NEVES, Marcelo. Grenzen Der Autonomie Des Rechts in Einer Asymmetrischen Weltgesellschaft - Von Luhmann Zu Kelsen

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft: Von

Luhmann zu Kelsen
Author(s): Marcelo Neves
Source: ARSP: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie / Archives for Philosophy of Law
and Social Philosophy, Vol. 93, No. 3 (2007), pp. 363-395
Published by: Franz Steiner Verlag
Stable URL: http://www.jstor.org/stable/23680855
Accessed: 22-03-2017 13:55 UTC

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Marcelo Neves, Säo Paulo

Grenzen der Autonomie des Rechts in einer


asymmetrischen Weltgesellschaft:
Von Luhmann zu Kelsen*
Lourival Vilanova
zum Andenken

Abstract: This article sets out to move from questioning the autonomy of law from the
external Standpoint of sociology to problematizing it from the internal legal Standpoint. The
first step is an analysis of the Kelsenian theoretical model of the hierarchically structured
self-production of law, taking into considération the concept of reason for the validity of a norm
and of a legal order, as well as the role of efficacy as a condition for validity. The second is a
présentation of Luhmann's conception of autopoiesis of the legal system, and in particular
the function of the Constitution in the operative closure of law. Based on this exposition,
the discussion then focuses on the limits of both conceptions, but in reverse order: first
questioning the possibility of transporting the concept of autopoiesis to the différent condi
tions for reproduction of law in contemporary world society, and then raising objections to
the adequacy of the concept of hierarchically structured self-production of law to the many
différent legal orders in today's world. The conclusion drawn from these critical observations
is the argument that the Luhmannian sociological theory of the operative self-reference of
the legal system and the Kelsenian legal theory of the self-produced step-structure of law
are applicable only to legal Systems minimally grounded in the rule of law.

I.

Alle Versuche der Annäherung von Luhmanns Systemtheorie des Rechts an Kelsens
Reine Rechtslehre erweisen sich mindestens im Prinzip als problematisch. Führt man
den soziologischen Begriff der Autopoiesis des Rechts ohne weiteres auf das Konzept
der Selbsterzeugung des Rechts zurück,1 so wird der radikale Unterschied zwischen
den theoretischen Grundlagen der beiden Begriffsmodelle übersehen: Während Kel
sen von der vorgestellten Grundnorm, auf der die Einheit des Stufenbaus des Rechts
beruhe, ausgeht, bezieht sich Luhmann auf die Einheit des Rechtskreislaufs stiftende
innergesellschaftliche Differenz von Recht und Unrecht. Nimmt man dennoch an, dass
die Grundnorm sich aus einer systemtheoretischen Perspektive als „Beobachtung

Diesen Aufsatz habe ich im Rahmen zweier Forschungsaufenthalte an der Johann Wolf
gang Goethe Universität in Frankfurt am Main und Leopold Franzen Universität in Ham
burg in den Monaten Juni/Juli 2004 und Januar/Februar 2005 ausgearbeitet. Er bildet die
überarbeitete Fassung des Vortrags, den ich anlässlich der internationalen Konferenz
„Recht, Staat und Internationale Gemeinschaft bei Hans Kelsen" vom 1 .-3. Juli 2004 an der
Universität Flensburg gehalten habe. Meinen wissenschaftlichen Gastgebern in Frankfurt
am Main, Gunther Teubner, und in Hamburg, Karl-Heinz Ladeur, bleibe ich sehr verbunden.
Hauke Brunkhorst, Mathias Jestaedt, Ulrich Thiele, Fatima Bajiji-Kastner, Andräs Jakab,
Oliver Eberl und Franz von Weber bin ich für kritische Hinweise sehr dankbar. Der Alexan
der von Humboldt-Stiftung danke ich für die institutionelle und finanzielle Unterstützung.
François Ost, Entre ordre et désordre: le jeu du droit. Discussion du paradigme autopoïé
tique appliqué au droit, in: Archives de Philosophie du Droite (1986), 133-62, insbes.
141-44.

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364 Marcelo Neves

zweiter Ordnung"
Schwierigkeit, ein
auf eine Ebene de
der Gesellschaft z
sich bereits auf di
theoretischen Sin
Rechtslehre erhob
systems nicht auf
men der moderne
als rechtswissens
ausklammert.
Dieser Beitrag versucht nicht, Kelsens Reine Rechtslehre und Luhmanns Sys
temtheorie des Rechts auf diese Weise anzunähern, geschweige denn will er eine
Zurückführung der letzteren auf erstere unternehmen.4 Auch ist es nicht das Ziel, einen
gemeinsamen Nenner bzw. eine Synthese der beiden Theoriemodelle aufzuzeigen.
Dagegen werden hier die begrifflichen Unterschiede dieser beiden Auffassungen der
Eigengesetzlichkeit des Rechts anerkannt und auf ihre jeweilige theoretische Bedeutung
und praktische Relevanz für das Verständnis des Rechts in der heutigen, asymmet
rischen Weltgesellschaft hinterfragt. Dabei gilt das Interesse der Frage, ob die Modelle
der Autonomie des Rechts, die von Kelsen und Luhmann konstruiert wurden, auf die
normativen Strukturen bzw. die kommunikativen Operationen des gegenwärtigen Rechts
eine theoretisch befriedigende Antwort geben können. Betont werden soll, dass es sich
um eine „rechtswissenschaftliche" und eine rechtssoziologische Begriffskonstruktion der
Autonomie des Rechts handelt, die unter dem systemtheoretischen Gesichtspunkt auf
die Unterscheidung von Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung zurückgehen.5 In
diesem Zusammenhang beanspruche ich, von einer bereits früher von mir unternom
menen Infragestellung der Autonomie des Rechtssystems aus einer soziologischen,
fremdbeobachtenden Perspektive6 zu einer „rechtswissenschaftlichen", „selbstbeob
achtenden" Problematisierung der Eigengesetzlichkeit des Rechts überzugehen.
Im Folgenden werde ich zuerst auf die Analyse der auf dem Stufenbau der Rechts
ordnung beruhenden Selbsterzeugung des Rechts nach Kelsens Theoriemustereinge

Michael Pawlik, Die Lehre von der Grundnorm als eine Theorie der Beobachtung zweiter
Ordnung, in: Rechtstheorie 25 (1994), 451-57.
Raffaele De Giorgi, Scienza del Diritto e Legittimazione: Critica dell'epistemologia giuridica
tedesca da Kelsen a Luhmann, Lecce 1998, S. 83 f.
Aus anderer Perspektive hat auch Horst Dreier, Hans Kelsen und Nikias Luhmann: Po
sitivität des Rechts aus rechtswissenschaftlicher und systemtheoretischer Perspektive,
in: Rechtstheorie 14 [1983], 419-458, 457, betont, dass bei allen „Konvergenzen in der
Problemanalyse" „die aufgedeckten Parallelen und Ähnlichkeiten in der Einschätzung der
Voraussetzungen, Funktionen und Folgen der Positivierung des Rechts weder in Kelsen
einen bislang unentdeckten Vorläufer hochaggregierter Systemtheorie zu erkennen erlau
ben noch Luhmann zu einem Adepten der Reinen Rechtslehre avancieren lassen."
Das gilt nicht für das Selbstverständnis der Reinen Rechtslehre, nach dem die „Rechts
wissenschaft" außerhalb des positiven Rechts steht, also sie beschreibt dieses mit Wahr
heitsanspruch, ohne Teil desselben zu sein (vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl.,
Wien 1960, 72 ff.; ders., General Theory of Law and State, Cambridge [MA] 1946, 63 f.).
Marcelo Neves, Verfassung und Posltivität des Rechts in der peripheren Moderne: Eine
theoretische Betrachtung und eine Interpretation des Falls Brasilien, Berlin 1992; ders.,
Symbolische Konstitutionalisierung, Berlin 1998, 107 ff.; ders., Zwischen Subintegration
und Überintegration: Bürgerrechte nicht ernstgenommen, in: Kritische Justiz 32 (1999),
557-77; ders., Grenzen der demokratischen Rechtsstaatlichkeit und des Föderalismus in
Brasilien, Fribourg-CH / Basel 2000; ders., Von der Autopoiesis zur Allopoiesis des Rechts,

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 365

hen und dabei das Konzept des Geltungsgrundes einer Norm und einer Rechtsord
nung sowie die Rolle der Wirksamkeit als Bedingung ihrer Geltung berücksichtigen (II).
Zweitens wird die Auffassung der Autopoiese des Rechts Systems im Luhmannschen
Theoriemodell dargestellt und in diesem Zusammenhang die Funktion der Staats
verfassung für die operative Geschlossenheit des Rechtssystems betont (III). Auf
der Basis dieser Ausführungen werde ich die Grenzen der beiden Auffassungen der
Autonomie in den Mittelpunkt stellen, aber in umgekehrter Reihenfolge: Ausgehend
von der kritischen Infragestellung der Übertragbarkeit des Begriffs der Autopoiesis
auf die verschiedenen Situationen der Reproduktion des Rechts in der (modernen)
Weltgesellschaft (IV) soll versucht werden, Vorbehalte gegen die Angemessenheit des
Konzepts der auf dem Stufenbau der Rechtsordnung beruhenden Selbsterzeugung
des Recht für die Beschreibung zahlreicher Rechtsordnungen der heutigen Weltge
sellschaft vorzubringen (V). Diesen kritischen Beobachtungen entsprechend wird im
Schluss die These aufgestellt, dass Luhmanns soziologische Theorie der operativen
Selbstreferenz des Rechtssystems und Kelsens Lehre der in dem Stufenbau der
Rechtsordnung verankerten, normativ-strukturellen Selbsterzeugung des Rechts nur
auf Rechtssysteme adäquat anwendbar sind, die auf (wenigstens minimaler) Rechts
staatlichkeit oder - allgemeiner - auf rule of law beruhen.

Ausgangspunkt der Reinen Rechtslehre ist die auf Immanuel Kants Philosophie zu
rückgehende Unterscheidung von Sein und Sollen.7 Kelsen „entnaturrechtlicht" bzw.
"positiviert" sozusagen den Dualismus von Sein und Sollen. Sollen und Sein fungieren
auf verschiedenen Ebenen im Rahmen von Kelsens Theoriegebäude. Grundsätzlich
sind sie „allgemeinste Denkbestimmung"8 oder „fundamentale Denkmodi".9 In diesem
Sinne laufen Sein und Sollen auf die Erkenntnis- bzw. Wissenschaftskategorien - oder
in Kelsens Worten - „Ordnungsprinzipien" der Zurechnung und der Kausalität hinaus.10

in: Rechtstheorie 34 (2003), 245-68; ders., Vom Rechtspluralismus zum sozialen Durchein
ander: Der Mangel an Identität der Rechtssphäre(n) in der peripheren Moderne und seine
Implikationen in Lateinamerika, in: Hauke Brunkhorst / Wenzel Matiaske (Hg.): Zentrum
und Peripherie, Mering 2004, 165-194.
7 Vgl. Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, Wien 1979, 62 ff.; Horst Dreier, Rechts
lehre, Staatsoziologie und Demokratietheorie bei Kelsen, Baden-Baden 1986, 56 ff.; Felix
Kaufmann, Kant und die Reine Rechtslehre, in: Rudolf Aladár Métall (Hg.), 33 Beiträge zur
Reinen Rechtslehre, Wien 1974 [1924], 141-51.
8 Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechts
satze, Tübingen 1923, 7.
9 Stanley L. Paulson, Neumanns Kelsen, in: Mattias Iser / David Strecker (Hg.), Kritische
Theorie der Politik: Franz L. Neumann - eine Bilanz, Baden-Baden 2002,107-28,117. Vgl.
Kelsen (Fn. 7), 44 ff.
10 Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), insbes. 79 ff.; ders., Allgemeine Staatslehre, Berlin
1925, 48 ff.; ders. (Fn. 8), 57 ff.; ders. (Fn. 7), 19 f.; Kausalität und Zurechung, in: Hans
Klecatsky / René Marcic / Herbert Schambeck (Hg.), Die Wiener rechtstheoretische Schu
le: Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkt, Alfred Verdross, Wien (u.a.) 1968 [1954], Bd.
1, 663-92; ders., Vergeltung und Kausalität, The Hague / Chicago 1941 - hier in Bezug
auf den Unterschied von („primitiver") Vergeltung (als besonderer Erscheinungsform der
Zurechnung) und („zivilisiertem") Kausalzusammenhang. Vgl. dazu Clemens Jabloner,
Bemerkungen zu Kelsens „Vergeltung und Kausalität", besonders zur Naturdeutung der
Primitiven, in: Werner Krawietz / Ernst Topitsch / Peter Koller, Ideologiekritik und Demokra
tietheorie bei Hans Kelsen (Rechtstheorie, Beiheft 4), Berlin 1982, 47-62.

