechts
staatlichkeit oder - allgemeiner - auf rule of law beruhen.
Ausgangspunkt der Reinen Rechtslehre ist die auf Immanuel Kants Philosophie zu
rückgehende Unterscheidung von Sein und Sollen.7 Kelsen „entnaturrechtlicht" bzw.
"positiviert" sozusagen den Dualismus von Sein und Sollen. Sollen und Sein fungieren
auf verschiedenen Ebenen im Rahmen von Kelsens Theoriegebäude. Grundsätzlich
sind sie „allgemeinste Denkbestimmung"8 oder „fundamentale Denkmodi".9 In diesem
Sinne laufen Sein und Sollen auf die Erkenntnis- bzw. Wissenschaftskategorien - oder
in Kelsens Worten - „Ordnungsprinzipien" der Zurechnung und der Kausalität hinaus.10
in: Rechtstheorie 34 (2003), 245-68; ders., Vom Rechtspluralismus zum sozialen Durchein
ander: Der Mangel an Identität der Rechtssphäre(n) in der peripheren Moderne und seine
Implikationen in Lateinamerika, in: Hauke Brunkhorst / Wenzel Matiaske (Hg.): Zentrum
und Peripherie, Mering 2004, 165-194.
7 Vgl. Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, Wien 1979, 62 ff.; Horst Dreier, Rechts
lehre, Staatsoziologie und Demokratietheorie bei Kelsen, Baden-Baden 1986, 56 ff.; Felix
Kaufmann, Kant und die Reine Rechtslehre, in: Rudolf Aladár Métall (Hg.), 33 Beiträge zur
Reinen Rechtslehre, Wien 1974 [1924], 141-51.
8 Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechts
satze, Tübingen 1923, 7.
9 Stanley L. Paulson, Neumanns Kelsen, in: Mattias Iser / David Strecker (Hg.), Kritische
Theorie der Politik: Franz L. Neumann - eine Bilanz, Baden-Baden 2002,107-28,117. Vgl.
Kelsen (Fn. 7), 44 ff.
10 Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), insbes. 79 ff.; ders., Allgemeine Staatslehre, Berlin
1925, 48 ff.; ders. (Fn. 8), 57 ff.; ders. (Fn. 7), 19 f.; Kausalität und Zurechung, in: Hans
Klecatsky / René Marcic / Herbert Schambeck (Hg.), Die Wiener rechtstheoretische Schu
le: Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkt, Alfred Verdross, Wien (u.a.) 1968 [1954], Bd.
1, 663-92; ders., Vergeltung und Kausalität, The Hague / Chicago 1941 - hier in Bezug
auf den Unterschied von („primitiver") Vergeltung (als besonderer Erscheinungsform der
Zurechnung) und („zivilisiertem") Kausalzusammenhang. Vgl. dazu Clemens Jabloner,
Bemerkungen zu Kelsens „Vergeltung und Kausalität", besonders zur Naturdeutung der
Primitiven, in: Werner Krawietz / Ernst Topitsch / Peter Koller, Ideologiekritik und Demokra
tietheorie bei Hans Kelsen (Rechtstheorie, Beiheft 4), Berlin 1982, 47-62.
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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 367
gen und Erlauben,18 sondern auch das Sollen des Rechtssatzes als beschreibende
Aussage über die Geltung und Bedeutung einer positiven Rechtsnorm19 vom Sollen
als grundlegende Erkenntniskategorie der Rechtswissenschaft unterschieden werden.
Auch die Soll-Sätze bzw. die Rechtssätze als beschreibende Aussagen setzen das
Sollen als fundamentale Denkbestimmung der Normwissenschaften und somit der
Rechtswissenschaft voraus, aber sie bilden kein erkenntnistheoretisches, aufbauen
des Ordnungsprinzip der Rechtswissenschaft (Zurechnungsprinzip), das nicht wahr
oder unwahr sein kann, sondern sind Aussagen innerhalb der Rechtswissenschaft,
die wahr oder unwahr sind. Zusammenfassend lassen sich bei Kelsen drei einander
voraussetzende, aber gleichzeitig klar zu unterscheidende Sinndimension bzw. Ebenen
des Sollens feststellen: das Sollen versus das Sein als die zwei Grundkategorien der
Erkenntnis (Zurechnungsprinzip und Kausalitätsprinzip): den Dualismus von Soll-Norm
und Seins-Tatsache; und schließlich den Unterschied von Soll-Norm oder Rechtsnorm
und Soll-Satz oder Rechtssatz.
Die Bestimmung der Geltung steht im Mittelpunkt der Reinen Rechtslehre. Haupt
sächlich geht Kelsen der Frage der Geltung im Rahmen der Rechtsdynamik nach20
und verknüpft diese Frage mit dem Thema des Stufenbaus der Rechtsordnung.21 Aber
bereits in den Ausführungen zum Normbegriff wird die Normgeltung entscheidend.22
Vgl. hierzu Kelsen, Reine Rechtlehre (Fn. 5), 15 f.; ders., Allgemeine Theorie der Normen
(Fn. 7), 76 ff.
„Daraus, daß der Rechtssatz etwas beschreibt, folgt aber nicht, daß das Beschriebene
eine Seintatsache ist. Denn nicht nur Seintatsachen, auch Soll-Normen können beschrie
ben werden" (Kelsen, Reine Rechtslehre [Fn. 5], 83).
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 196 ff.; ders., General Theory of Law and State (Fn. 5),
110 ff.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 228 ff.; ders., General Theory of Law and State (Fn. 5),
123 ff. Nach Kelsen selbst (Hauptprobleme der Staatsrechtslehre [Fn. 8], XV) gebührt Adolf
Merkl das Verdienst für die dynamische Betrachtungsweise und die Darstellung der stufen
weisen Konkretisierung der Rechtsordnung. Vgl. Adolf Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz:
Eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts [1918], in: Klecatsky/ Marcic/
Schambeck (Hg.) (Fn. 10), 1091-1113; ders., Prolegomena einer Theorie des rechtlichen
Stufenbaues, in: Alfred Verdross (Hg.), Gesellschaft, Staat und Recht: Untersuchungen zur
Reinen Rechtslehre - Festschrift Hans Kelsen zum 50. Geburtstage, Wien 1931, 252-94.
Dazu Robert Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung: Eine theoretische Untersuchung auf
der Grundlage der Reinen Rechtslehre, Graz 1964, 53 ff; Heinz Mayer, Die Theorie des
rechtlichen Stufenbaues, in: Robert Walter (Hg.), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre,
Wien 1992, 37-46; Bettina Stoitzner, Die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung, in:
Stanley L. Paulson / Robert Walter (Hg.), Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre: Ergeb
nisse eines Wiener Rechtstheoretischen Seminars 1985/1986 (Schriftenreihe des Hans
Kelsen-Instituts, Bd. 11), Wien 1986, 51-90; András Jakab, Probleme der Stufenbaulehre:
Das Scheitern des Ableitungsgedankens und die Aussichten der Reinen Rechtslehre, in:
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 91 (2005) 3,333-365; Stanley L. Paulson, On the
Origins of Hans Kelsen's Spätlehre, in: Dan Diner / Michael Stolleis (Hg.), Hans Kelsen and
Carl Schmitt: A Juxtaposition, Gerlingen 1999, 27-44, 37 f. Zur Auseinandersetzung mit
der Lehre vom Stufenbau siehe auch Theo Öhlinger, Der Stufenbau der Rechtsordnung:
Rechtstheoretische und ideologische Aspekte, Wien 1975; Werner Krawietz, Die Lehre
vom Stufenbau des Rechts - eine säkularisierte politische Theologie?, in: Werner Krawi
etz / Heimut Schelsky (Hg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen
(Rechtstheorie, Beiheft 5), Berlin 1984, 255-71; Andreas Trupp, Zur Kritik der Stufenbau
theorie und der wissenschaftstheoretischen Konzeption der Reinen Rechtslehre, ebd.,
299-317.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 9 ff.; ders., Allgemeine Theorie der Normen (Fn. 7),
ders.; General Theory ofLaw and State (Fn. 5), insbes. 30.