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366 Marcelo Neves

Damit hängen die


schaftim allgeme
schaft12 sowie zw
zusammen. Aber d
anderen - sozusag
wenn zwischen Soll-Norm und Seins-Tatsache unterschieden wird.14 Zwar setzen
diese Unterscheidungen den Dualismus von Sollen und Sein als fundamentale Denk
bestimmungen voraus, aber sie sind nicht miteinander zu konfundieren. Auf der Basis
des Seins als allgemeinster Denkbestimmung wird der Gegenstand der Kausalwis
senschaften „erzeugt", zu dem die Seins-Tatsachen (etwa als Elementareinheiten)
gehören; auf der Basis des Sollens als grundlegender Erkenntniskategorie werden
das Objekt der Normwissenschaften und mithin der Gegenstand der Rechtswissen
schaft, die Rechtsordnung, „erzeugt", zu dem die Soll-Normen als Elementareinheiten
gehören bzw. als „das der Rechtswissenschaft gegebene Material" eingeordnet wer
den.15 Aber während die Rechtswissenschaft nach Kelsen anhand der Soll-Kategorie
auf eine rein erkenntnistheoretische Weise ihren Gegenstand, die Rechtsordnung,
„erzeugt", werden die Soll-Normen durch die Rechtsautorität erzeugt.16 Außerdem
wird in der Reinen Rechtslehre zwischen Soll-Norm (des Rechtssystems bzw. der
Rechtsordnung) und Soll-Satz (der Rechtswissenschaft), also zwischen Rechtsnorm
und Rechtssatz unterschieden: Während das Sollen der Rechtsnorm einen vorschrei
benden Sinn hat, erfüllt das Sollen des Rechtssatzes eine beschreibende Funktion;
diese Doppeldeutigkeit impliziert, dass eine Rechtsnorm nicht wahr oder unwahr sein
kann, sondern sie sind gültig oder nicht gültig, während ein Rechtssatz Anspruch auf
Wahrheit erhebt, also sich als wahr oder unwahr qualifizieren lässt.17 Allerdings muss
nicht nur das Sollen der Rechtsnorm in den Modi von Gebieten/Verbieten, Ermächti

Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 78 f.


Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 89 ff.
Flans Kelsen, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, Tübingen
1911; ders., General Theory of Law and State (Fn. 5), 162 ff.; ders., Der soziologische
und der juristische Staatsbegriff: Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und
Recht, 2. Aufl., Tübingen 1928. Siehe auch dazu Stanley L. Paulson (Flg.), Hans Kelsen
und die Rechtssoziologie: Auseinandersetzungen mit Hermann U. Kantorowicz, Eugen
Ehrlich und Max Weber, Aalen 1992.
Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), insbes. 19, mit einer kritischen Anmerkung zu Alf
Ross, Towards a Reatistic Jurisprudence: A Criticism of the Dualism in Law, Copenhagen
1946, 42 f.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 74. Die Seins-Tatsachen (insbesondere menschliches
Verhalten) interessieren der Rechtswissenschaft nur insofern, als sie Inhalt von Soll-Nor
men (hier Rechtsnormen) sind (ebd., 72 und 103 ff.)
„Aber diese .Erzeugung' [der Rechtsordnung] hat einen rein erkenntnistheoretischen Cha
rakter. Sie ist völlig anderes als die Erzeugung von Gegenständen durch menschliche Ar
beit oder die Erzeugung des Rechts durch die Rechtsautorität" (Kelsen, Reine Rechtslehre
[Fn. 5], 74 f.)
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 73 ff.; General Theory of Law and State (Fn. 5), 45 ff.
Vgl. dazu Lourival Vilanova, Niveis de Linguagem em Kelsen (Norma Jurídica / Proposiçâo
Jurídica), in: ders., Estudos Jurídicos e Filosóficos, Bd. 2, Säo Paulo 2003, 203-247; Fl.
Dreier (Fn. 7), 196 ff. In demselben Sinne unterscheidet Kelsen später zwischen Norm und
Aussage: Allgemeine Theorie der Normen (Fn. 7), 130 ff.; Manuskript vom 15.5.1959, in:
Hans Kelsen - Ulrich Klug, Rechtsnormen und logische Analyse: Ein Briefwechsel 1959
bis 1965, Wien 1981,14-29,14 ff.; Brief vom 28.7.1959, ebd., 36-38. Zu Ulrich Klugs Stel
lungsnahme siehe Ulrich Klug, Brief vom 27.4.1959, ebd., 10-12; Brief, vom 26.4.1960,
ebd., 39-41.

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 367

gen und Erlauben,18 sondern auch das Sollen des Rechtssatzes als beschreibende
Aussage über die Geltung und Bedeutung einer positiven Rechtsnorm19 vom Sollen
als grundlegende Erkenntniskategorie der Rechtswissenschaft unterschieden werden.
Auch die Soll-Sätze bzw. die Rechtssätze als beschreibende Aussagen setzen das
Sollen als fundamentale Denkbestimmung der Normwissenschaften und somit der
Rechtswissenschaft voraus, aber sie bilden kein erkenntnistheoretisches, aufbauen
des Ordnungsprinzip der Rechtswissenschaft (Zurechnungsprinzip), das nicht wahr
oder unwahr sein kann, sondern sind Aussagen innerhalb der Rechtswissenschaft,
die wahr oder unwahr sind. Zusammenfassend lassen sich bei Kelsen drei einander
voraussetzende, aber gleichzeitig klar zu unterscheidende Sinndimension bzw. Ebenen
des Sollens feststellen: das Sollen versus das Sein als die zwei Grundkategorien der
Erkenntnis (Zurechnungsprinzip und Kausalitätsprinzip): den Dualismus von Soll-Norm
und Seins-Tatsache; und schließlich den Unterschied von Soll-Norm oder Rechtsnorm
und Soll-Satz oder Rechtssatz.
Die Bestimmung der Geltung steht im Mittelpunkt der Reinen Rechtslehre. Haupt
sächlich geht Kelsen der Frage der Geltung im Rahmen der Rechtsdynamik nach20
und verknüpft diese Frage mit dem Thema des Stufenbaus der Rechtsordnung.21 Aber
bereits in den Ausführungen zum Normbegriff wird die Normgeltung entscheidend.22

Vgl. hierzu Kelsen, Reine Rechtlehre (Fn. 5), 15 f.; ders., Allgemeine Theorie der Normen
(Fn. 7), 76 ff.
„Daraus, daß der Rechtssatz etwas beschreibt, folgt aber nicht, daß das Beschriebene
eine Seintatsache ist. Denn nicht nur Seintatsachen, auch Soll-Normen können beschrie
ben werden" (Kelsen, Reine Rechtslehre [Fn. 5], 83).
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 196 ff.; ders., General Theory of Law and State (Fn. 5),
110 ff.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 228 ff.; ders., General Theory of Law and State (Fn. 5),
123 ff. Nach Kelsen selbst (Hauptprobleme der Staatsrechtslehre [Fn. 8], XV) gebührt Adolf
Merkl das Verdienst für die dynamische Betrachtungsweise und die Darstellung der stufen
weisen Konkretisierung der Rechtsordnung. Vgl. Adolf Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz:
Eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts [1918], in: Klecatsky/ Marcic/
Schambeck (Hg.) (Fn. 10), 1091-1113; ders., Prolegomena einer Theorie des rechtlichen
Stufenbaues, in: Alfred Verdross (Hg.), Gesellschaft, Staat und Recht: Untersuchungen zur
Reinen Rechtslehre - Festschrift Hans Kelsen zum 50. Geburtstage, Wien 1931, 252-94.
Dazu Robert Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung: Eine theoretische Untersuchung auf
der Grundlage der Reinen Rechtslehre, Graz 1964, 53 ff; Heinz Mayer, Die Theorie des
rechtlichen Stufenbaues, in: Robert Walter (Hg.), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre,
Wien 1992, 37-46; Bettina Stoitzner, Die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung, in:
Stanley L. Paulson / Robert Walter (Hg.), Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre: Ergeb
nisse eines Wiener Rechtstheoretischen Seminars 1985/1986 (Schriftenreihe des Hans
Kelsen-Instituts, Bd. 11), Wien 1986, 51-90; András Jakab, Probleme der Stufenbaulehre:
Das Scheitern des Ableitungsgedankens und die Aussichten der Reinen Rechtslehre, in:
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 91 (2005) 3,333-365; Stanley L. Paulson, On the
Origins of Hans Kelsen's Spätlehre, in: Dan Diner / Michael Stolleis (Hg.), Hans Kelsen and
Carl Schmitt: A Juxtaposition, Gerlingen 1999, 27-44, 37 f. Zur Auseinandersetzung mit
der Lehre vom Stufenbau siehe auch Theo Öhlinger, Der Stufenbau der Rechtsordnung:
Rechtstheoretische und ideologische Aspekte, Wien 1975; Werner Krawietz, Die Lehre
vom Stufenbau des Rechts - eine säkularisierte politische Theologie?, in: Werner Krawi
etz / Heimut Schelsky (Hg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen
(Rechtstheorie, Beiheft 5), Berlin 1984, 255-71; Andreas Trupp, Zur Kritik der Stufenbau
theorie und der wissenschaftstheoretischen Konzeption der Reinen Rechtslehre, ebd.,
299-317.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 9 ff.; ders., Allgemeine Theorie der Normen (Fn. 7),
ders.; General Theory ofLaw and State (Fn. 5), insbes. 30.

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368 Marcelo Neves

Wird die Norm als


definiert Kelsen di
dann die Frage nac
archische Modell d
Geltungsgrund ein
Stufe. In normativ
aus dem Inhalt ein
einer Norm werd
dere bestimmt, de
ganzen Ordnung g
Ordnungen des d
einen logischen S
höheren Norm ded
einer höheren Nor
nung dieses Typus
normsetzende Aut
Nach Kelsen hat
rakter."27 Die Rec
(vorausgesetzter) G
fahren der Erzeug

,„Norm' ist der Sin


re ermächtigt wird
tentional auf das V
dessen Sinn sie ist.
Sein" (Kelsen, Rein
der Normen [Fn. 7]
Kelsen, Reine Rech
ders.; General Theo
Kelsen, General Th
198; ders., Die Phi
vismus, Charlotten
Kelsen, General Th
199 f.; ders., Die Ph
vismus (Fn. 25), 19
Kelsen, Reine Rech
5), 113 ff.; ders., D
positivismus (Fn. 2
Zur vorausgesetzte
Rechtslehre (Fn. 5),
Allgemeine Staatsl
turrechtslehre und
Normen (Fn. 7), 20
gentliche' Fiktion i
Philosophie des Als
der Menschheit auf
24). Vgl. dazu auch H
Gedankens der Gru
47-59; Norberto Bo
Vilanova, Teoria da
des Anuario do Mes
des Rechts, Freibur
Paradox, in: Krawie
inhaltlicher Geltun
Grundnorm - eine

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 369

Nach Kelsen bestimmt die Grundnorm einer staatlichen Rechtsordnung: „Zwang soll
geübt werden unter den Bedingungen und in der Weise, wie es im großen und ganzen
wirksamen Verfassung und den der Verfassung gemäß gesetzten, im großen und
ganzen wirksamen generellen und den wirksamen individuellen Normen bestimmt
wird."29 Darauf beruht der Stufenbau einer Rechtsordnung. In einer Staatsordnung
„stellt die Verfassung die positivrechtlich höchste Stufe dar".30 Die Verfassung ist der
unmittelbare Geltungsgrund der generellen Rechtsnormen, nämlich der Gesetze und
der nicht-verfassungsrechtlichen Gewohnheitsnormen. Sie bestimmt nicht nur, wie
durch Gesetzgebung und Gewohnheit allgemeine Rechtsnormen erzeugt werden
sondern auch gegebenenfalls, was partiell Inhalt dieser Normen sein soll.31 Aber in
modernen Staaten ist die auf der Verfassung beruhende Stufe der generellen Nor
men in zwei oder mehrere Stufen gegliedert und dabei spielt die Unterscheidung von
Gesetz und Verordnung eine entscheidende Rolle: Der unmittelbare Geltungsgrund
einer Verordnung kann in einem Gesetz (gesetzausführende Verordnung) oder in der
Verfassung (gesetzersetzende Verordnung) liegen.32 Endlich kommt man zur unteren
Stufe der Rechtserzeugung, nämlich zu den Verfahren der Produktion der individu
ellen Rechtsnormen, die in den typischen Formen der richterlichen Entscheidungen,
Rechtsgeschäfte und Verwaltungsakte durch die generellen Normen zumeist formell
und materiell vorausbestimmt sind.33 Nach diesem Modell des Stufenbaus der Rechts
ordnung sind also Rechtserzeugung und Rechtssetzung nicht zu trennen, sie bilden die
zwei Seiten derselben Medaille: „Es ist unzutreffend, zwischen rechtserzeugenden und

on als neukantianische Erkenntnistheorie des Rechts?, in: Paulson / Walter (Hg.) (Fn. 21),
210-31 ; Thomas Fritzsche, Die Reine Rechtslehre im Lichte des Kritischen Rationalismus
(Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 23), Wien 2002, 147 ff.; Pierre Hack, La
philosophie de Kelsen: Epistémologie de la Théorie pure du droit, Genf /Basel /München
2003, 138 ff.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 212. Vgl. sinngemäß ebd., 203 e 219; Daraus folgt die
Aussage: „Gemäß der Grundnorm einer staatlichen Rechtsordnung ist die effektive Re
gierung, die auf Grund einer wirksamen Verfassung wirksame generelle und individuelle
Normen setzt, die legitime Regierung des Staates" (ebd., 214).
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 228. Kelsen bezieht sich hier auf die Verfassung im
„materiellen Sinn, das heißt: mit diesem Worte wird die positive Norm oder die positiven
Normen verstanden, durch die die Erzeugung der generellen Rechtsnormen geregelt wird"
(ebd.). Von diesem Verfassungsbegriff unterscheidet sich der Begriff der Verfassung im for
mellen Sinn: „das ist ein als .Verfassung' bezeichnetes Dokument, das - als geschriebene
Verfassung - nicht nur Normen enthält, die die Erzeugung genereller Rechtsnormen, das
ist die Gesetzgebung regeln, sondern auch Normen, die sich auf andere, politisch wich
tige Gegenstände beziehen, und überdies Bestimmungen, deren zufolge die in diesem
Dokumente, dem Verfassungsgesetz, enthaltenen Normen nicht so wie einfache Gesetze,
sondern nur unter erschwerten Bedingungen in einem besonderen Verfahren aufgehoben
oder abgeändert werden können" (ebd., 228 f.). Aber in der Reinen Rechtslehre steht das
Konzept der Verfassung im materiellen Sinn im Vordergrund: „Diese Bestimmungen [der
Verfassung im formellen Sinn - MN) stellen die Verfassungsform dar, die [...] in erster Linie
der Stabilisierung der Normen dient, die hier als materielle Verfassung bezeichnet werden
und die die positivrechtliche Grundlage der gesamten staatlichen Rechtsordnung sind"
(ebd., 229). Zur Unterscheidung von Verfassung im materiellen Sinn und Verfassung im
formellen Sinn siehe auch Kelsen, ders., General Theory of Law and State (Fn. 5), 124 ff.;
ders., Allgemeine Staatslehre (Fn. 10), 251 ff.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 230 ff.; ders., General Theory of Law and State (Fn. 5),
125 ff.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 235 f.; ders., General Theory of Law and State (Fn. 5),
130 f.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 242 f. und 261 ff.; ders. General Theory of Law and
State (Fn. 5), 134 ff.