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368 Marcelo Neves
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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 369
Nach Kelsen bestimmt die Grundnorm einer staatlichen Rechtsordnung: „Zwang soll
geübt werden unter den Bedingungen und in der Weise, wie es im großen und ganzen
wirksamen Verfassung und den der Verfassung gemäß gesetzten, im großen und
ganzen wirksamen generellen und den wirksamen individuellen Normen bestimmt
wird."29 Darauf beruht der Stufenbau einer Rechtsordnung. In einer Staatsordnung
„stellt die Verfassung die positivrechtlich höchste Stufe dar".30 Die Verfassung ist der
unmittelbare Geltungsgrund der generellen Rechtsnormen, nämlich der Gesetze und
der nicht-verfassungsrechtlichen Gewohnheitsnormen. Sie bestimmt nicht nur, wie
durch Gesetzgebung und Gewohnheit allgemeine Rechtsnormen erzeugt werden
sondern auch gegebenenfalls, was partiell Inhalt dieser Normen sein soll.31 Aber in
modernen Staaten ist die auf der Verfassung beruhende Stufe der generellen Nor
men in zwei oder mehrere Stufen gegliedert und dabei spielt die Unterscheidung von
Gesetz und Verordnung eine entscheidende Rolle: Der unmittelbare Geltungsgrund
einer Verordnung kann in einem Gesetz (gesetzausführende Verordnung) oder in der
Verfassung (gesetzersetzende Verordnung) liegen.32 Endlich kommt man zur unteren
Stufe der Rechtserzeugung, nämlich zu den Verfahren der Produktion der individu
ellen Rechtsnormen, die in den typischen Formen der richterlichen Entscheidungen,
Rechtsgeschäfte und Verwaltungsakte durch die generellen Normen zumeist formell
und materiell vorausbestimmt sind.33 Nach diesem Modell des Stufenbaus der Rechts
ordnung sind also Rechtserzeugung und Rechtssetzung nicht zu trennen, sie bilden die
zwei Seiten derselben Medaille: „Es ist unzutreffend, zwischen rechtserzeugenden und
on als neukantianische Erkenntnistheorie des Rechts?, in: Paulson / Walter (Hg.) (Fn. 21),
210-31 ; Thomas Fritzsche, Die Reine Rechtslehre im Lichte des Kritischen Rationalismus
(Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 23), Wien 2002, 147 ff.; Pierre Hack, La
philosophie de Kelsen: Epistémologie de la Théorie pure du droit, Genf /Basel /München
2003, 138 ff.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 212. Vgl. sinngemäß ebd., 203 e 219; Daraus folgt die
Aussage: „Gemäß der Grundnorm einer staatlichen Rechtsordnung ist die effektive Re
gierung, die auf Grund einer wirksamen Verfassung wirksame generelle und individuelle
Normen setzt, die legitime Regierung des Staates" (ebd., 214).
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 228. Kelsen bezieht sich hier auf die Verfassung im
„materiellen Sinn, das heißt: mit diesem Worte wird die positive Norm oder die positiven
Normen verstanden, durch die die Erzeugung der generellen Rechtsnormen geregelt wird"
(ebd.). Von diesem Verfassungsbegriff unterscheidet sich der Begriff der Verfassung im for
mellen Sinn: „das ist ein als .Verfassung' bezeichnetes Dokument, das - als geschriebene
Verfassung - nicht nur Normen enthält, die die Erzeugung genereller Rechtsnormen, das
ist die Gesetzgebung regeln, sondern auch Normen, die sich auf andere, politisch wich
tige Gegenstände beziehen, und überdies Bestimmungen, deren zufolge die in diesem
Dokumente, dem Verfassungsgesetz, enthaltenen Normen nicht so wie einfache Gesetze,
sondern nur unter erschwerten Bedingungen in einem besonderen Verfahren aufgehoben
oder abgeändert werden können" (ebd., 228 f.). Aber in der Reinen Rechtslehre steht das
Konzept der Verfassung im materiellen Sinn im Vordergrund: „Diese Bestimmungen [der
Verfassung im formellen Sinn - MN) stellen die Verfassungsform dar, die [...] in erster Linie
der Stabilisierung der Normen dient, die hier als materielle Verfassung bezeichnet werden
und die die positivrechtliche Grundlage der gesamten staatlichen Rechtsordnung sind"
(ebd., 229). Zur Unterscheidung von Verfassung im materiellen Sinn und Verfassung im
formellen Sinn siehe auch Kelsen, ders., General Theory of Law and State (Fn. 5), 124 ff.;
ders., Allgemeine Staatslehre (Fn. 10), 251 ff.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 230 ff.; ders., General Theory of Law and State (Fn. 5),
125 ff.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 235 f.; ders., General Theory of Law and State (Fn. 5),
130 f.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 242 f. und 261 ff.; ders. General Theory of Law and
State (Fn. 5), 134 ff.
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370 Marcelo Neves
34 Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 240. Vgl. dazu ders., General Theory of Law and State
(Fn. 5), 132 f. Auf der niederen Ebene des Stufenbaus bezieht sich Kelsen nicht nur auf
die Vollstreckung des Zwangsaktes, sondern auch auf die Rechtsbefolgung als „jenes Ver
halten, an dessen Gegenteil der Zwangsakt der Sanktion geknüpft ist", das heißt: „das die
Sanktion vermeidende Verhalten" (Reine Rechtslehre, 242).
35 Zum Primat der staatlichen Rechtsordnung siehe Flans Kelsen, Das Problem der Souve
ränität und die Theorie des Völkerrechts: Beitrag zu einer reinen Rechtslehre, Tübingen
1920,151 ff.; ders., Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht [1958], in: Klecats
ky / Marcic / Schambeck (Hg.) (Fn. 10), 2213-2229, 2214 ff.; ders., Reine Rechtslehre (Fn.
5), 333 ff.; ders., Allgemeine Staatslehre (Fn. 5), 121 ff.
36 Zum Primat der Völkerrechtsordnung siehe Kelsen, Das Problem der Souveränität und die
Theorie des Völkerrechts (Fn. 35), 204 ff.; ders., Die Einheit von Völkerrecht und staatli
chem Recht (Fn. 35), 2217 ff.; ders. Reine Rechtslehre (Fn. 5), 336 ff.; ders., Allgemeine
Staatslehre (Fn. 10), 123 ff. Zu den beiden Hypothesen (Primat der staatlichen Rechtsord
nung oder Primat der Völkerrechtsordnung) vgl. auch ders., General Theory of Law and
State (Fn. 5), 376 ff. Für Kelsen liegt die Entscheidung zwischen beiden Konstruktionen
„außerhalb der Rechtswissenschaft. Sie kann nur durch andere als wissenschaftliche,
sie kann durch politische Erwägung bestimmt werden" und läuft grundsätzlich auf eine
„politischen-ideologische" Vorentscheidung für den Imperialismus (Primat der staatlichen
Rechtsordnung) oder den Pazifismus (Primat der Völkerrechtsordnung) hinaus; ders., Rei
ne Rechtslehre, 343 ff., 345; Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, 2226 ff.,
2228. Zur „juristischen Gleichwertigkeit" der beiden Grundhypothesen siehe auch ders.,
Allgemeine Staatslehre, 128 f.; ders., General Theory of Law and State, 386 ff.; Jochen
von Bernstorff, Der Glauben an das universale Recht: Zur Völkerrechtstheorie Hans
Kelsens und seiner Schüler, Baden-Baden 2001, 91 ff. Aber in Bezug auf die erkenntnis
theoretische Bedeutung der beiden Hypothesen (subjektivistische Weltanschauung für
den Primat der staatlichen Rechtsordnung und objektivistische Weltanschauung für den
Primat der Völkerrechtsordnung) nimmt Kelsen einen gewissen Abstand von derThese der
„juristischen Gleichwertigkeit" ein und setzt sich eher für den Primat der völkerrechtlichen
Ordnung ein: „Ohne damit eine Entscheidung zwischen beiden Weltanschauungen treffen
zu wollen, muß doch hervorgehoben werden, daß die subjektivistische Rechtsanschauung
letzten Endes zu einer Negation des Rechtes überhaupt und sohin der Rechtserkenntnis,
der Rechtswissenschaft führen muß. Denn das unverlierbare Wesen des Rechts, seine
ganz Existenz liegt in der Objektivität seiner Geltung"; Das Problem der Souveränität und
die Theorie des Völkerrechts, 317; Allgemeine Staatslehre, 132. Im Unterschied zu Kelsen
hat Alfred Verdross (Völkerrecht, 5. Aufl., Wien 1964, 115 ff.) die rechtswissenschaftliche
Relevanz des Primats des Völkerrechts entschieden vertreten.
37 Kelsen., General Theory of Law and State (Fn. 5), 121 f. und 367 f.; ders., Reine Rechts
lehre (Fn. 5), 221 f. und 336; ders., Allgemeine Staatslehre (Fn. 10), 126 ff. Vgl. dazu Bern
storff (Fn. 36), 82.
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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 371
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 223. Vgl. auch ebd., 325 und 339; ders., General Theory
of Law and State (Fn. 5), 369 f.; dazu Bernstorff (Fn. 36), 141 ff.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 223. Vgl. auch ebd., 324 f.; dazu Bernstorff (Fn. 36),
145 ff.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 10.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 212. Vgl. auch ebd., 82.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 48, 212, 214 f. und 219; ders., General Theory of Law
and State (Fn. 5), 41 f. und 118 f.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 10. Vgl. ebd., 92 und 220, hiermit Hinweis auf die desu
etudo als „eine gleichsam negative Gewohnheit, deren wesentliche Funktion darin besteht,
die Geltung einer bestehenden Norm aufzuheben." Dazu auch ders., Allgemeine Theorie
der Normen (Fn. 7), 112f.;ders., General Theory of Law and State (Fn. 5), 119 f.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 215 f. Kelsen ergänzt: „und daß auch insofern eine Be
ziehung zwischen dem Sollen der Rechtsnorm und dem Sein der Naturwirklichkeit besteht,
als die positive Ordnung, um zu gelten, durch einen Seinsakt gesetzt werden muß" (ebd.,
216 f.).
Vgl. hierzu Paulson (Fn. 9), 109-13.
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372 Marcelo Neves
III.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), S.3 f. Vgl. auch ders., General Theory of Law and State
(Fn. 5), 41 und 47 ff.
Vgl. hierzu Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 3. Aufl., Opladen 1987, 40-53; ders., Sozi
ale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1987, 436-43.
Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), 42 f.; ders., Soziale Systeme (Fn. 47), 437.; ders.,
Posltivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: ders., Ausdiffe
renzierung des Rechts, Frankfurt am Main 1981,113-153,115 f
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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 373
Faktischen, sondern im Kognitiven."49 Außerdem wird betont, dass die Trennung von
Sein und Sollen - und damit der Dualismus,kognitive/normative Erwartungen'- „keine
a priori vorgegebene Weltstruktur, sondern eine evolutionäre Errungenschaft" ist.50 So
wird in einfacheren Gesellschaften zwischen Normativem und Kognitivem noch nicht
klar unterschieden.51 Andererseits bleibt die Grenze zwischen normativen und kogni
tiven Erwartungen immer fließend. „Die Gemengelage von kognitiven und normativen
Erwartungskomponenten ist ein alltagsweltlich normaler Sachverhalt...."52 Außerdem
kann das, was heute normative Erwartungen fördert, morgen kognitive Erwartungen
erfordern, und umgekehrt: Der Inhalt früherer kognitiver Erwartungen kann zum Inhalt
gegenwärtiger normativer Erwartungen werden.
Nach dieser Unterscheidung lassen sich Normen als „kontrafaktisch stabilisierte
Verhaltenserwartungen"53 definieren. Der kontrafaktische Charakter bedeutet, dass
die faktische Erfüllung oder Nichterfüllung der Normen im Prinzip irrelevant für ihre
Geltung ist.54 Der an Normen orientierte Erwartende wird nicht ihre Geltung im Fall der
Nichterfüllung leugnen, sondern dieselbe bestätigen, insofern eran seinen Erwartungen
festhalten und sich über das gegen die Normen verstoßende Verhalten beklagen wird.
Ab einem bestimmten Umfang aber kann die stetige Nichterfüllung der Normen ihre
Geltung so beeinträchtigen, dass das Festhalten an den jeweiligen Erwartungen als
„abnormal", „unsinnig", „lächerlich" oder sogar „gefährlich" erscheinen kann. In diesen
Fällen stützen sich die normativen Erwartungen nicht mehr auf sozial geltende Nor
men.
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374 Marcelo Neves
chanismen.56 Im H
chanismen, die ein
gesellschaftliche F
nach Luhmann w
Erwartenden zur g
Verhaltenserwartu
lediglich „besond
expressive Anpassu
selseitige Orientier
bilisiert die soziale
sie die Instabilität
die „erfolgreich" s
Verhaltenserwartu
z.B. nicht naiv vo
oder sogar diesel
haltenserwartunge
bestimmter Verha
Glauben der Hand
Aber nicht nur de
mativen und kogn
verweisen auf die
und Kelsens Rechtslehre. Darüber hinaus ist der Unterschied zwischen beiden Theorie
modellen bezüglich der Selbsterzeugung der Rechtsordnung bzw. der Selbstproduktion
des Rechtssystems besonders bedeutsam.
Bei Luhmann hängt die Selbstproduktion des Rechtssystems mit der funktionalen
Differenzierung als primärer Differenzierungsform der modernen Gesellschaft zu
sammen.63 So wird die funktionale Ausdifferenzierung des Rechtssystems durch den
Begriff der „Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft"
Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie (Fri. 47), 94 ff. Hier bezieht sich das Konzept der Institu
tionalisierung nur auf die Sozialdimension („unterstellten Konsens") (vgl. auch ebd., 64 ff.);
aber an anderer Stelle nimmt der Begriff .Institution' eine umfassende Bedeutung an: „Insti
tutionen sind zeitlich, sachlich und sozial generalisierte Verhaltenserwartungen und bilden
als solche die Struktur sozialer Systeme" (ders., Grundrechte als Institution: Ein Beitrag
zur politischen Soziologie, Berlin 1965, 13).
Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), 95-98.
Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), 99
Über instrumentelle und expressive Variablen siehe Niklas Luhmann, Legitimation durch
Verfahren, Frankfurt am Main 1983, 223-32; ders., Rechtssoziologie (Fn. 47), 315 ff.
Dementsprechend behauptet Luhmann (Rechtssoziologie [Fn. 47], 100): „Recht ist keines
falls primär eine Zwangsordnung, sondern eine Erwartungserleichterung."
Trotz anderer Voraussetzungen („auf Glauben beruhende Geltung") äußert sich Max We
ber ( Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen
1985,16 f.) ähnlich dazu.
Selbstverständlich kann man nicht mehr von kongruenter Generalisierung der Verhaltens
erwartungen sprechen, falls der Mangel an Befolgung und Durchsetzung eine bestimmte
Grenze überschreitet, von welcher an das Recht seine erwartungssichernde Funktion
verliert. In anderer Perspektive macht Weber (Fn. 61,17) eine ähnliche Bemerkung. Nach
Geigers „realistischer" Auffassung wäre die „Geltung" oder Verbindlichkeit der Rechtsnor
men graduell, messbar; vgl, Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 2.
Aufl., Neuwied/Berlin 1970, insbes. 207 ff.; kritisch dazu Luhmann, Rechtssoziologie [Fn.
47], 43, Anm. 32.
Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, Halb
band 2, 613, 707 ff. und 743 ff.; ders. / Raffaele De Giorgi, Teoría délia società, Milano
1992, 256, 290 ff. und 302 ff.