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370 Marcelo Neves

rechtsanwendenden Akten zu unterscheiden. Denn wenn man von Grenzfällen - der


Voraussetzung der Grundnorm und der Vollstreckung des Zwangsaktes - absieht,
zwischen denen sich der Rechtsprozeß abspielt, ist jeder Rechtsakt zugleich di
Anwendung einer höheren Norm und die durch diese Norm bestimmte Erzeugung
einer niederen Norm."34 Wenn man nur positivrechtliche Normen in Betracht zieht,
so ist zu beachten, dass der die neue Rechtsordnung stiftende verfassunggebende
Akt - das heißt die Erzeugung der „ersten", nicht durch verfassungsmäßige Verfahren
geänderten Verfassung - nur Erzeugung (nicht Anwendung) von positiven Recht
normen ist - vorausgesetzt, dass man vom Primat der staatlichen Ordnung ausgeht
und mit deren Grundnorm die obere Grenze des Stufenbaus schließt.35 Aber nach
der monistischen Rechtsauffassung Kelsens ändert sich dies, wenn man sich für den
Primat des Völkerrechts entscheidet.36 Aus dieser Perspektive beruht die Verfassung
auf der Völkerrechtsordnung und unmittelbar auf deren Effektivitätsprinzip und somit
ist die Erzeugung der „ersten Verfassung" gleichzeitig Anwendung dieses Prinzips als
völkerrechtlicher Norm.37 Dementsprechend ist der letzte Geltungsgrund aller positiven

34 Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 240. Vgl. dazu ders., General Theory of Law and State
(Fn. 5), 132 f. Auf der niederen Ebene des Stufenbaus bezieht sich Kelsen nicht nur auf
die Vollstreckung des Zwangsaktes, sondern auch auf die Rechtsbefolgung als „jenes Ver
halten, an dessen Gegenteil der Zwangsakt der Sanktion geknüpft ist", das heißt: „das die
Sanktion vermeidende Verhalten" (Reine Rechtslehre, 242).
35 Zum Primat der staatlichen Rechtsordnung siehe Flans Kelsen, Das Problem der Souve
ränität und die Theorie des Völkerrechts: Beitrag zu einer reinen Rechtslehre, Tübingen
1920,151 ff.; ders., Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht [1958], in: Klecats
ky / Marcic / Schambeck (Hg.) (Fn. 10), 2213-2229, 2214 ff.; ders., Reine Rechtslehre (Fn.
5), 333 ff.; ders., Allgemeine Staatslehre (Fn. 5), 121 ff.
36 Zum Primat der Völkerrechtsordnung siehe Kelsen, Das Problem der Souveränität und die
Theorie des Völkerrechts (Fn. 35), 204 ff.; ders., Die Einheit von Völkerrecht und staatli
chem Recht (Fn. 35), 2217 ff.; ders. Reine Rechtslehre (Fn. 5), 336 ff.; ders., Allgemeine
Staatslehre (Fn. 10), 123 ff. Zu den beiden Hypothesen (Primat der staatlichen Rechtsord
nung oder Primat der Völkerrechtsordnung) vgl. auch ders., General Theory of Law and
State (Fn. 5), 376 ff. Für Kelsen liegt die Entscheidung zwischen beiden Konstruktionen
„außerhalb der Rechtswissenschaft. Sie kann nur durch andere als wissenschaftliche,
sie kann durch politische Erwägung bestimmt werden" und läuft grundsätzlich auf eine
„politischen-ideologische" Vorentscheidung für den Imperialismus (Primat der staatlichen
Rechtsordnung) oder den Pazifismus (Primat der Völkerrechtsordnung) hinaus; ders., Rei
ne Rechtslehre, 343 ff., 345; Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, 2226 ff.,
2228. Zur „juristischen Gleichwertigkeit" der beiden Grundhypothesen siehe auch ders.,
Allgemeine Staatslehre, 128 f.; ders., General Theory of Law and State, 386 ff.; Jochen
von Bernstorff, Der Glauben an das universale Recht: Zur Völkerrechtstheorie Hans
Kelsens und seiner Schüler, Baden-Baden 2001, 91 ff. Aber in Bezug auf die erkenntnis
theoretische Bedeutung der beiden Hypothesen (subjektivistische Weltanschauung für
den Primat der staatlichen Rechtsordnung und objektivistische Weltanschauung für den
Primat der Völkerrechtsordnung) nimmt Kelsen einen gewissen Abstand von derThese der
„juristischen Gleichwertigkeit" ein und setzt sich eher für den Primat der völkerrechtlichen
Ordnung ein: „Ohne damit eine Entscheidung zwischen beiden Weltanschauungen treffen
zu wollen, muß doch hervorgehoben werden, daß die subjektivistische Rechtsanschauung
letzten Endes zu einer Negation des Rechtes überhaupt und sohin der Rechtserkenntnis,
der Rechtswissenschaft führen muß. Denn das unverlierbare Wesen des Rechts, seine
ganz Existenz liegt in der Objektivität seiner Geltung"; Das Problem der Souveränität und
die Theorie des Völkerrechts, 317; Allgemeine Staatslehre, 132. Im Unterschied zu Kelsen
hat Alfred Verdross (Völkerrecht, 5. Aufl., Wien 1964, 115 ff.) die rechtswissenschaftliche
Relevanz des Primats des Völkerrechts entschieden vertreten.
37 Kelsen., General Theory of Law and State (Fn. 5), 121 f. und 367 f.; ders., Reine Rechts
lehre (Fn. 5), 221 f. und 336; ders., Allgemeine Staatslehre (Fn. 10), 126 ff. Vgl. dazu Bern
storff (Fn. 36), 82.

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 371

Rechtsnormen, auch der staatlichen Rechtsnormen, die vorausgesetzte Grundnorm


des Völkerrechts, „die die Staatengewohnheit als rechtserzeugenden Tatbestand ein
setzt".38 Von dieser Grundnorm ausgehend bildet sich der Stufenbau des Völkerrechts:
Unmittelbar auf ihr beruhen die Normen des allgemeinen Gewohnheitsvölkerrechts
(ein besonders relevantes Beispiel: „pacta sunt servanda"), auf diese stützen sich
die Normen des partikulären Vertragsvölkerrechts, auf denen wiederum die Normen,
die durch internationale Gerichte und andere vertraglich eingerichtete internationale
Organe erzeugt werden, beruhen.39
Dass nach Kelsen die Geltung einer Rechtsnorm auf einer anderen Norm höherer
Stufe und letztendlich auf der vorausgesetzten Grundnorm der entsprechenden Rechts
ordnung beruht (Geltungsgrund), bedeutet allerdings nicht, dass die Effektivität bzw.
Wirksamkeit der Rechtsordnung und einer einzelnen Rechtsnorm für die Geltung des
Rechts unbedeutend ist. Wie schon oben angedeutet wurde, „[kann] zwischen Geltung
und Wirksamkeit ein gewisser Zusammenhang bestehen".40 Für die Rechtsordnung
behauptet Kelsen eindeutig: „Wirksamkeit ist als Bedingung der Geltung in der Grund
norm statuiert."41 Das heißt: Auch die Grundnorm statuiert das Prinzip der Effektivität,
nach dem eine Rechtsordnung gilt, wenn sie „im Großen und Ganzen" wirksam ist,
also deren höchste Normen (die Verfassung im Fall der staatlichen Ordnung) und die
darauf beruhenden Normen „im Großen und Ganzen" befolgt bzw. (letztendlich durch
die Vollstreckung des Zwangsaktes) angewendet werden.42 Aber ebenso ist nach
Kelsen ein Minimum an Wirksamkeit einer einzelnen Norm Bedingung ihrer Geltung:
Wenn eine Norm „nirgends und niemals angewendet und befolgt wird", wenn sie mit
anderen Worten „nicht bis zu einem gewissen Grade wirksam ist", wird sie „nicht als
gültige Rechtsnorm angesehen".43 So weist die Reine Rechtslehre nicht nur den
Rechtsrealismus, der die Geltung des Rechts mit dessen Wirksamkeit identifiziert,
zurück, sondern auch den Rechtsidealismus, nach dem kein Zusammenhang zwi
schen Wirksamkeit und Geltung bestehe, also die Geltung von der Wirksamkeit ganz
unabhängig sei. Nach Kelsen ist die idealistische These „falsch, denn es kann nicht
geleugnet werden, dass eine Rechtsordnung als Ganzes ebenso wie eine einzelne
Rechtsnorm ihre Geltung verliert, wenn sie aufhört wirksam zu sein".44 Berücksichtigt
man, dass die Wirksamkeit in diesem Sinne eine Bedingung der Geltung darstellt,
so ist es nicht richtig zu behaupten, dass Kelsens These der sich stufenweise entwi
ckelnden auf der Grundnorm beruhenden Selbsterzeugung der Rechtsordnung eine
„formalistische", „idealistische" oder „logische" Isolierung des Rechts sei.45 Es handelt

Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 223. Vgl. auch ebd., 325 und 339; ders., General Theory
of Law and State (Fn. 5), 369 f.; dazu Bernstorff (Fn. 36), 141 ff.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 223. Vgl. auch ebd., 324 f.; dazu Bernstorff (Fn. 36),
145 ff.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 10.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 212. Vgl. auch ebd., 82.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 48, 212, 214 f. und 219; ders., General Theory of Law
and State (Fn. 5), 41 f. und 118 f.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 10. Vgl. ebd., 92 und 220, hiermit Hinweis auf die desu
etudo als „eine gleichsam negative Gewohnheit, deren wesentliche Funktion darin besteht,
die Geltung einer bestehenden Norm aufzuheben." Dazu auch ders., Allgemeine Theorie
der Normen (Fn. 7), 112f.;ders., General Theory of Law and State (Fn. 5), 119 f.
Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 215 f. Kelsen ergänzt: „und daß auch insofern eine Be
ziehung zwischen dem Sollen der Rechtsnorm und dem Sein der Naturwirklichkeit besteht,
als die positive Ordnung, um zu gelten, durch einen Seinsakt gesetzt werden muß" (ebd.,
216 f.).
Vgl. hierzu Paulson (Fn. 9), 109-13.

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372 Marcelo Neves

sich eher um ein


als „allgemeinste D
abgeschlossen betr
minimale Wirksam
System. Aber aus
werden die Soll-No
strukturellen Eben
halts der Rechtsor
ist die strenge No
hinsichtlich der Se
der Rechtsordnun
sich die auf der Gr
Dies führt unver
tems nicht durch
Prozess verworrener Ebenen der rechtlichen Produktion entwickelt.

III.