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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 375
erfasst.64 Zunächst wird die Positivität als Gesetztheit und Änderbarkeit des Rechts
definiert.65 Nach diesem noch „schwachen" Konzept der Positivität handelt es sich
besonders um die funktionale Spezifikation des Rechts.66 Nach Luhmann aber hängt
die funktionale Ausdifferenzierung des Rechts (sowie der Politik) in der modernen Ge
sellschaft grundsätzlich von dessen zweiter, segmentärer Differenzierung in verschie
denen Staatsgebieten ab. Demnach bildet das „Völkerrecht" vielmehr einen Ausdruck
der primär politischen, internationalen Beziehungen,67 während die Menschenrechte
als Kandidat zu einem Weltrecht noch unzureichend institutionalisiert sind.68 Kurzum:
Wird die Ausdifferenzierung des Rechtssystems in einer ersten Formulierung mit
dessen funktionaler Spezifikation gleichgesetzt und auf die Positivität als Gesetztheit
und Änderbarkeit des Rechts zurückgeführt, so wird dabei die segmentäre, staatliche
Zweitdifferenzierung des Rechts hervorgehoben.
Mit der Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie kommt ein „starker" Begriff
der Ausdifferenzierung bzw. der Positivität des Rechts hinzu. Zwar werden weder die
funktionale Spezifikation noch die Gesetztheit und Änderbarkeit als Eigenschaften des
Rechts der modernen Gesellschaft außer Acht gelassen, aber der Aspekt der operativen
Geschlossenheit bzw. Autonomie des Rechtssystems wird in den Vordergrund gestellt
und gewinnt immer mehr an Bedeutung. Deshalb wird in Luhmanns späterem Werk der
Begriff der Positivität selbst als theoretisch nicht ausreichend angesehen, insofern er
dem „Vorwurf des ,Dezisionismus'" unterliegt oder als Gegenbegriff zum Naturrechts
konzept aufgefaßt werden kann.69 Demgemäß wird eine neue Begriffsbestimmung des
gewöhnlich im semantischen Rahmen des Ausdrucks .Positivität' erörterten Problems
vorgeschlagen.70 Es handelt sich strenggenommen um eine Umformulierung des
Konzepts, nach welcher der Aspekt der Gesetztheit der Dimension der operativen Ge
schlossenheit bzw. Autonomie untergeordnet wird. Die Positivität bedeutet dann, dass
die Entscheidung, auch wenn sie eine radikale Änderung des Rechts zur Folge hat,
ihren normativen Sinn aus dem Rechtssystem selbst erhält. In dieser Perspektive wird
die Idee der Autopoiesis (Selbstreferenz, operative Autonomie bzw. Geschlossenheit,
Selbstbestimmtheit) des Rechts zum Kern des Begriffs der Positivität.71
In dieser begrifflichen Konstellation lässt sich die Ausdifferenzierung des Rechts in
der modernen Gesellschaft als Kontrolle der Code-Differenz von Recht und Unrecht
Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft (Fn. 4
Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), 196 und 203; ders., Legitimation durch Verfahr
(Fn. 59), 141 ; ders., Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellscha
(Fn.48), 125.
Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), 217 ff.; Legitimation durch Verfahren (Fn. 59), 145
Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), 338 ff.; ders., Die Gesellschaft der Gesellscha
(Fn. 63), Halbband 1, 159 ff.
Vgl. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993, 574 ff.; der
Das Paradox der Menschenrechte und drei Formen seiner Entfaltung, in; Rechtsnorm u
Rechtswirklichkeit: Festschrift für Werner Krawietz zum 60. Geburtstag, Berlin 1993,
546, 543 ff.
Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, (Fn. 68), 38 ff,
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (Fn. 68), 40
Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (Fn. 68), 38-123; ders. Positivität als Selbst
bestimmtheit des Rechts, in: Rechtstheorie 19 (1988), 11-27; ders., Einige Probleme mit
„reflexivem Recht", in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 6 (1985), 1-18; ders., Die Einheit des
Rechtssystems, in: Rechtstheorie 14 (1983), 129-54; ders., Selbstrefiexion des Rechtssy
stems: Rechtstheorie in gesellschaftstheoretischer Perspektive, in: ders., Ausdifferenzie
rung des Rechts (Fn. 48), 419-50. Die folgenden Ausführungen zur Autopoiesis des Rechts
beruhen auf meinen früheren Beiträgen zu diesem Thema (Neves, Von der Autopoiesis zur
Allopoiesis des Rechts [Fn. 6] bzw. Symbolische Konstitutionalisierung [Fn. 6], 112 ff.).
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376 Marcelo Neves
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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 377
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378 Marcelo Neves
gation operational
das Operieren na
Paradoxie der Selb
die „Selbstanwend
haben, sondern au
fähigkeit der auto
Besonders in di
Theorie der Positi
Rechts.86 Dass der
Determination des
Machthaber, sond
ist, macht für Luh
des positiven Rech
Diskurs kursieren
der rechtlich irre
Gerechtigkeit nur
rechtigkeit) oder a
Es handelt sich, m
weltoffenheit, anp
der autopoietische
des Rechts nicht a
mas' Diskurstheor
Nikias Luhmann, E
alen Systeme im al
und „Enttautologi
Rechts der Gesells
Vgl. vor allem Nik
sellschaft, in: ders
Selbstbestimmthe
38; ders., Quod om
in: Rechtshistorisc
systemtheoretisch
ral - Ideologie: Stu
mas, Faktizität un
schen Rechtsstaats
Anderen: Studien z
Theorie der juristi
der juristischen Be
für Angemessenhe
318-34.
Nikias Luhmann, Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts (Fn. 71), 27. Eben desha
wurde von Kasprzik Luhmanns Ansatz als „Entfundamentalisierung" bezeichnet (Brigit
Kasprzik, Ist die Rechtspositivismusdebatte beendbar? Zur Rechtstheorie Nikias Lu
manns, in: Rechtstheorie 16 [1985], 367-81, 368 ff.).
Luhmann, Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts (Fn. 71), 26 f.; vgl. auch der
Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft (Fn. 86), 388 ff.; ders
Das Recht der Gesellschaft (Fn. 68), 225 f.
„Die eigentümliche Leistung der Positivierung der Rechtsordnung besteht darin, Begrü
dungsprobleme zu verlagern, also die technische Handhabung des Rechts über weit
Strecken von Begründungsproblemen zu entlasten, aber nicht darin, die Begründun
problematik zu beseitigest'; Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handeln
2. Aufl., Frankfurt am Main 1982, Bd. 1, 353; vgl. auch Bd. 2, 536. Später wird der Wid
spruch zu Luhmanns Konzeption der Positivität als Systemautonomie schärfer formulie
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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 379
„Autonomie erwirbt ein Rechtssystem nicht nur für sich alleine. Autonom ist es nur in dem
Maße, wie die für Gesetzgebung und Rechtssprechung institutionalisierten Verfahren un
parteiliche Urteils- und Willensbildung garantieren und auf diesem Wege einer ethischen
Verfahrensrationalität gleichermaßen in Recht und Politik Eingang verschaffen. Kein au
tonomes Recht ohne verwirklichte Demokratie"; ders., Wie ist Legitimität durch Legalität
möglich?, in: Kritische Justiz 20 [1987], 1 -16; vgl. ähnlich ders., Faktizität und Geltung [Fn.
86], 599, wo die Ausdrücke .Urteils-' und .ethischen' jeweils durch die Worte .Meinungs-'
und .moralischen' ersetzt werden.
Laut Luhmann „bleiben diskursive, vernünftige Formen der Klärung von akzeptablen bzw.
unakzeptablen Wertpositionen heute im Bereich bloßen Erlebens stecken. Die zentrale
Voraussetzung der praktischen Philosophie, daß man im Argumentieren über das, was
man heute Werte nennt, dem Handeln näher kommen könne, läßt sich unter den heutigen
Bedingungen einer sehr viel möglichkeitsreicheren Welt nicht mehr halten"; ders. Gerech
tigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft [Fn. 86], 389 Anm. 33.
In Einklang mit dieser früheren Formulierung definiert Luhmann später die Gerechtigkeit
als „Kontingenzformel"; Luhmann, Das Recht der Gesellschaft [Fn. 68], 214-38, insbes.
225 f.
Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, in: Rechtshistorisches Jour
nal 9 (1990), 176-220
Luhmann (Fn. 92), 193 ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft (Fn. 68), insbes. 470 ff.; ders.
(Fn. 63), 782 f.; ders., Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, 389-92. Der
Begriff der „strukturellen Kopplung" steht im Mittelpunkt von Maturanas und Varelas biolo
gischer Theorie der autopoietischen Systeme; vgl. Flumberto R. Maturana, Erkennen: Die
Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen
Epistemologie, Braunschweig/ Wiesbaden 1982, 143ff., 150ff., 251 ff., 287 ff.; ders./
Francisco J. Varela, Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living, Dordrecht
1980, XX f.; dies., Der Baum der Erkenntnis, 3. Aufl., Bern / München /Wien 1987, 85 ff.
Darauf greift Luhmann explizit zurück, um das Konzept auf soziale Systeme zu Übertragen
(vgl. Niklas Luhmann [Fn. 63], Bd. 1,100; ders., Das Recht der Gesellschaft [Fn. 68], 440 f.;
ders. [Fn. 92], 204 Anm. 72; ders., Die Politik der Gesellschaft, 373 Anm. 3; ders. / Raffaele
De Giorgi [Fn. 63], 33).
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (Fn. 68), 582
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380 Marcelo Neves
95 Luhmann, Das R
96 Luhmarin, Das R
97 Vgl. ebd.
98 Luhmann (Fn. 9
99 Vgl. Luhmann,
100 Niklas Luhmann
68), 478.
101 Vgl. In bezug auf die vormodernen Gesellschaften Niklas Luhmann, Machtkreislauf und
Recht in Demokratien, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2 (1981), 158-167, 159 f.; ders.,
Rechtssoziologie (Fn. 47), 168 ff.
102 Luhmann (Fn. 92), 205
103 Luhmann (Fn. 92), 206
104 Luhmann, Machtkreislauf und Recht in Demokratien (Fn. 101), 165
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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 381
Unter dem Gesichtspunkt des Rechts erweist sich die Verfassung als normative
Struktur, die seine operative Autonomie ermöglicht und zugleich aus dieser resultiert.105
In diesem Sinne „ist die Verfassung diejenige Form, mit der das Rechtssystem auf
die eigene Autonomie reagiert. Die Verfassung muss, mit anderen Worten, Außenan
lehnungen, wie sie das Naturrecht postuliert hatte, ersetzen."106 Sie verhindert, dass
Kriterien wertbezogener, moralischer und politischer Natur unmittelbare Geltung inner
halb des Rechtssystems gewinnen, und zieht so dessen Grenzen. Dementsprechend
betont Luhmann: ,,[D]ie Verfassung schließt das Rechtssystem, indem sie es als einen
Bereich regelt, in dem sie selbst wiedervorkommt. Sie konstituiert das Rechtssystem
als geschlossenes System durch Wiedereintritt in das System."107 Damit wird eine
externe Hierarchisierung im typischen Stil .Naturrecht - positives Recht' beseitigt und
eine interne Hierarchie in der Rechtsordnung durch die übergesetzliche Geltung des
Verfassungsrechts konstituiert.108 Es handelt sich nicht um mehrere, gegeneinander
isolierte Ebenen, sondern um „tangled hiérarchies".109 Einerseits fungiert der Code
.constitutional/unconstitutional', der vom Code ,legal/illegal' unterschieden wird und
diesen durchschneidet, als Verhinderung einer uneingeschränkten Gesetzgebung.110
Andererseits bedingen die gesetzgebende Tätigkeit und die konkrete Anwendung des
Verfassungsrechts dessen Geltung und Sinn.111 Daraus folgt, dass jeder gesetzgebe
rische Eingriff des politischen Systems in das Recht durch Rechtsnormen mediatisiert
wird. Das Rechtssystem gewinnt dadurch Kriterien für die Anwendung des Codes
Recht/Unrecht auf die Gesetzgebungsverfahren. Als umfassende Normierung von
normierenden Prozessen erweist sich die Verfassung als reflexiver Mechanismus112
des Rechtssystems (Norm von Normen). Die Verfassungsnormativität setzt der Lernfä
higkeit des Rechts systeminterne Grenzen. Sie bestimmt, wie und wieweit das Rechts
system lernen kann, ohne seine Identität/Autonomie auflösen zu lassen.113 Zwar ist
das Verfassungssystem zugleich lernfähig - dies drückt sich nicht nur im spezifischen
105 Vgl. Neves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne (Fn. 6), 50 ff.;
ders., Symbolische Konstitutionatisierung (Fn. 6), 61 ff.; Luhmann (Fn. 92), 185 ff.
106 Luhmann (Fn. 92), 187
107 Ebd.
108 Luhmann (Fn. 92), S.190. In einer früheren Arbeit schreibt Luhmann hingegen der internen
Hierarchisierung .Verfassung/Gesetz' nur eine rechtstechnische Bedeutung zu; Politische
Verfassungen im Kontext des Gesellschaftssystems, in: Der Staaf\2 [1973], 1-22 u. 165
182,1.
109 Vgl. z.B. Niklas Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts (Fn. 49), S. 15 f. Hier
macht Luhmann eine Anleihe bei Douglas R. Hofstadter, Gödel, Escher, Bach: an Eternal
Golden Braid, Hassocks 1979, 10 u. 684 ff. Vgl. auch Gunther Teubner, Recht als autopoi
etisches System (Fn. 78), 9.
110 Vgl. Luhmann (Fn. 92), 188 f.; ders., Das Recht der Gesellschaft (Fn. 68), 474 f.
111 „Es mag Einflußdifferenzen, Hierarchien, Asymmetrisierungen geben, aber kein Teil des
Systems kann andere kontrollieren, ohne selbst der Kontrolle zu unterliegen; und unter
solchen Umständen ist es möglich, ja in sinnhaft orientierten Systemen hochwahrschein
lich, daß jede Kontrolle unter Antezipation der Gegenkontrolle ausgeübt wird"; Luhmann,
Soziale Systeme [Fn. 47], 63; vgl. insbesondere im Hinblick auf das Rechtssystem, ders.,
Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts
[Fn. 48], 241-272, 254 f.
112 Vgl. hierzu Luhmann, Reflexive Mechanismen, in: ders., Soziologische Aufklärung 1: Auf
sätze zur Theorie sozialer Systeme, 5. Aufl., Opladen 1984 [1966], 92-112. Später wird
die Rede nicht mehr umfassend von „reflexiven Mechanismen" sein, sondern präziser von
Reflexivität; vgl. dazu vor allem ders., Soziale Systeme [Fn. 47], 601 u. 610-16.
113 In Übereinstimmung damit schrieb Luhmann (Politische Verfassungen im Kontext des
Gesellschaftssystems [Fn. 108], 165): „Sinn und Funktion der Verfassung werden unter
Verwendung expliziter Negationen, Negationen von Negationen, Abgrenzungen, Verhin
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382 Marcelo Neves
Verfahren der Ve
sungskonkretisieru
-Prinzipien beacht
gelten. So bestim
der normativen G
Luhmann stellt di
rechtlicher Selbstr
als autopoietische
IV.
Die Übertragung des Luhmannschen Modells der Autopoiesis des Rechts auf die
verschiedenen Regionen des Erdballs ist unhaltbar. Besonders in den peripheren
Ländern der asymmetrischen Weltgesellschaft bestehen gravierende Probleme der
mangelhaften Autonomie bzw. unzureichenden Ausdifferenzierung des Rechtssys
tems.114 Darüber hinaus lässt sich das Paradigma der Autopoiesis nicht vorbehaltlos
auf die globalen, pluralen Rechtsordnungen übertragen.115
Zuerst ist die Rechtslage in den Ländern der „peripheren Moderne"116 zu betrach
ten. Nicht nur in Afrika und Lateinamerika, sondern auch in großen Teilen Asiens und
Osteuropas ist die Überlagerung des Rechts durch andere Kommunikationscodierungen
ein allgemeines Problem rechtlicher Produktion. Die Codierung ,Recht/Unrecht' wird
dort anderen Präferenzcodes untergeordnet.117 Dies bedeut, dass im Hinblick auf
die gesellschaftliche Umwelt die Grenzen einer Rechtssphäre nicht deutlich definiert
sind118 und es mithin keinen Spielraum für die zirkuläre Selbstproduktion des Rechts
gibt. Die imperiale Hypertrophie des Wirtschaftscodes Haben/Nichthaben verstärkt
die extreme Öffnung der Einkommensschere und erzeugt rechtswidrige Privilegien
und „Exklusionen", die eine systemisch konsistente Selbstreproduktion des Rechts
verhindern. Auch die Überlagerung des Rechtscodes durch diffuse Formen privater
Macht und nepotistischer Netzwerke korrumpiert das Recht, so dass dessen opera
tive Reproduktion heteronom bestimmt wird. Dementsprechend wird die Legalität als
Generalisierung rechtlicher Norminhalte im Prozess der Rechtskonkretisierung selbst
verzerrt.
Wenn ich die Verwicklung der Präferenzcodes und -kriterien der verschiedenen ge
sellschaftlichen Lebenssphären (Wirtschaft, Politik, Familie usw.) mit dem Differenzcode
des Rechts behaupte, übersehe ich freilich nicht, dass jedes autopoietische System
immer durch Faktoren seiner Umwelt bedingt wird und dies die Voraussetzung des
derungen gekennzeichnet; die Verfassung selbst ist, ihrem formalen Verständnis nach, die
Negation der uneingeschränkten Abänderbarkeit des Rechts."
114 Hierzu greife ich im Folgenden auf frühere Beiträge zurück (siehe oben die Literaturanga
ben der Fußnote 6).
115 Vgl. Marcelo Neves, Zwischen Themis und Leviathan: Eine Schwierige Beziehung - Eine
Rekonstruktion des demokratischen Rechtsstaates in Auseinandersetzung mit Luhmann
und Habermas, Baden-Baden 2000,196 ff.; ders., Symbolische Konstitutionalisierung (Fn.
6), 155 ff.
116 Zu diesem Konzept vgl. Neves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren
Moderne (Fn. 6), 72 ff.; ders., Symbolische Konstitutionalisierung (Fn. 6), 138 ff.; ders.,
Zwischen Themis und Leviathan (Fn. 115), 178 ff.
117 Vgl. Neves, Von der Autopoiesis zur Allopoiesis des Rechts (Fn. 6).
118 Vgl. Neves, Vom Rechtspluralismus zum sozialen Durcheinander (Fn. 6).
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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 383
119 Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (Fa. 68), 445 u. passim; ders., Organisation und
Entscheidung, Frankfurt am Main 2000, 295-97.
120 Gotthard Günther, Cybernetic Ontology andTransjunctional Operations, in: ders., Beiträge
zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 1, Hamburg: Meiner, 1976, 249
328,286 ff.; vgl. Niklas Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, in: Rechtstheorie 17
(1986), 171-203,181 ff.;ders., Das Recht der Gesellschaft (Fn. 68), 81,181,187u.545 f.;
ders. (Fn. 63), 751 ff.
121 Luhmann (Das Recht der Gesellschaft [Fn. 68], 82) erkennt zwar an, dass „im Extremfall"
von Systemkorruption „nicht mehr von autopoietischer Schließung [...] die Rede sein"
kann, aber daraus zieht er keine konsequenten, empirisch bezogenen Folgen für seine
theoretische Konstruktion, insofern er nach wie vor sehr stark auf dem Primat der funktio
nalen Differenzierung in der heutigen Weltgesellschaft besteht; ebd., 572; ders. [Fn. 63],
743 ff.
122 Vgl. Neves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne (Fn. 6), 89 ff.;
ders., Symbolische Konstitutionalisierung (Fn. 6), 90 ff.
123 „Politische Macht ist zunächst hierarchisch codiert nach dem Schema überlegene/unterle
gene Macht"; Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems [Fn. 120], 199.
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384 Marcelo Neves
und Autoritarismu
Mechanismen der
(supra-)konstitutio
vom obersten poli
derungen mit dem
trumente zu verh
tutionellen Gesetz
als Zweitcode der M
jede Distanz zur Ve
Reproduktion der
mit der Vorherrsc
möglich, dass sie m
steht, ohne ideolo
Im Fall der „symb
Politisierung des R
selbst. Umgekehrt
nach dem die oper
der verfassungge
sungstexts erfolgt
Rechtssystems. De
generalisierte nor
Verfassung als ref
Zwar lässt sich a
Negation der Diffe
Autonomie des let
laspekte bzw. -ber
die die Grundstruk
schriften betrifft
in Frage stellt. De
der Sach-, Sozial-
den Verfassungst
der kongruenten G
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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 385
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386 Marcelo Neves
der Verfassungen
ner auf die Behaup
Systems und des R
keine Entsprechun
entwickeln: „Auf d
temen klar überho
im Vergleich zu an
Einerseits wird di
strukturell gekopp
staat zurückgeführ
liegt der Schwerpu
Andererseits aber
auf der Ebene de
engen Verbindung
des Nationalstaats
Teubner durch die
strukturelle Kopp
Damit hängt zusa
über deren „organ
entsteht eine Frag
zur Auffassung de
die rechtstheoreti
Rechtsordnungen"
der operativen Sel
Teubners Betonu
villages), die je mi
Transport usw.) st
postmodernen Da
balen Rechtsplural
deren mangelhaft
und hervorgehob
ökonomischen Akt
„ein korruptes Re
bildet also eher ein Instrument der Weltwirtschaft und hat in erster Linie der Effizienz
dieses Systems zu dienen. Mit anderen Worten: Sie stellt das Recht in den Dienst des
Geldes bzw. macht es zu dessen Medium. Es handelt sich nicht um eine gegenüber
dem Wirtschaftssystem operativ autonome Erscheinungsform des Rechts. Insofern
die lex mercatoria als Weltwirtschaftsrecht der Weltwirtschaft untergeordnet ist bzw.
wirtschaftlich trivialisiert wird, bildet sie keine Rechtsordnung, die geeignet ist, eine
Gleich/Ungleichbehandlung zu fördern, die nicht nur ökonomisch adäquat, sondern auch
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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 387
rechtlich konsistent ist. Sie ist angemessen, die rechtliche Stabilität des ökonomischen
Spiels zu begünstigen, aber nicht in der Lage, Rechtsgleichheit zu gewährleisten. Dazu
fehlt eine Verfassung oder ein Funktionaläquivalent als strukturelle Kopplung zwischen
Recht und Weltwirtschaft. Eher handelt es sich um schwache Reflexivität des Rechts,
die auf die unzureichende Entwicklung eines entsprechenden Verfassungsrechts oder
Funktonaläquivalenten zurückzuführen ist, und damit zusammenhängend um die Co
dierungsstärke der Weltwirtschaft, die heteronomisierend, instrumenten bzw. destruktiv
in das „Rechtsfeld" der lexmercatoria eingreift. Und das gilt meines Erachtens auch für
andere „law's global villages" in ihren Beziehungen zu den jeweiligen globalen sozialen
Systemen: Eher lässt sich von Instrumentalisierung und Unterordnung als von rule of
law und due process of law bzw. operativer Systemautonomie des Rechts sprechen.
V.
144 „Die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung erfaßt das Rechts in seiner Bewegung, in
dem ständig sich erneuernden Prozeß seiner Selbsterzeugung"; Kelsen, Reine Rechtsleh
re [Fn. 5], 283; vgl. ders., Allgemeine Staatslehre [Fn. 10], 248 f.; ders., General Theory of
Law and State [Fn. 5], 123 f.