Bei Niklas Luhmanns auf Fremdbeobachtung basierter, soziologisch-systemtheore


tischer Auffassung der Selbstproduktion des Rechts steht die operative Ebene der
Kommunikationen im Vordergrund. Außerdem bestehen die Strukturen des Rechts aus
Normen, die als stabilisierte Erwartungen verstanden werden. Auf der strukturellen
Ebene geht Luhmann also nicht wie Kelsen von der Unterscheidung zwischen (nicht
wirklichem) Sollen und (wirklichem) Sein, sondern von der Unterscheidung zwischen
normativen und kognitiven Erwartungen aus.47 Die normativen Erwartungen implizieren
prinzipiell die nichtlernende, lernunwillige Einstellung der Erwartenden gegenüber den
Enttäuschungsfällen bzw. der enttäuschenden Wirklichkeit; die Erwartenden halten an
ihren Erwartungen fest, protestieren gegen die Wirklichkeit, sind nicht anpassungs
fähig. Für die kognitiven Erwartungen ist demgegenüber die Lernbereitschaft kenn
zeichnend, bei ihnen behalten die Erwartenden eine lernwillige Einstellung zu den
Enttäuschungsfällen, zeigen sich also in der Lage, sich der Wirklichkeit anzupassen,
auf ihre Erwartungen in Enttäuschungsfällen zu verzichten oder diese zu verändern.48
Zwar hängt diese Unterscheidung mit dem klassischen Dualismus von Sein und Sollen
zusammen. Aber bei Luhmann bedeutet der kontrafaktische Sinn des Sollens nicht
dessen Idealität bzw. Irrealität. Im expliziten Gegensatz zu Kelsen behauptet er den
faktischen Charakter des Sollens: „Obwohl kontrafaktisch ausgerichtet, ist der Sinn
des Sollens nicht weniger faktisch als der Sinn des Seins. Faktisch ist alles Erwarten,
seine Erfüllung ebenso wie seine Nichterfüllung. Das Faktische umfaßt das Norma
tive. Die übliche Entgegensetzung von Faktischem und Normativem sollte deshalb
aufgegeben werden. [...] Seinen adäquaten Gegensatz hat das Normative nicht im

Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), S.3 f. Vgl. auch ders., General Theory of Law and State
(Fn. 5), 41 und 47 ff.
Vgl. hierzu Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 3. Aufl., Opladen 1987, 40-53; ders., Sozi
ale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1987, 436-43.
Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), 42 f.; ders., Soziale Systeme (Fn. 47), 437.; ders.,
Posltivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: ders., Ausdiffe
renzierung des Rechts, Frankfurt am Main 1981,113-153,115 f

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 373

Faktischen, sondern im Kognitiven."49 Außerdem wird betont, dass die Trennung von
Sein und Sollen - und damit der Dualismus,kognitive/normative Erwartungen'- „keine
a priori vorgegebene Weltstruktur, sondern eine evolutionäre Errungenschaft" ist.50 So
wird in einfacheren Gesellschaften zwischen Normativem und Kognitivem noch nicht
klar unterschieden.51 Andererseits bleibt die Grenze zwischen normativen und kogni
tiven Erwartungen immer fließend. „Die Gemengelage von kognitiven und normativen
Erwartungskomponenten ist ein alltagsweltlich normaler Sachverhalt...."52 Außerdem
kann das, was heute normative Erwartungen fördert, morgen kognitive Erwartungen
erfordern, und umgekehrt: Der Inhalt früherer kognitiver Erwartungen kann zum Inhalt
gegenwärtiger normativer Erwartungen werden.
Nach dieser Unterscheidung lassen sich Normen als „kontrafaktisch stabilisierte
Verhaltenserwartungen"53 definieren. Der kontrafaktische Charakter bedeutet, dass
die faktische Erfüllung oder Nichterfüllung der Normen im Prinzip irrelevant für ihre
Geltung ist.54 Der an Normen orientierte Erwartende wird nicht ihre Geltung im Fall der
Nichterfüllung leugnen, sondern dieselbe bestätigen, insofern eran seinen Erwartungen
festhalten und sich über das gegen die Normen verstoßende Verhalten beklagen wird.
Ab einem bestimmten Umfang aber kann die stetige Nichterfüllung der Normen ihre
Geltung so beeinträchtigen, dass das Festhalten an den jeweiligen Erwartungen als
„abnormal", „unsinnig", „lächerlich" oder sogar „gefährlich" erscheinen kann. In diesen
Fällen stützen sich die normativen Erwartungen nicht mehr auf sozial geltende Nor
men.

Indem Luhmann die Normen als kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwart


begreift, definiert er das Recht „als Struktur eines sozialen Systems, die auf k
enter Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen beruht."55 Diese kong
Generalisierung umfaßt die Zeit-, Sozial- und Sachdimension, d.h. sie stützt sic
die Normierung, Institutionalisierung und Sinnidentifikation als Generalisieru

Luhmarin, Rechtssoziologie (Fn. 47), 43 f. Jedoch schränkt Luhmann in Bezug a


Sachverhalt der funktionalen Ausdifferenzierung des Rechts ein: „In der Rechtsth
erscheint dieser Sachverhalt als die logische Unmöglichkeit, Normen aus Fakten a
ten. Dieses Verbot scheint in dem Maße entdeckt worden zu sein, als die gesellschaf
Evolution zur Ausdifferenzierung des Rechtssystems und zum Abbau naturrechtlic
missen geführt hat. Es gilt heute unbestritten. Auch die Soziologie wird es zu respe
haben. Dennoch, und gerade deshalb, nimmt die rechtssoziologische Beobachtun
ganz andere Position ein als die systeminterne Beobachtung. Für die Rechtssoz
sind Normen Fakten, so daß sich das Problem einer logischen Deduktion gar nicht
Die soziologische Beobachtung des Rechts, Frankfurt am Main 1986, 21.
Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), 44
Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), 116. Aber auch Kelsen kommt - unter ganz an
Gesichtspunkt - in Bezug auf die „Primitive Naturauffassung" zu einer ähnlichen
(vgl. Hans Kelsen, Vergeltung und Kausalität, [Fn. 10], 7 ff.; ders., Reine Rechtsleh
5], 86-88).
Luhmann, Soziale Systeme (Fn. 47), 438; vgl. dazu auch ders., Rechtssoziologie (Fn. 47),
44-46
Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), 43; vgl. auch ders., Evolution des Rechts, in: Ausdif
ferenzierung des Rechts (Fn, 48), 11-34,17.
Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), S.43
Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), 105. An anderer Stelle (ebd., 99) wird das Recht
einfach als die „kongruent generalisierten normativen Verhaltenserwartungeii' bezeichnet
Das heißt mit anderen Worten, dass „das Recht umfassende Funktionen der Generali
sierung und Stabilisierung von Verhaltensenwartungen [erfüllt]" (ders., Rechtssystem und
Rechtsdogmatik, Stuttgart 1974, 24).

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374 Marcelo Neves

chanismen.56 Im H
chanismen, die ein
gesellschaftliche F
nach Luhmann w
Erwartenden zur g
Verhaltenserwartu
lediglich „besond
expressive Anpassu
selseitige Orientier
bilisiert die soziale
sie die Instabilität
die „erfolgreich" s
Verhaltenserwartu
z.B. nicht naiv vo
oder sogar diesel
haltenserwartunge
bestimmter Verha
Glauben der Hand
Aber nicht nur de
mativen und kogn
verweisen auf die
und Kelsens Rechtslehre. Darüber hinaus ist der Unterschied zwischen beiden Theorie
modellen bezüglich der Selbsterzeugung der Rechtsordnung bzw. der Selbstproduktion
des Rechtssystems besonders bedeutsam.
Bei Luhmann hängt die Selbstproduktion des Rechtssystems mit der funktionalen
Differenzierung als primärer Differenzierungsform der modernen Gesellschaft zu
sammen.63 So wird die funktionale Ausdifferenzierung des Rechtssystems durch den
Begriff der „Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft"

Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie (Fri. 47), 94 ff. Hier bezieht sich das Konzept der Institu
tionalisierung nur auf die Sozialdimension („unterstellten Konsens") (vgl. auch ebd., 64 ff.);
aber an anderer Stelle nimmt der Begriff .Institution' eine umfassende Bedeutung an: „Insti
tutionen sind zeitlich, sachlich und sozial generalisierte Verhaltenserwartungen und bilden
als solche die Struktur sozialer Systeme" (ders., Grundrechte als Institution: Ein Beitrag
zur politischen Soziologie, Berlin 1965, 13).
Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), 95-98.
Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), 99
Über instrumentelle und expressive Variablen siehe Niklas Luhmann, Legitimation durch
Verfahren, Frankfurt am Main 1983, 223-32; ders., Rechtssoziologie (Fn. 47), 315 ff.
Dementsprechend behauptet Luhmann (Rechtssoziologie [Fn. 47], 100): „Recht ist keines
falls primär eine Zwangsordnung, sondern eine Erwartungserleichterung."
Trotz anderer Voraussetzungen („auf Glauben beruhende Geltung") äußert sich Max We
ber ( Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen
1985,16 f.) ähnlich dazu.
Selbstverständlich kann man nicht mehr von kongruenter Generalisierung der Verhaltens
erwartungen sprechen, falls der Mangel an Befolgung und Durchsetzung eine bestimmte
Grenze überschreitet, von welcher an das Recht seine erwartungssichernde Funktion
verliert. In anderer Perspektive macht Weber (Fn. 61,17) eine ähnliche Bemerkung. Nach
Geigers „realistischer" Auffassung wäre die „Geltung" oder Verbindlichkeit der Rechtsnor
men graduell, messbar; vgl, Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 2.
Aufl., Neuwied/Berlin 1970, insbes. 207 ff.; kritisch dazu Luhmann, Rechtssoziologie [Fn.
47], 43, Anm. 32.
Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, Halb
band 2, 613, 707 ff. und 743 ff.; ders. / Raffaele De Giorgi, Teoría délia società, Milano
1992, 256, 290 ff. und 302 ff.

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 375

erfasst.64 Zunächst wird die Positivität als Gesetztheit und Änderbarkeit des Rechts
definiert.65 Nach diesem noch „schwachen" Konzept der Positivität handelt es sich
besonders um die funktionale Spezifikation des Rechts.66 Nach Luhmann aber hängt
die funktionale Ausdifferenzierung des Rechts (sowie der Politik) in der modernen Ge
sellschaft grundsätzlich von dessen zweiter, segmentärer Differenzierung in verschie
denen Staatsgebieten ab. Demnach bildet das „Völkerrecht" vielmehr einen Ausdruck
der primär politischen, internationalen Beziehungen,67 während die Menschenrechte
als Kandidat zu einem Weltrecht noch unzureichend institutionalisiert sind.68 Kurzum:
Wird die Ausdifferenzierung des Rechtssystems in einer ersten Formulierung mit
dessen funktionaler Spezifikation gleichgesetzt und auf die Positivität als Gesetztheit
und Änderbarkeit des Rechts zurückgeführt, so wird dabei die segmentäre, staatliche
Zweitdifferenzierung des Rechts hervorgehoben.
Mit der Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie kommt ein „starker" Begriff
der Ausdifferenzierung bzw. der Positivität des Rechts hinzu. Zwar werden weder die
funktionale Spezifikation noch die Gesetztheit und Änderbarkeit als Eigenschaften des
Rechts der modernen Gesellschaft außer Acht gelassen, aber der Aspekt der operativen
Geschlossenheit bzw. Autonomie des Rechtssystems wird in den Vordergrund gestellt
und gewinnt immer mehr an Bedeutung. Deshalb wird in Luhmanns späterem Werk der
Begriff der Positivität selbst als theoretisch nicht ausreichend angesehen, insofern er
dem „Vorwurf des ,Dezisionismus'" unterliegt oder als Gegenbegriff zum Naturrechts
konzept aufgefaßt werden kann.69 Demgemäß wird eine neue Begriffsbestimmung des
gewöhnlich im semantischen Rahmen des Ausdrucks .Positivität' erörterten Problems
vorgeschlagen.70 Es handelt sich strenggenommen um eine Umformulierung des
Konzepts, nach welcher der Aspekt der Gesetztheit der Dimension der operativen Ge
schlossenheit bzw. Autonomie untergeordnet wird. Die Positivität bedeutet dann, dass
die Entscheidung, auch wenn sie eine radikale Änderung des Rechts zur Folge hat,
ihren normativen Sinn aus dem Rechtssystem selbst erhält. In dieser Perspektive wird
die Idee der Autopoiesis (Selbstreferenz, operative Autonomie bzw. Geschlossenheit,
Selbstbestimmtheit) des Rechts zum Kern des Begriffs der Positivität.71
In dieser begrifflichen Konstellation lässt sich die Ausdifferenzierung des Rechts in
der modernen Gesellschaft als Kontrolle der Code-Differenz von Recht und Unrecht

Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft (Fn. 4
Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), 196 und 203; ders., Legitimation durch Verfahr
(Fn. 59), 141 ; ders., Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellscha
(Fn.48), 125.
Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), 217 ff.; Legitimation durch Verfahren (Fn. 59), 145
Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 47), 338 ff.; ders., Die Gesellschaft der Gesellscha
(Fn. 63), Halbband 1, 159 ff.
Vgl. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993, 574 ff.; der
Das Paradox der Menschenrechte und drei Formen seiner Entfaltung, in; Rechtsnorm u
Rechtswirklichkeit: Festschrift für Werner Krawietz zum 60. Geburtstag, Berlin 1993,
546, 543 ff.
Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, (Fn. 68), 38 ff,
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (Fn. 68), 40
Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (Fn. 68), 38-123; ders. Positivität als Selbst
bestimmtheit des Rechts, in: Rechtstheorie 19 (1988), 11-27; ders., Einige Probleme mit
„reflexivem Recht", in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 6 (1985), 1-18; ders., Die Einheit des
Rechtssystems, in: Rechtstheorie 14 (1983), 129-54; ders., Selbstrefiexion des Rechtssy
stems: Rechtstheorie in gesellschaftstheoretischer Perspektive, in: ders., Ausdifferenzie
rung des Rechts (Fn. 48), 419-50. Die folgenden Ausführungen zur Autopoiesis des Rechts
beruhen auf meinen früheren Beiträgen zu diesem Thema (Neves, Von der Autopoiesis zur
Allopoiesis des Rechts [Fn. 6] bzw. Symbolische Konstitutionalisierung [Fn. 6], 112 ff.).