145 Selbstverständlich geht es hier um die Autonomie des Rechtssystems, die Kelsen unter
den Termini .Eigengesetzlichkeit' bzw. .Selbsterzeugung' behandelt hat; vgl. Reine Rechts
lehre [Fn. 5], insbes. III und 228 ff. Dabei wird nicht verkannt, dass Kelsen den Terminus
.Autonomie' in einem ganz anderen Sinne verwendet, nämlich für die Begrifflichkeit, die
für die Unterscheidung der beiden Staatsformen Demokratie (Autonomie) und Autokratie
(Heteronomie) eine Rolle spielt und sich auf die „Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung"
des „zu verpflichtenden" Menschen bezieht: „Die vom Standpunkt des normunterworfenen
Menschen entscheidende Frage ist: ob die Verpflichtung mit seinem Willen oder ohne,
eventuell sogar gegen seinen Willen erfolgt. Es ist jener Unterschied, den man gewöhnlich
als den Gegensatz von Autonomie und Heteronomie bezeichnet und den die Rechtslehre
im wesentlichen auf dem Gebiete des Staatsrechts festzustellen pflegt. Hier tritt er als Un
terschied zwischen Demokratie und Autokratie oder Republik und Monarchie auf; und hier
liefert er die übliche Einteilung der Staatsformen"; Reine Rechtslehre [Fn. 5], 283; vgl. dazu
Allgemeine Staatslehre [Fn. 10], 320 ff.; General Theory of Law and State [Fn. 5], 284 ff.;
Staatsform als Rechtsform [1925/26], in: Klecatsky / Marcic/ Schambeck (Hg.) (Fn. 10),
1689-1712, insbes. 1691 ff. Aber in beiden Staatsformen ist nach Kelsen die Autonomie
des Rechtssystems ais die Selbsterzeugung bzw. Eigengesetzlichkeit der Rechtordnung
theorienotwendig zu behaupten. In diesem Beitrag benutze ich den Terminus .Autonomie'
als einen Oberbegriff für die Selbstproduktion (Autopoiesis) des Rechtssystems im Sinne
der Systemtheorie (operative Autonomie) und die Selbsterzeugung (Eigengesetzlichkeit)
der Rechtsordnung im Sinne der Reinen Rechtslehre (normativ-strukturelle Autonomie).
146 Nach Kelsen ist die Rechtswissenschaft eine empirische Wissenschaft, weil ihr Gegen
stand aus positiven Rechtnormen besteht. Dementsprechend behauptet er: „Sind die Nor
men der Moral so wie die Normen des positiven Rechts der Sinn empirischer Tatsachen,
kann die Ethik ebenso wie die Rechtswissenschaft als empirische Wissenschaft - im
Gegensatz zu metaphysischer Spekulation - bezeichnet werden, auch wenn sie nicht
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388 Marcelo Neves
geltend zu machen
sion zu charakteri
m.E. nicht ohne
rechtlichen Reprod
Inkongruenzen, d
aufmerksam zu machen.
Es handelt sich hierbei nicht um eine Infragestellung der theoretischen Grenzen
der auf einer logisch-transzendentalen, vorausgesetzten Grundnorm beruhenden Stu
fenbaulehre. Sicher ist die Angemessenheit und Fruchtbarkeit eines hierarchischen,
monistischen, auf den Neukantianismus147 zurückgehenden Theoriemodells der
Selbsterzeugung des Rechts sehr fragwürdig. Obwohl aus der internen, dogmatischen
Perspektive des Rechtsystems auf die technische Bedeutung der Normhierarchie nicht
zu verzichten ist,148 muss man die Relativierung des Hierarchiebegriffs berücksichti
gen, die sowohl aus dem Verständnis der „tangled hiérarchies" im Rechtssystem149
als auch aus einer sich auf die Unterscheidung von Norm und Normtext stützenden
Theorie der Rechtskonkretisierung als Vorgang der Normkonstruktion resultiert.150 Das
heißt: Kelsens Stufenbaulehre unterliegt einer umfassenden Kritik aus der Perspektive
eines zirkulären Modells der Selbstproduktion des Rechts. Aber im Rahmen dieses
Beitrags kann ich mich nicht damit beschäftigen. Theoriestrategisch ziele ich eher
auf eine immanente Kritik, die auf die internen Grenzen der Beschreibungsfähigkeit
des Begriffsmodells hinweisen soll. Die Frage lautet: Ist die von der Stufenbaulehre
Tatsachen, sondern Normen zum Gegenstand hat"; Kelsen, Reine Rechtslehre [Fn. 5],
61; vgl. dazu ders., General Theory of Law and State [Fn. 5], 163 f. Und er fügt hinzu: „Die
Rechtswissenschaft bleibt innerhalb der Grenzen der Erfahrung, so lange sie nur Normen
zum Gegenstand hat, die durch menschliche Akte gesetzt sind und sie sich nicht auf Nor
men bezieht, die von übermenschlichen, transzendenten Instanzen ausgehen, das heißt,
so lange sie jede metaphysische Spekulation ausschließt"; Reine Rechtlehre [Fn. 5]., 82.
Es ist zu beachten, dass Kelsen in dieser Stelle auf seine Ausführungen zur Beziehung
zwischen Geltung und Wirksamkeit verweist (ebd., 215 ff.).
147 Hierzu Stanley L. Paulson, Zur neukantianischen Dimension der Reinen Rechtslehre: Vor
wort zur Kelsen-Sander-Auseinandersetzung, in: Fritz Sander / Hans Kelsen, Die Rolle des
Neukantianismus in der Reinen Rechtslehre: Eine Debatte zwischen Sander und Kelsen,
hrsg. von Stanley L. Paulson, Aalen 1988, 7-26; H. Dreier (Fn. 7), 70 ff.; Helmut Holzhey,
Kelsens Rechts- und Staatslehre in ihrem Verhältnis zum Neukantianismus, in: Paulson /
Walter (Hg.) (Fn. 21), 167-92. Siehe mit Vorbehalten Hammer (Fn. 28).
148 Mit Hinweis auf Theo Öhlinger (Fn. 21) behauptet auch Luhmann, dass die Abstufung
des „Rechtssystems" sich nur auf das „Mischungsverhältnisf von Rechtsschöpfung und
Rechtsanwendung bezieht, um hinzuzufügen: „Ein Schritt darüber hinaus wäre, das
Verhältnis von Rechtsschöpfung/Rechtsanwendung auf jeder Stufe als zirkulär, also als
selbstreferentiell zu begreifen. Dann wäre Stufenbau eine Dekomposition und Hierar
chisierung der grundlegenden Selbstreferenz des Systems"; Luhmann, Die Einheit des
Rechtssystems [Fn. 71], 141 Anm. 26; vgl. auch ders. [Fn. 75], 11.
149 Vgl. oben die Literaturangaben der Anmerkung 109; dazu auch Marcelo Neves (Fn. 115),
83, 119, 146 u. 148.
150 Vgl. Friedrich Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., Berlin 1995, insbes. 122 ff. u. 166 ff.;
ders., Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl., Berlin 1994, insbes. 147-67, 184-222 u. 234
40; ders., Die Positivität der Grundrechte: Fragen einer praktischen Grundrechtsdogmatik,
2. Aufl., Berlin 1990, insbes. 126 ff.; ders., Essais zur Theorie von Recht und Verfassung,
hrsg. von Ralph Christensen, Berlin 1990, insbes. 20; Ralph Christensen, Der Richter als
Mund des sprechenden Textes. Zur Kritik des gestezespositivistischen Textmodells, in:
Friedrich Müller (Hg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik: Interdisziplinäre Studien zu
praktischer Semantik und strukturierender Rechtslehre in Grundfragen der juristischen
Methodik, Berlin 1989, 47-91, 78 ff. u. 87 ff.; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungs
rechts der Bundesrepublik Deutschland, 12. Aufl., Heidelberg / Karlsruhe 1980, 24 ff.
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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 389
151 „Mit dem Begriffe der Staatsform wird die Methode der durch die Verfassung geregelten
Erzeugung der generellen Normen gekennzeichnet"; Kelsen, Reine Rechtslehre [Fn. 5],
283; vgl. auch ders., General Theory of Law and State [Fn. 5], 284; ders., Allgemeine
Staatslehre [Fn. 10], 321.
152 Vgl. Kelsen, Das Problem der Gerechtigkeit, (als Anhang) in: ders., Reine Rechtslehre (Fn.
5), 355-444, 429 f.; dazu auch ders., Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953, insbes. 6 u. 11.
153 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, 93 ff. Vgl.
dazu auch ders., Was ist Gerechtigkeit? (Fn. 152), 40 ff.; Robert Chr. van Ooyen, Der Staat
der Moderne: Hans Kelsens Pluralismustheorie, Berlin 2003, 63 ff. Vgl. Horst Dreier, The
Essence of Democracy- Hans Kelsen and Carl Schmitt Juxtaposed, in: Diner / Stolleis
(Hg.) (Fn. 21), 71-79, 71-74
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390 Marcelo Neves
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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 391
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392 Marcelo Neves
dictio in adjecto") zustande kommt (ebd., 275 ff.; ders., General Theory of Law and State
[Fn. 5], 155 f.).
160 Dementsprechend behauptet Kelsen: „Solange einer Verfassung der [...] Garantie der
Vernichtbarkeit verfassungswidriger Akte ermangelt, fehlt ihr auch der Charakter voller
Rechtsverbindlichkeit im technischen Sinne. Wenn man sich dessen auch im allgemeinen
nicht bewusst ist [...], so bedeutet doch eine Verfassung, derzufolge auch verfassungswid
rige Akte und insbesondere verfassungswidrige Gesetze gültig bleiben müssen, weil sie
aus dem Grund ihrer Verfassungswidrigkeit nicht aufgehoben werden können, von einem
rechtstechnischen Standpunkte aus nicht viel mehr, als unverbindlichen Wunsch"; Wesen
und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit [1929], in: Klecatsky / Marcic / Schambeck [Hg.]
[Fn. 10], Bd. 2, 1813-1871, 1862. Vgl. dazu Dieter Grimm, Zum Verhältnis von Interpreta
tionslehre, Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratieprinzip bei Kelsen, in: Krawietz/
Topitsch / Koller (Hg.) (Fn. 10), 149-157, 152 f.
161 Hierzu kritisch Paulson (Fn. 9), 109-13.
162 In diesem Sinne etwa Matthias Jestaedt, Konkurrenz von Rechtsdeutungen statt Koexi
stenz von Rechtsordnungen (Manuskript).
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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 393
163 Kelsen, General Theory of Law and State (Fn. 5), 338 ff.; ders., Reine Rechtslehre (Fn. 5),
289 f. u. 323 f.; ders., Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts (Fn.
35), insbes. 260 und 262 f.
164 Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 323; ders., Allgemeine Staatslehre (Fn. 10), 174 f.;
ders., General Theory of Law and State (Fn. 5), 325 ff.;ders., Peace Through Law, Chapel
Hill 1944, 22; ders., Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts (Fn.
35), 257 ff. Deswegen stellt das Völkerrecht nicht „eine technisch entwickelt[e] Rechtsord
nung" dar; ders., Unrecht und Unrechtsfolge im Völkerrecht, Wien 1932, 7.
165 Vgl. unter vielen Martti Koskenniemi, Die Polizei im Tempel - Ordnung, Recht und die Ver
einten Nationen: Eine dialektische Betrachtung, in: Hauke Brunkhorst (Hg.): Einmischung
erwünscht? Menschenrechte und bewaffnete Intervention, Frankfurt am Main 1998,63-87;
ders., The Gentie Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law 1870-1960,
Cambridge 2002, insbes. 480 ff.
166 Vgl. Marcelo Neves, Die symbolische Kraft der Menschenrechte, in: Archiv für Rechts- und
Sozialphilosophie 90 (2005) 2,159-187. Auch Luhmann äußert sich kritisch zu dieser Pra
xis; Das Recht der Gesellschaft [Fn. 68], 580.
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394 Marcelo Neves
sprechen, fällt un
radikalen Konstruktivismus hinaus.
Im Zusammenhang mit der völkerrechtlichen Problematik lässt sich eine kurze,
ergänzende Bemerkung zu den pluralen globalen Rechtsordnungen machen, die
hinsichtlich der postmodernen Systemtheorie Teubners im Abschnitt IV behandelt
wurden. Was hier interessiert, ist nicht die Schwierigkeit, diese Rechtsordnungen in
die monistische Konstruktion Kelsens (als Totalrechtsordnung oder als Teilordnungen
des Staates bzw. des Völkerrechts) einzuordnen. Die zu stellende Frage ist wieder
um, ob diese Ordnungen die Bedingungen der stufengemäßen Selbsterzeugung des
Rechts erfüllen. Vieles spricht dafür, dass sie nicht in der Lage sind, sich gegenüber
den entsprechenden globalen sozialen Systemen, für die sie Leistungen bringen,
autonom zu reproduzieren. Ihre „Verfassungen" werden nach der Codierung und den
Kriterien der Kommunikationsbereiche, an die sie gebunden sind, fremdbestimmt, so
dass sich eine konsequent eigengesetzte Rechtsnormenhierarchie nicht hinreichend
herausbilden kann. Über den rechtssoziologischen Aspekt hinaus ist in diesem Fall
die „rechtswissenschaftliche" bzw. rechtsdogmatische Perspektive beeinträchtigt:
normative Sinngebungen der Rechtsordnung werden durch Sinngebungen anderer
sozialer Bereiche „unterdrückt". Kurzum: Auch die pluralen globalen Rechtsordnungen
der asymmetrischen Gesellschaft der Gegenwart entsprechen nicht dem Modell eines
stufenbaugemäß selbsterzeugten, eingesetzten Rechts, sondern sind vielmehr den
jeweiligen globalen Systemen untergeordnet, denen sie als „Medien" zu dienen ha
ben.
VI.
Aus diesen Überlegungen lässt sich schließen, dass sowohl Luhmanns soziologisches
Paradigma der operativen Selbstproduktion des Rechtssystems als auch Kelsens
„rechtswissenschaftliches" Modell der normativ-strukturellen Selbsterzeugung der
Rechtsordnung zu voraussetzungsvoll sind, als dass sie einer adäquaten Beobachtung
und Beschreibung der verschiedenen rechtlichen Zusammenhänge der gegenwärtigen,
asymmetrischen Weltgesellschaft dienen könnten. Vielmehr sind sie für die Beobach
tung/Beschreibung rechtsstaatlicher bzw. durch rule of law oder ein funktionales Äqui
valent gekennzeichneter Rechtsordnungen, die empirisch gesehen nicht vorherrschend
sind, angemessen. Mit anderen Worten: Rechtsstaatlichkeit / rule of law stellt eine innere
Voraussetzung der operativen bzw. strukturellen Autonomie des Rechts dar, obwohl
nur wenige Rechtsordnungen der Gegenwart diese Voraussetzung erfüllen.
Damit zusammenhängend lässt sich eine zweite These aufstellen: Ohne Verfassung
(oder ein funktionales Äquivalent) als Instanz der operativen Schließung (bzw. als um
fassenden reflexiven Mechanismus des Rechts) und der strukturellen Kopplung gibt
es keine beobachtungs-/beschreibungsfähige Autonomie des Rechtssystems bzw. der
Rechtsordnung. Selbstverständlich handelt es sich hier weder nur um Verfassungstexte
mit politisch-symbolischer Funktion noch um Verfassungsgesetze als reines Instrument
der Macht, sondern um konkretisierungsfähige, „mit normativer Kraft" ausgestattete
Verfassungen, die als „Errungenschaft der modernen Gesellschaft" für die Autonomie
des Rechtssystems erforderlich sind. Insofern die Verfassung die reflexive Ebene der
Rechtsstaatlichkeit bzw. der rule of law bildet, dient sie der operativen und mithin der
strukturellen Autonomie des Rechts. Fehlt die Verfassung in diesem engeren Sinne,
kann man strenggenommen nicht von Autonomie des Rechts sprechen: Das Recht
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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 395
Anschrift des Autors: Prof. Dr. Marcelo Neves, Rua Maranhäo, 192, ap. 23, 01240-000 Säo Paulo - SP
- Brasilien, e-mail: mneves57@yahoo.com.br
167 Siehe in anderem Kontext Neves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren
Moderne (Fn. 6), 207 ff.
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