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376 Marcelo Neves

durch ein darauf s


Selbstbestimmthei
heit des Rechts be
Recht. Die prakti
Programmen und
Verfassungsnorm
inhaltslosen Form,
diesem Sinne impl
grammierung", s
möglicht wird.73
aufgenommen, ab
tem umzuschalten
Umweltlosigkeit h
Unrecht zur opera
umweltlich beding
auf der Unterschei
erst klar entwicke
ausschließlich durc
Normatives/Kogni
zeitig mit dessen U
benutzen diese Dif
Offenheit ihres Um
ein normativ gesc
der Autopoiesis de
kognitive Qualität
tems".75 Das impliz
des positiven Rech
Selbstreferenz übe
siert'".76
Aus dieser Perspektive kann das Rechtssystem die umweltlichen Faktoren nach
seinen eigenen Kriterien verarbeiten, aber nicht direkt durch diese Faktoren beeinflußt
werden. Die Rechtsgeltung der normativen Erwartungen lässt sich nicht unmittelbar
gemäß ökonomischen Interessen, politischen Kriterien, ethischen Vorstellungen oder

Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (Fn. 68), 60 f und 71 f.


Vgl. Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation: Kann die moderne Gesellschaft sich
auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986, 82 f. und 89 ff. Aus einer de
konstruktivistischen Perspektive interpretiert Stäheli den Code im Luhmannschen Sinne
als „leeren Signifikant" und grenzt die Beziehung zwischen Code und Programm „auf eine
.gutartige' Supplementarität" ein; Urs Stäheli, Der Code als leerer Signifikant? Diskurs
theoretische Beobachtungen, in: Soziale Systeme: Zeitschrift für soziologische Theorie 2
[1996], 257-81,279.
Luhmann, Das Rechts der Gesellschaft (Fn. 68), 138 ff.
Luhmann, Die Einheit des Rechtssystems (Fn. 71), 139. Vgl. auch ders., The Self-Repro
duction of the Law and its Limits, in: Felippe Augusto de Miranda Rosa (Hg.), Direito e
Mudança Social, Rio de Janeiro 1984,107-28,110 ff.; ders., Das Rechts der Gesellschaft
(Fn. 68), 77 ff.
Niklas Luhmann, Interesse und Interessenjurisprudenz im Spannungsfeld von Gesetzge
bung und Rechtsprechung, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 12 (1990), 1-13,10;
vgl. dazu auch ders., Das Rechts der Gesellschaft (Fn. 68), 393 ff.

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 377

gar wissenschaftlichen Sätzen bestimmen,77 sie hängt von selektiven, begrifflichen


Filterungsprozessen innerhalb des Rechtssystems ab.78 Die Lernfähigkeit (kognitiv
offene Dimension) des positiven Rechts ermöglicht, dass es sich ändert, um sich an die
komplexe und „schnelllaufende" Umwelt anzupassen. Die normative Geschlossenheit
verhindert die Verschmelzung von Rechtssystem und Umwelt, erfordert die interne
„Digitalisierung" von umweltlichen Informationen. Die gesellschaftliche Ausdifferen
zierung des Rechts ist nichts anderes als die Ermöglichung der rechtssystemeigenen
Vermittlung dieser beiden Orientierungen.79 Die Änderbarkeit des Rechts wird dadurch
verstärkt, nicht - wie im Hinblick auf eine umweltlose Geschlossenheit zu behaupten
wäre - verhindert; aber sie geschieht nach den inneren, spezifischen Kriterien eines
lernfähigen, umweltsensiblen Systems.80
Einerseits ist die selbstreferentielle Geschlossenheit kein Selbstzweck des Systems,
sondern „Bedingung der Möglichkeit für Offenheit".81 Die Radikalisierung der These der
Geschlossenheit als Umweltlosigkeit verkennt das zentrale Problem der Anschlußfä
higkeit (im Unterschied zu dem der Wiederholung) zwischen Elementarereignissen.82
Nur unter den Bedingungen der kognitiven Umweltoffenheit (Lernfähigkeit) kann das
Rechtssystem Vorkehrungen für die Entparadoxierung der Selbstreferenz treffen und
so Anschlußfähigkeit ermöglichen.83 Kognitive Geschlossenheit des Rechtssystems
würde eine unüberwindliche Paradoxie der Autopoiesis hervorbringen, eine Interde
pendenzunterbrechung durch den Bezug auf die Umwelt unmöglich machen.84
Andererseits aber würde die Unterbrechung der normativen Geschlossenheit
durch die Infragestellung der Code-Differenz von Recht und Unrecht die Autonomie
des Rechtssystems beeinträchtigen, d.h. hier zu heteronomisierenden Paradoxien
führen: „Wenn ein System eine Leitdifferenz als Code der Gesamtheit seiner Operati
onen einsetzt, muß diese Selbstanwendung des Code auf den Code ausgeschlossen
werden. Die Selbstreferenz wird nur innerhalb des Code zugelassen, und hier als Ne

Was die wissenschaftliche Erkenntnis anbelangt, behauptet Luhmann im Einklang damit:


„Es wäre für das Rechtssystem aber sicherlich fatal - und vor allem politisch fatal -, wenn
es durch einen Austausch zentraler Theorieelemente oder auch durch einen Paradigma
wechsel revolutioniert werden könnte". Luhmann, Einige Probleme mit „reflexivem Recht"
[Fn. 71], 17; vgl. auch ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990,
593 f. und 663 f.; im Hinblick auf die Interdependenz von Recht und Wissenschaft ders.,
Das Rechts der Gesellschaft [Fn. 68], 86 u. 91 f.
„Externe Entwicklungen", so betont Teubner, „werden einerseits nicht ignoriert, noch wer
den sie andererseits nach dem ,Stimulus-response-Schema' direkt in interne Wirkungen
umgesetzt, sondern sie werden nach Kriterien eigener Selektivität in die Rechtsstrukturen
gefiltert und eingepaßt in die interne Logik normativer Entwicklung"; Gunther Teubner, Re
flexives Recht: Entwicklungsmodelle des Rechts in vergleichender Perspektive, in: Arehiv
für Rechts- und Sozialphilosophie 68 [1982], 13-59, 21. Später bekräftigt er: „Autonomie
des Rechts bezieht sich auf die Zirkularität seiner Selbstreproduktion und nicht auf seine
kausale Independenz von der Umwelt". Ders., Rechtals autopoietisches System, Frankfurt
am Main 1989, 47. Im Einklang damit, allerdings unter ganz anderen Voraussetzungen,
behauptet Dennis Patterson (Law and Truth, New York / Oxford 1996,182): „The law is not
isolated from the social and discursive Spaces around it. However, law is an indentifiable
[sie] practice, one with its own argumentative grammar."
Luhmann, Die Einheit des Rechtssystems (Fn. 71), 152 f.
Vgl. Luhmann, Die Einheit des Rechtssystems (Fn. 71), S.136.
Luhmann, Soziale Systeme (Fn.47), 606; vgl. auch ders., Das Rechts der Gesellschaft (Fn.
68), 76 und 79.
Luhmann, Soziale Systeme (Fn. 47), 62
Vgl. Luhmann, Soziale Systeme (Fn. 47), S.59.
Vgl. Luhmann, Soziale Systeme (Fn. 47), 65.

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378 Marcelo Neves

gation operational
das Operieren na
Paradoxie der Selb
die „Selbstanwend
haben, sondern au
fähigkeit der auto
Besonders in di
Theorie der Positi
Rechts.86 Dass der
Determination des
Machthaber, sond
ist, macht für Luh
des positiven Rech
Diskurs kursieren
der rechtlich irre
Gerechtigkeit nur
rechtigkeit) oder a
Es handelt sich, m
weltoffenheit, anp
der autopoietische
des Rechts nicht a
mas' Diskurstheor

Nikias Luhmann, E
alen Systeme im al
und „Enttautologi
Rechts der Gesells
Vgl. vor allem Nik
sellschaft, in: ders
Selbstbestimmthe
38; ders., Quod om
in: Rechtshistorisc
systemtheoretisch
ral - Ideologie: Stu
mas, Faktizität un
schen Rechtsstaats
Anderen: Studien z
Theorie der juristi
der juristischen Be
für Angemessenhe
318-34.
Nikias Luhmann, Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts (Fn. 71), 27. Eben desha
wurde von Kasprzik Luhmanns Ansatz als „Entfundamentalisierung" bezeichnet (Brigit
Kasprzik, Ist die Rechtspositivismusdebatte beendbar? Zur Rechtstheorie Nikias Lu
manns, in: Rechtstheorie 16 [1985], 367-81, 368 ff.).
Luhmann, Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts (Fn. 71), 26 f.; vgl. auch der
Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft (Fn. 86), 388 ff.; ders
Das Recht der Gesellschaft (Fn. 68), 225 f.
„Die eigentümliche Leistung der Positivierung der Rechtsordnung besteht darin, Begrü
dungsprobleme zu verlagern, also die technische Handhabung des Rechts über weit
Strecken von Begründungsproblemen zu entlasten, aber nicht darin, die Begründun
problematik zu beseitigest'; Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handeln
2. Aufl., Frankfurt am Main 1982, Bd. 1, 353; vgl. auch Bd. 2, 536. Später wird der Wid
spruch zu Luhmanns Konzeption der Positivität als Systemautonomie schärfer formulie

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 379

das Recht seine Funktion kongruenter Generalisierung von Verhaltenserwartungen


gegenüber einer hochkomplexen, mit verschiedensten normativen Erwartungen über
fluteten Umwelt erfüllt, erfordert nach Luhmann eine radikale Entlastung von ethischer
bzw. moralischer Begründung, sei es material oder argumentativ-prozedural.90 Eine
eventuelle Relevanz von wertbezogenen Bedenken würde dementsprechend Starrheit
des Rechtssystems, Blockierung seiner selektiven Aufgabe zur Folge haben, hätte also
dysfunktionale Wirkungen. Kurzum: Nach Luhmanns Konzeption der Rechtspositivität,
d.h. der normativen Geschlossenheit und kognitiven Offenheit des modernen Rechts,
wird das Problem der Gerechtigkeit auf die Frage nach der adäquaten Komplexität des
Rechtssystems und nach der Konsistenz seiner Entscheidungen umgestellt.91
Da die segmentäre Zweitdifferenzierung für das Rechtssystem der (modernen)
Weltgesellschaft kennzeichnend ist, hängt dessen funktionale Ausdifferenzierung
und operative Autonomie nach Luhmann mit der Emergenz von „Verfassung als
evolutionäre[r] Errungenschaft der modernen Gesellschaft" zusammen.92 Aus dieser
Perspektive definiert Luhmann die Verfassung als „strukturelle Kopplung" von Politik
und Recht93 und betont, dass diese strukturelle Kopplung „auf der Ebene der Weltge
sellschaft keine Entsprechung hat."94 Nach dieser Auffassung erweist sich die Verfas
sung im strikt modernen Sinne nicht nur als Brücke zur Übertragung wechselseitiger
Leistungen, sondern vor allem als Mechanismus der ständigen und konzentrierten
Interpénétration von zwei autonomen sozialen Systemen, der Politik und dem Recht.
Es handelt sich nicht um eine operative Kopplung als momenthafte Kopplung von Sys

„Autonomie erwirbt ein Rechtssystem nicht nur für sich alleine. Autonom ist es nur in dem
Maße, wie die für Gesetzgebung und Rechtssprechung institutionalisierten Verfahren un
parteiliche Urteils- und Willensbildung garantieren und auf diesem Wege einer ethischen
Verfahrensrationalität gleichermaßen in Recht und Politik Eingang verschaffen. Kein au
tonomes Recht ohne verwirklichte Demokratie"; ders., Wie ist Legitimität durch Legalität
möglich?, in: Kritische Justiz 20 [1987], 1 -16; vgl. ähnlich ders., Faktizität und Geltung [Fn.
86], 599, wo die Ausdrücke .Urteils-' und .ethischen' jeweils durch die Worte .Meinungs-'
und .moralischen' ersetzt werden.
Laut Luhmann „bleiben diskursive, vernünftige Formen der Klärung von akzeptablen bzw.
unakzeptablen Wertpositionen heute im Bereich bloßen Erlebens stecken. Die zentrale
Voraussetzung der praktischen Philosophie, daß man im Argumentieren über das, was
man heute Werte nennt, dem Handeln näher kommen könne, läßt sich unter den heutigen
Bedingungen einer sehr viel möglichkeitsreicheren Welt nicht mehr halten"; ders. Gerech
tigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft [Fn. 86], 389 Anm. 33.
In Einklang mit dieser früheren Formulierung definiert Luhmann später die Gerechtigkeit
als „Kontingenzformel"; Luhmann, Das Recht der Gesellschaft [Fn. 68], 214-38, insbes.
225 f.
Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, in: Rechtshistorisches Jour
nal 9 (1990), 176-220
Luhmann (Fn. 92), 193 ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft (Fn. 68), insbes. 470 ff.; ders.
(Fn. 63), 782 f.; ders., Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, 389-92. Der
Begriff der „strukturellen Kopplung" steht im Mittelpunkt von Maturanas und Varelas biolo
gischer Theorie der autopoietischen Systeme; vgl. Flumberto R. Maturana, Erkennen: Die
Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen
Epistemologie, Braunschweig/ Wiesbaden 1982, 143ff., 150ff., 251 ff., 287 ff.; ders./
Francisco J. Varela, Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living, Dordrecht
1980, XX f.; dies., Der Baum der Erkenntnis, 3. Aufl., Bern / München /Wien 1987, 85 ff.
Darauf greift Luhmann explizit zurück, um das Konzept auf soziale Systeme zu Übertragen
(vgl. Niklas Luhmann [Fn. 63], Bd. 1,100; ders., Das Recht der Gesellschaft [Fn. 68], 440 f.;
ders. [Fn. 92], 204 Anm. 72; ders., Die Politik der Gesellschaft, 373 Anm. 3; ders. / Raffaele
De Giorgi [Fn. 63], 33).
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (Fn. 68), 582

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380 Marcelo Neves

tem- und Umwelto


System bestimmte
darauf verläßt".96
sie permanente we
dabei filtert. Als e
beiden Systemen z
Schließt die Verfa
von ihr eingeschlo
Irritationen, Störu
ritationen, Störun
Verfassung eine r
und zugleich eine
ermöglicht."100
Freilich bezieht s
permanente Bezieh
Verfassungskonze
auch in den zeitg
Macht und Recht
unter die Politik a
Unterordnung des
Macht; der binäre
politischen System
Durch die Verfass
sung des Rechts
horizontale inters
operative Autonom
strukturellen Kop
Einflusses immens
werden verdichtet
referentiellen Sys
Unabhängigkeit im
tembildung" mögli
Im systemtheoret
von Politik und R
seiner Selbstprodu
Rechtlichem und P

95 Luhmann, Das R
96 Luhmarin, Das R
97 Vgl. ebd.
98 Luhmann (Fn. 9
99 Vgl. Luhmann,
100 Niklas Luhmann
68), 478.
101 Vgl. In bezug auf die vormodernen Gesellschaften Niklas Luhmann, Machtkreislauf und
Recht in Demokratien, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2 (1981), 158-167, 159 f.; ders.,
Rechtssoziologie (Fn. 47), 168 ff.
102 Luhmann (Fn. 92), 205
103 Luhmann (Fn. 92), 206
104 Luhmann, Machtkreislauf und Recht in Demokratien (Fn. 101), 165

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 381

Unter dem Gesichtspunkt des Rechts erweist sich die Verfassung als normative
Struktur, die seine operative Autonomie ermöglicht und zugleich aus dieser resultiert.105
In diesem Sinne „ist die Verfassung diejenige Form, mit der das Rechtssystem auf
die eigene Autonomie reagiert. Die Verfassung muss, mit anderen Worten, Außenan
lehnungen, wie sie das Naturrecht postuliert hatte, ersetzen."106 Sie verhindert, dass
Kriterien wertbezogener, moralischer und politischer Natur unmittelbare Geltung inner
halb des Rechtssystems gewinnen, und zieht so dessen Grenzen. Dementsprechend
betont Luhmann: ,,[D]ie Verfassung schließt das Rechtssystem, indem sie es als einen
Bereich regelt, in dem sie selbst wiedervorkommt. Sie konstituiert das Rechtssystem
als geschlossenes System durch Wiedereintritt in das System."107 Damit wird eine
externe Hierarchisierung im typischen Stil .Naturrecht - positives Recht' beseitigt und
eine interne Hierarchie in der Rechtsordnung durch die übergesetzliche Geltung des
Verfassungsrechts konstituiert.108 Es handelt sich nicht um mehrere, gegeneinander
isolierte Ebenen, sondern um „tangled hiérarchies".109 Einerseits fungiert der Code
.constitutional/unconstitutional', der vom Code ,legal/illegal' unterschieden wird und
diesen durchschneidet, als Verhinderung einer uneingeschränkten Gesetzgebung.110
Andererseits bedingen die gesetzgebende Tätigkeit und die konkrete Anwendung des
Verfassungsrechts dessen Geltung und Sinn.111 Daraus folgt, dass jeder gesetzgebe
rische Eingriff des politischen Systems in das Recht durch Rechtsnormen mediatisiert
wird. Das Rechtssystem gewinnt dadurch Kriterien für die Anwendung des Codes
Recht/Unrecht auf die Gesetzgebungsverfahren. Als umfassende Normierung von
normierenden Prozessen erweist sich die Verfassung als reflexiver Mechanismus112
des Rechtssystems (Norm von Normen). Die Verfassungsnormativität setzt der Lernfä
higkeit des Rechts systeminterne Grenzen. Sie bestimmt, wie und wieweit das Rechts
system lernen kann, ohne seine Identität/Autonomie auflösen zu lassen.113 Zwar ist
das Verfassungssystem zugleich lernfähig - dies drückt sich nicht nur im spezifischen

105 Vgl. Neves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne (Fn. 6), 50 ff.;
ders., Symbolische Konstitutionatisierung (Fn. 6), 61 ff.; Luhmann (Fn. 92), 185 ff.
106 Luhmann (Fn. 92), 187
107 Ebd.
108 Luhmann (Fn. 92), S.190. In einer früheren Arbeit schreibt Luhmann hingegen der internen
Hierarchisierung .Verfassung/Gesetz' nur eine rechtstechnische Bedeutung zu; Politische
Verfassungen im Kontext des Gesellschaftssystems, in: Der Staaf\2 [1973], 1-22 u. 165
182,1.
109 Vgl. z.B. Niklas Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts (Fn. 49), S. 15 f. Hier
macht Luhmann eine Anleihe bei Douglas R. Hofstadter, Gödel, Escher, Bach: an Eternal
Golden Braid, Hassocks 1979, 10 u. 684 ff. Vgl. auch Gunther Teubner, Recht als autopoi
etisches System (Fn. 78), 9.
110 Vgl. Luhmann (Fn. 92), 188 f.; ders., Das Recht der Gesellschaft (Fn. 68), 474 f.
111 „Es mag Einflußdifferenzen, Hierarchien, Asymmetrisierungen geben, aber kein Teil des
Systems kann andere kontrollieren, ohne selbst der Kontrolle zu unterliegen; und unter
solchen Umständen ist es möglich, ja in sinnhaft orientierten Systemen hochwahrschein
lich, daß jede Kontrolle unter Antezipation der Gegenkontrolle ausgeübt wird"; Luhmann,
Soziale Systeme [Fn. 47], 63; vgl. insbesondere im Hinblick auf das Rechtssystem, ders.,
Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts
[Fn. 48], 241-272, 254 f.
112 Vgl. hierzu Luhmann, Reflexive Mechanismen, in: ders., Soziologische Aufklärung 1: Auf
sätze zur Theorie sozialer Systeme, 5. Aufl., Opladen 1984 [1966], 92-112. Später wird
die Rede nicht mehr umfassend von „reflexiven Mechanismen" sein, sondern präziser von
Reflexivität; vgl. dazu vor allem ders., Soziale Systeme [Fn. 47], 601 u. 610-16.
113 In Übereinstimmung damit schrieb Luhmann (Politische Verfassungen im Kontext des
Gesellschaftssystems [Fn. 108], 165): „Sinn und Funktion der Verfassung werden unter
Verwendung expliziter Negationen, Negationen von Negationen, Abgrenzungen, Verhin

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382 Marcelo Neves

Verfahren der Ve
sungskonkretisieru
-Prinzipien beacht
gelten. So bestim
der normativen G
Luhmann stellt di
rechtlicher Selbstr
als autopoietische

IV.

Die Übertragung des Luhmannschen Modells der Autopoiesis des Rechts auf die
verschiedenen Regionen des Erdballs ist unhaltbar. Besonders in den peripheren
Ländern der asymmetrischen Weltgesellschaft bestehen gravierende Probleme der
mangelhaften Autonomie bzw. unzureichenden Ausdifferenzierung des Rechtssys
tems.114 Darüber hinaus lässt sich das Paradigma der Autopoiesis nicht vorbehaltlos
auf die globalen, pluralen Rechtsordnungen übertragen.115
Zuerst ist die Rechtslage in den Ländern der „peripheren Moderne"116 zu betrach
ten. Nicht nur in Afrika und Lateinamerika, sondern auch in großen Teilen Asiens und
Osteuropas ist die Überlagerung des Rechts durch andere Kommunikationscodierungen
ein allgemeines Problem rechtlicher Produktion. Die Codierung ,Recht/Unrecht' wird
dort anderen Präferenzcodes untergeordnet.117 Dies bedeut, dass im Hinblick auf
die gesellschaftliche Umwelt die Grenzen einer Rechtssphäre nicht deutlich definiert
sind118 und es mithin keinen Spielraum für die zirkuläre Selbstproduktion des Rechts
gibt. Die imperiale Hypertrophie des Wirtschaftscodes Haben/Nichthaben verstärkt
die extreme Öffnung der Einkommensschere und erzeugt rechtswidrige Privilegien
und „Exklusionen", die eine systemisch konsistente Selbstreproduktion des Rechts
verhindern. Auch die Überlagerung des Rechtscodes durch diffuse Formen privater
Macht und nepotistischer Netzwerke korrumpiert das Recht, so dass dessen opera
tive Reproduktion heteronom bestimmt wird. Dementsprechend wird die Legalität als
Generalisierung rechtlicher Norminhalte im Prozess der Rechtskonkretisierung selbst
verzerrt.

Wenn ich die Verwicklung der Präferenzcodes und -kriterien der verschiedenen ge
sellschaftlichen Lebenssphären (Wirtschaft, Politik, Familie usw.) mit dem Differenzcode
des Rechts behaupte, übersehe ich freilich nicht, dass jedes autopoietische System
immer durch Faktoren seiner Umwelt bedingt wird und dies die Voraussetzung des

derungen gekennzeichnet; die Verfassung selbst ist, ihrem formalen Verständnis nach, die
Negation der uneingeschränkten Abänderbarkeit des Rechts."
114 Hierzu greife ich im Folgenden auf frühere Beiträge zurück (siehe oben die Literaturanga
ben der Fußnote 6).
115 Vgl. Marcelo Neves, Zwischen Themis und Leviathan: Eine Schwierige Beziehung - Eine
Rekonstruktion des demokratischen Rechtsstaates in Auseinandersetzung mit Luhmann
und Habermas, Baden-Baden 2000,196 ff.; ders., Symbolische Konstitutionalisierung (Fn.
6), 155 ff.
116 Zu diesem Konzept vgl. Neves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren
Moderne (Fn. 6), 72 ff.; ders., Symbolische Konstitutionalisierung (Fn. 6), 138 ff.; ders.,
Zwischen Themis und Leviathan (Fn. 115), 178 ff.
117 Vgl. Neves, Von der Autopoiesis zur Allopoiesis des Rechts (Fn. 6).
118 Vgl. Neves, Vom Rechtspluralismus zum sozialen Durcheinander (Fn. 6).

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 383

selbstreferentiellen Anschlusses der Systemkomponenten ist. Aber in diesem Fall gibt


es die „Umschaltung" bzw. „Digitalisierung" der externen Faktoren durch den Code und
die Kriterien des entsprechenden Systems. Ob ein System autopoietisch ist oder nicht,
hängt von dessen Fähigkeit ab, die umweltlichen Determinierungen nach der eigenen
Beobachtungsweise umzudeuten. Sofern umgekehrt die Handelnden des staatlichen
Rechtssystems den Differenzcode Recht/Unrecht und die entsprechenden Kriterien
beiseite lassen, indem sie sich entsprechend den direkten Einwirkungen von Wirtschaft,
Macht, Familienbeziehungen usw. verhalten bzw. daran ihre Erwartungen orientieren,
ist es m.E. angebracht, das Vorhandensein der Allopoiesis des Rechts zu behaupten.
Hier handelt es sich weder um das lokalisierte Phänomen der Systemkorruption auf
Kosten der strukturellen Kopplung im Bereich der Organisationen, wie es sich in den
Erfahrungen des demokratischen Rechtsstaates in Westeuropa und Nordamerika
feststellen lässt,119 noch um Rejektionswerte im Sinne von Gotthard Günther,120 denn
beide setzen die Autopoiesis der entsprechenden Systeme voraus. Die sogenannte
Systemkorruption hat unter den typischen Bedingungen der Reproduktion des Rechts
in der peripheren Moderne Tendenzen zur Generalisierung, so dass das Prinzip der
funktionalen Differenzierung selbst betroffen wird und Situationen der Allopoiesis des
Rechts hervorgebracht werden.121 Dabei geht es also nicht um eventuelle Blockierun
gen der autopoietischen Reproduktion des positiven Rechts, die durch ergänzende
Immunisierungsmechanismen des eigenen Rechtssystems zu überwinden sind. Das
Problem läuft auf die generalisierte Kompromittierung der operativen Autonomie des
Rechts hinaus. Die Grenzen zwischen Rechtssystem und Umwelt selbst lösen sich auf,
sogar bezüglich eines angeblich außerstaatlichen, gesellschaftlich diffusen Rechts.
Definiert man die Verfassung als strukturelle Kopplung von Recht und Politik, so ist
die operative Autonomie beider Systeme vorausgesetzt (s. oben Abschn. III). Wenn es
sich aber um „instrumentalistische Verfassungen" der autokratischen Staaten und die
„symbolischen Verfassungen" der Scheindemokratien handelt, die für die periphere
Moderne kennzeichnend sind,122 entsteht eine Expansion der politischen Sphäre
auf Kosten der autonomen Entwicklung eines spezifischen Differenzcodes Recht/Un
recht.
In den typischen Fällen des „Verfassungsinstrumentalismus" erfolgt die heterono
misierende Unterordnung des Rechtssystems unter den primären Code der Macht
(Überlegenheit/Unterlegenheit)123 direkt durch den Erlass von Verfassungstexten bzw.
„suprakonstitutionellen" Ausnahmegesetzen. In Grenzsituationen von Totalitarismus

119 Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (Fa. 68), 445 u. passim; ders., Organisation und
Entscheidung, Frankfurt am Main 2000, 295-97.
120 Gotthard Günther, Cybernetic Ontology andTransjunctional Operations, in: ders., Beiträge
zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 1, Hamburg: Meiner, 1976, 249
328,286 ff.; vgl. Niklas Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, in: Rechtstheorie 17
(1986), 171-203,181 ff.;ders., Das Recht der Gesellschaft (Fn. 68), 81,181,187u.545 f.;
ders. (Fn. 63), 751 ff.
121 Luhmann (Das Recht der Gesellschaft [Fn. 68], 82) erkennt zwar an, dass „im Extremfall"
von Systemkorruption „nicht mehr von autopoietischer Schließung [...] die Rede sein"
kann, aber daraus zieht er keine konsequenten, empirisch bezogenen Folgen für seine
theoretische Konstruktion, insofern er nach wie vor sehr stark auf dem Primat der funktio
nalen Differenzierung in der heutigen Weltgesellschaft besteht; ebd., 572; ders. [Fn. 63],
743 ff.
122 Vgl. Neves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne (Fn. 6), 89 ff.;
ders., Symbolische Konstitutionalisierung (Fn. 6), 90 ff.
123 „Politische Macht ist zunächst hierarchisch codiert nach dem Schema überlegene/unterle
gene Macht"; Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems [Fn. 120], 199.

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384 Marcelo Neves

und Autoritarismu
Mechanismen der
(supra-)konstitutio
vom obersten poli
derungen mit dem
trumente zu verh
tutionellen Gesetz
als Zweitcode der M
jede Distanz zur Ve
Reproduktion der
mit der Vorherrsc
möglich, dass sie m
steht, ohne ideolo
Im Fall der „symb
Politisierung des R
selbst. Umgekehrt
nach dem die oper
der verfassungge
sungstexts erfolgt
Rechtssystems. De
generalisierte nor
Verfassung als ref
Zwar lässt sich a
Negation der Diffe
Autonomie des let
laspekte bzw. -ber
die die Grundstruk
schriften betrifft
in Frage stellt. De
der Sach-, Sozial-
den Verfassungst
der kongruenten G

124 Vgl. Niklas Luhm


des Rechtssystem
125 Deswegen impli
mus", und das bed
Umwelt vorhanden
durch die Distanz z
Wirklichkeit und g
stab für Politik zu d
• Gesellschaft, hrsg
1989, Sp. 633-643,63
Umwelt".
126 Daher Luhmann
men; Niklas Luhma
[Fn. 112], 178-203,
127 Die lateinameri
konsistenten „Ideo
Brazil under Vargas
128 Dazu umfassend
129 Vgl. Harald Kin
Voigt (Hg.), Symbo

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 385

Zeitdimension (Sinnidentifikation, Institutionalisierung und Normierung) beruhendes,


autonomes System kompromittiert.130
In den Fällen der symbolischen Verfassungen tritt eine faktische Entkonstituti
onalisierung im Prozess der Rechtskonkretisierung auf,131 weil das Recht nicht in
der Lage ist, seine Autonomie gegenüber der Politik zu behaupten. Es besteht eine
zerstörerische Strukturüberordnung des Machtcodes über den Code Recht/Unrecht.
Dieser kennzeichnet sich dann als ein schwacher Code, denn er wird nicht durch
hinreichend institutionalisierte Kriterien bzw. Programme ergänzt, um der Stärke des
politischen Codes etwas entgegensetzen zu können. Die Verfassungsmäßigkeit und die
Legalität werden oft je nach den konkreten Machtverhältnissen beiseite gelassen. Die
Verfassungskonkretisierung wird häufig durch Zwänge partikularer Machtgestaltungen
blockiert. Allerdings impliziert die unterwerfende Haltung der Politik gegenüber dem
Recht weder Autonomie noch starke Identität des politischen Systems. Im Gegenteil:
Gerade insofern die Politik sich von jeder über die Verfassung festgesetzten Bindung
an den Code Recht/Unrecht entfernt, wird sie den Partikularismen der „guten Bezie
hungen" und vor allem den konkreten ökonomischen Forderungen direkt ausgesetzt
und kann sich so operativ nicht autonom reproduzieren. Die politischen Blockierungen
des Verfassungsrechts werden so durch die umfassenden gesellschaftlichen Blockie
rungen der Verfassung als struktureller Kopplung ergänzt. Demgemäss besteht keine
symmetrische Filterung der gegenseitige Einflüsse von Politik und Recht. Kurzum: In
diesem Kontext implodiert die Verfassung als strukturelle Kopplung von Politik und
Recht.
In einer Weiterentwicklung der Systemtheorie hatTeubner mit einem faszinierenden
Theorieprojekt den Akzent der operativen Selbstproduktion des Rechts auf die pluralen,
heterarchischen, globalen Rechtsordnungen gesetzt.132 Bei Teubner wird das Bild
einer Weltgesellschaft vermittelt, die im Zuge der sogenannten Globalisierung zur Ent
wicklung von ,rule of law' und ,due process of law' in verschiedenen gesellschaftlichen
Teilbereichen führt. Das heißt: Die rechtsstaatlichen Verfahren verlieren ihre spezifische
Zugehörigkeit zum Nationalstaat und bekommen neue Anstöße im Rahmen der „global
villages" als eigenständiger Systeme.133 In diesem Prozess schrumpft die Bedeutung

130 Über Normierung, Institutionalisierung und Sinnidentifikation als Generalisierungsme


chanismen des Rechts jeweils in der Zeit-, Sozial- und Sachdimension siehe Luhmann,
Rechtssoziologe (Fn. 47), 52-106.
131 Marcelo Neves, Symbolische Konstitutionalisierung und faktische Entkonstitutionalisie
rung: Wechsel von bzw. Änderungen in Verfassungstexten und Fortbestand der realen
Machtverhältnisse, in: Verfassung und Recht in Übersee 29 (1996), 309-323.
132 Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralis
mus, in: Rechtshistorisches Journal 15 (1996), 255-290; ders., Des Königs viele Leiber:
Die Selbstdekonstruktion der Hierarchie des Rechts, in: Soziale Systeme: Zeitschrift für
soziologische Theorie 2 (1996), 229-55; ders., Nach der Privatisierung? Diskurskonflikte
im Privatrecht, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 19 (1998), 8-36; ders., Vertragswelten:
Das Recht in der Fragmentierung von Private Governance Regimes, in: Rechtshistori
sches Journal 17 (1998), 234-65; ders., „Privatregimes: Neo-Spontanes Recht und duale
Sozialverfassungen in der Weltgesellschaft", in: Dieter Simon / Manfred Weiss (Hg.), Zur
Autonomie des Individuums. Liber Amicorum Spiro Simitis, Baden-Baden 2000, 437-53;
ders., „Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie",
in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrechtes (2003), 1-28.
133 „Nicht nur die Wirtschaft ist heute ein eigenständiges System auf der globalen Ebene
auch Wissenschaft, Kultur, Technik, Gesundheitssystem, Sozialfürsorge, Transport, das
Militär, die Medien und der Tourismus sind heutzutage selbstreproduzierende .Weltsyste
me' im Sinne Wallersteins und machen damit der internationalen Politik der Nationalstaa
ten erfolgreich Konkurrenz"; Teubner, Globale Bukowina [Fn. 132], 259.

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386 Marcelo Neves

der Verfassungen
ner auf die Behaup
Systems und des R
keine Entsprechun
entwickeln: „Auf d
temen klar überho
im Vergleich zu an
Einerseits wird di
strukturell gekopp
staat zurückgeführ
liegt der Schwerpu
Andererseits aber
auf der Ebene de
engen Verbindung
des Nationalstaats
Teubner durch die
strukturelle Kopp
Damit hängt zusa
über deren „organ
entsteht eine Frag
zur Auffassung de
die rechtstheoreti
Rechtsordnungen"
der operativen Sel
Teubners Betonu
villages), die je mi
Transport usw.) st
postmodernen Da
balen Rechtsplural
deren mangelhaft
und hervorgehob
ökonomischen Akt
„ein korruptes Re
bildet also eher ein Instrument der Weltwirtschaft und hat in erster Linie der Effizienz
dieses Systems zu dienen. Mit anderen Worten: Sie stellt das Recht in den Dienst des
Geldes bzw. macht es zu dessen Medium. Es handelt sich nicht um eine gegenüber
dem Wirtschaftssystem operativ autonome Erscheinungsform des Rechts. Insofern
die lex mercatoria als Weltwirtschaftsrecht der Weltwirtschaft untergeordnet ist bzw.
wirtschaftlich trivialisiert wird, bildet sie keine Rechtsordnung, die geeignet ist, eine
Gleich/Ungleichbehandlung zu fördern, die nicht nur ökonomisch adäquat, sondern auch

134 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (Fn. 68), 582


135 Vgl. Teubner, Globale Bukowina (Fn. 132), 260; Des Königs viele Leiber (Fn. 132), 248.
l36Teubner, Globale Bukowina (Fn. 132), 259
137 Ebd.
138 Teubner, Des Königs viele Leiber (Fn. 132), 248
139Teubner, Privatregimes (Fn. 132); ders., Globale Zivilverfassungen (Fn. 132), 25 f.
140 Teubner, Globale Bukowina (Fn. 132), 261
141 Teubner, Des Königs viele Leiber (Fn. 132), 245
142 Teubner, Globale Bukowina (Fn. 132), 264 ff.
143 Teubner, Globale Bukowina (Fn. 132), 279

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 387

rechtlich konsistent ist. Sie ist angemessen, die rechtliche Stabilität des ökonomischen
Spiels zu begünstigen, aber nicht in der Lage, Rechtsgleichheit zu gewährleisten. Dazu
fehlt eine Verfassung oder ein Funktionaläquivalent als strukturelle Kopplung zwischen
Recht und Weltwirtschaft. Eher handelt es sich um schwache Reflexivität des Rechts,
die auf die unzureichende Entwicklung eines entsprechenden Verfassungsrechts oder
Funktonaläquivalenten zurückzuführen ist, und damit zusammenhängend um die Co
dierungsstärke der Weltwirtschaft, die heteronomisierend, instrumenten bzw. destruktiv
in das „Rechtsfeld" der lexmercatoria eingreift. Und das gilt meines Erachtens auch für
andere „law's global villages" in ihren Beziehungen zu den jeweiligen globalen sozialen
Systemen: Eher lässt sich von Instrumentalisierung und Unterordnung als von rule of
law und due process of law bzw. operativer Systemautonomie des Rechts sprechen.

V.

Bringt man empirische Einwände gegen die systemtheoretische, soziologisch be


gründete Auffassung der operativen Autonomie des Rechts vor, ist anzuerkennen,
dass sich daraus Vorbehalte gegen das rechtswissenschaftlich orientierte, von der
Reinen Rechtslehre entwickelte Modell der normativ-strukturellen Autonomie der
Rechtsordnung nicht zwangsläufig folgern lassen. Aber da Kelsen das Konzept der
Selbsterzeugung bzw. Eigengesetzlichkeit des Rechts mit der Stufenbaulehre verknüpft
hat,144 kommt es zu Schwierigkeiten, wenn versucht wird, dieses Autonomiekonzept145
positiv-rechtlich - das heißt „empirisch"146 - für die verschiedenen Rechtsordnungen

144 „Die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung erfaßt das Rechts in seiner Bewegung, in
dem ständig sich erneuernden Prozeß seiner Selbsterzeugung"; Kelsen, Reine Rechtsleh
re [Fn. 5], 283; vgl. ders., Allgemeine Staatslehre [Fn. 10], 248 f.; ders., General Theory of
Law and State [Fn. 5], 123 f.
145 Selbstverständlich geht es hier um die Autonomie des Rechtssystems, die Kelsen unter
den Termini .Eigengesetzlichkeit' bzw. .Selbsterzeugung' behandelt hat; vgl. Reine Rechts
lehre [Fn. 5], insbes. III und 228 ff. Dabei wird nicht verkannt, dass Kelsen den Terminus
.Autonomie' in einem ganz anderen Sinne verwendet, nämlich für die Begrifflichkeit, die
für die Unterscheidung der beiden Staatsformen Demokratie (Autonomie) und Autokratie
(Heteronomie) eine Rolle spielt und sich auf die „Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung"
des „zu verpflichtenden" Menschen bezieht: „Die vom Standpunkt des normunterworfenen
Menschen entscheidende Frage ist: ob die Verpflichtung mit seinem Willen oder ohne,
eventuell sogar gegen seinen Willen erfolgt. Es ist jener Unterschied, den man gewöhnlich
als den Gegensatz von Autonomie und Heteronomie bezeichnet und den die Rechtslehre
im wesentlichen auf dem Gebiete des Staatsrechts festzustellen pflegt. Hier tritt er als Un
terschied zwischen Demokratie und Autokratie oder Republik und Monarchie auf; und hier
liefert er die übliche Einteilung der Staatsformen"; Reine Rechtslehre [Fn. 5], 283; vgl. dazu
Allgemeine Staatslehre [Fn. 10], 320 ff.; General Theory of Law and State [Fn. 5], 284 ff.;
Staatsform als Rechtsform [1925/26], in: Klecatsky / Marcic/ Schambeck (Hg.) (Fn. 10),
1689-1712, insbes. 1691 ff. Aber in beiden Staatsformen ist nach Kelsen die Autonomie
des Rechtssystems ais die Selbsterzeugung bzw. Eigengesetzlichkeit der Rechtordnung
theorienotwendig zu behaupten. In diesem Beitrag benutze ich den Terminus .Autonomie'
als einen Oberbegriff für die Selbstproduktion (Autopoiesis) des Rechtssystems im Sinne
der Systemtheorie (operative Autonomie) und die Selbsterzeugung (Eigengesetzlichkeit)
der Rechtsordnung im Sinne der Reinen Rechtslehre (normativ-strukturelle Autonomie).
146 Nach Kelsen ist die Rechtswissenschaft eine empirische Wissenschaft, weil ihr Gegen
stand aus positiven Rechtnormen besteht. Dementsprechend behauptet er: „Sind die Nor
men der Moral so wie die Normen des positiven Rechts der Sinn empirischer Tatsachen,
kann die Ethik ebenso wie die Rechtswissenschaft als empirische Wissenschaft - im
Gegensatz zu metaphysischer Spekulation - bezeichnet werden, auch wenn sie nicht

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388 Marcelo Neves

geltend zu machen
sion zu charakteri
m.E. nicht ohne
rechtlichen Reprod
Inkongruenzen, d
aufmerksam zu machen.
Es handelt sich hierbei nicht um eine Infragestellung der theoretischen Grenzen
der auf einer logisch-transzendentalen, vorausgesetzten Grundnorm beruhenden Stu
fenbaulehre. Sicher ist die Angemessenheit und Fruchtbarkeit eines hierarchischen,
monistischen, auf den Neukantianismus147 zurückgehenden Theoriemodells der
Selbsterzeugung des Rechts sehr fragwürdig. Obwohl aus der internen, dogmatischen
Perspektive des Rechtsystems auf die technische Bedeutung der Normhierarchie nicht
zu verzichten ist,148 muss man die Relativierung des Hierarchiebegriffs berücksichti
gen, die sowohl aus dem Verständnis der „tangled hiérarchies" im Rechtssystem149
als auch aus einer sich auf die Unterscheidung von Norm und Normtext stützenden
Theorie der Rechtskonkretisierung als Vorgang der Normkonstruktion resultiert.150 Das
heißt: Kelsens Stufenbaulehre unterliegt einer umfassenden Kritik aus der Perspektive
eines zirkulären Modells der Selbstproduktion des Rechts. Aber im Rahmen dieses
Beitrags kann ich mich nicht damit beschäftigen. Theoriestrategisch ziele ich eher
auf eine immanente Kritik, die auf die internen Grenzen der Beschreibungsfähigkeit
des Begriffsmodells hinweisen soll. Die Frage lautet: Ist die von der Stufenbaulehre

Tatsachen, sondern Normen zum Gegenstand hat"; Kelsen, Reine Rechtslehre [Fn. 5],
61; vgl. dazu ders., General Theory of Law and State [Fn. 5], 163 f. Und er fügt hinzu: „Die
Rechtswissenschaft bleibt innerhalb der Grenzen der Erfahrung, so lange sie nur Normen
zum Gegenstand hat, die durch menschliche Akte gesetzt sind und sie sich nicht auf Nor
men bezieht, die von übermenschlichen, transzendenten Instanzen ausgehen, das heißt,
so lange sie jede metaphysische Spekulation ausschließt"; Reine Rechtlehre [Fn. 5]., 82.
Es ist zu beachten, dass Kelsen in dieser Stelle auf seine Ausführungen zur Beziehung
zwischen Geltung und Wirksamkeit verweist (ebd., 215 ff.).
147 Hierzu Stanley L. Paulson, Zur neukantianischen Dimension der Reinen Rechtslehre: Vor
wort zur Kelsen-Sander-Auseinandersetzung, in: Fritz Sander / Hans Kelsen, Die Rolle des
Neukantianismus in der Reinen Rechtslehre: Eine Debatte zwischen Sander und Kelsen,
hrsg. von Stanley L. Paulson, Aalen 1988, 7-26; H. Dreier (Fn. 7), 70 ff.; Helmut Holzhey,
Kelsens Rechts- und Staatslehre in ihrem Verhältnis zum Neukantianismus, in: Paulson /
Walter (Hg.) (Fn. 21), 167-92. Siehe mit Vorbehalten Hammer (Fn. 28).
148 Mit Hinweis auf Theo Öhlinger (Fn. 21) behauptet auch Luhmann, dass die Abstufung
des „Rechtssystems" sich nur auf das „Mischungsverhältnisf von Rechtsschöpfung und
Rechtsanwendung bezieht, um hinzuzufügen: „Ein Schritt darüber hinaus wäre, das
Verhältnis von Rechtsschöpfung/Rechtsanwendung auf jeder Stufe als zirkulär, also als
selbstreferentiell zu begreifen. Dann wäre Stufenbau eine Dekomposition und Hierar
chisierung der grundlegenden Selbstreferenz des Systems"; Luhmann, Die Einheit des
Rechtssystems [Fn. 71], 141 Anm. 26; vgl. auch ders. [Fn. 75], 11.
149 Vgl. oben die Literaturangaben der Anmerkung 109; dazu auch Marcelo Neves (Fn. 115),
83, 119, 146 u. 148.
150 Vgl. Friedrich Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., Berlin 1995, insbes. 122 ff. u. 166 ff.;
ders., Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl., Berlin 1994, insbes. 147-67, 184-222 u. 234
40; ders., Die Positivität der Grundrechte: Fragen einer praktischen Grundrechtsdogmatik,
2. Aufl., Berlin 1990, insbes. 126 ff.; ders., Essais zur Theorie von Recht und Verfassung,
hrsg. von Ralph Christensen, Berlin 1990, insbes. 20; Ralph Christensen, Der Richter als
Mund des sprechenden Textes. Zur Kritik des gestezespositivistischen Textmodells, in:
Friedrich Müller (Hg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik: Interdisziplinäre Studien zu
praktischer Semantik und strukturierender Rechtslehre in Grundfragen der juristischen
Methodik, Berlin 1989, 47-91, 78 ff. u. 87 ff.; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungs
rechts der Bundesrepublik Deutschland, 12. Aufl., Heidelberg / Karlsruhe 1980, 24 ff.

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 389

nicht zu trennende, dem Rechtskonzept innewohnende These der Selbsterzeugung


des Rechts für alle positiv-rechtlichen Ordnungen haltbar? Diese Frage Ist weder
aufgrund der Neutralitäts- oder Reinheitsthese noch deswegen, weil nach Kelsen die
Rechtsordnung aus Soll-Normen als objektiven Sinngehalten und nicht aus Tatsachen
besteht, irrelevant. Diese Infragestellung läuft im Gegenteil auf die inneren Grenzen
der Verbindung von Selbsterzeugung nach dem Muster der Stufenbaulehre mit der
Reinheits- bzw. Neutralitätslehre hinaus.
Im Folgenden werde ich drei Situationen in Betracht ziehen, auf die Kelsen seinen
mit der Stufenbaulehre aufgeladenen, „reinen" Rechtsbegriff problemlos angewandt hat:
erstens die totalitären Rechtsordnungen; zweitens die fassadenhaft rechtsstaatlichen
Ordnungen der peripheren Länder; drittens die völkerrechtliche Ordnung. Außerdem
werde ich mich auf die neuen globalen, pluralen Rechtsordnungen beziehen, auf die
die Übertragung des im Rahmen der Stufenbaulehre konstruierten Selbsterzeugungs
begriffs noch problematischer wird.
Nach Kelsen bilden auch autokratische und mithin totalitäre Staatsformen Rechts
ordnungen. Demnach sind Autokratie und Demokratie zwei Rechtserzeugungsmetho
den, die auf der Ebene der Verfassung als Staatsformen definiert werden.151 Das ist
nach Kelsens wertneutralem Rechtspositivismus konsequent. Ob man für Autokratie
oder Demokratie plädiert, ist nach der Reinen Rechtslehre keine erkenntnismäßig zu
klärende, objektive, rechtswissenschaftliche, sondern eine wertbezogene, gefühls- bzw.
willensmäßig zu beantwortende, subjektive, rechtspolitische Frage.152 Der Wahl für
die eine oder andere Staatsform liege eine der beiden philosophischen Grundeinstel
lungen gegenüber den Werten zugrunde: der Wertrelativismus steht im Verhältnis zur
Demokratie wie der Wertabsolutismus zur Autokratie.153
Aber die hier zu stellende Frage ist nicht, ob eine autokratische Staatsform eine
staatliche Rechtsordnung als zentralisierte Zwangsordnung bildet, sondern ob die
Autokratie - besonders in der extremen Form des Totalitarismus - die Bedingungen
der Selbsterzeugung der Rechtsordnung nach der Stufenbaulehre erfüllt. Ist es für
die entsprechende Ordnung kennzeichnend, dass der Geltungsgrund einer Norm in
einer Norm höherer Stufe liegt? Nehmen wir den Grenzfall einer totalitären Ordnung
an, in welcher die Grundnorm lautet: 1) Alles, was die höchste Staatsautorität - sei
diese das Präsidium einer Einheitspartei, ein Staatschef, eine Militärjunta oder ein
Führer - verbindlich entscheidet und „im Großen und Ganzen" wirksam ist, soll als gel
tende Rechtsnorm befolgt und angewendet sowie jederzeit nach dem Willen derselben
Autorität und nach dem von ihr ad hoc bestimmten Verfahren geändert werden; 2) immer
die Normen der anderen, unteren Autoritäten werden durch die nur nach dem Willen
der höchsten Autorität beliebig gesetzte Normen aufgehoben oder vernichtet. Eine
solche Zwangsordnung entspräche sicher nicht dem Muster der stufenbaugemäßen
Selbsterzeugung des Rechtssystems. So wie einerseits Kelsen gegen die Vorstellung

151 „Mit dem Begriffe der Staatsform wird die Methode der durch die Verfassung geregelten
Erzeugung der generellen Normen gekennzeichnet"; Kelsen, Reine Rechtslehre [Fn. 5],
283; vgl. auch ders., General Theory of Law and State [Fn. 5], 284; ders., Allgemeine
Staatslehre [Fn. 10], 321.
152 Vgl. Kelsen, Das Problem der Gerechtigkeit, (als Anhang) in: ders., Reine Rechtslehre (Fn.
5), 355-444, 429 f.; dazu auch ders., Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953, insbes. 6 u. 11.
153 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, 93 ff. Vgl.
dazu auch ders., Was ist Gerechtigkeit? (Fn. 152), 40 ff.; Robert Chr. van Ooyen, Der Staat
der Moderne: Hans Kelsens Pluralismustheorie, Berlin 2003, 63 ff. Vgl. Horst Dreier, The
Essence of Democracy- Hans Kelsen and Carl Schmitt Juxtaposed, in: Diner / Stolleis
(Hg.) (Fn. 21), 71-79, 71-74

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390 Marcelo Neves

eines rein statische


systems Einwände
dynamischen Char
mischen Prinzips
ist mit dem Stufenbau nicht vereinbar. Denn dadurch kann die höchste Autorität auf
jede Zeit die gesamten Organ-, Verfahrens- und Inhaltsbestimmungen ändern. Unter
solchen Umständen ist es m.E. sinnlos, von Selbsterzeugung bzw. Eigengesetzlichkeit
des Rechts im Rahmen des Stufenbaus zu sprechen. Auf der Basis der „Grundnorm"
einer solchen Zwangsordnung lässt sich die für Kelsen konstitutive Unterscheidung
von politischer Willenstatsache und rechtlicher Normgeltung nicht anwenden. Das die
Rechtsgeltung bestimmende Prinzip der Legitimität wäre durch das Effektivitätsprinzip
nicht nur eingeschränkt,156 sondern würde von diesem so überlagert, dass man nicht
mehr zwischen beiden unterscheiden könnte: In einer solchen Ordnung wäre eher das
Legitimitätsprinzip dem Effektivitätsprinzip untergeordnet. Daraus würde zwangsläufig
folgen, dass der Geltungsgrund nach dem selbsterzeugenden, eigengesetzten Stu
fenbau keine praktische Bedeutung hätte.
Gerade die autokratische Staatsform in ihrer totalitären Variante nähert sich mehr
oder weniger dem Grenzfall einer Zwangsordnung, die durch die Verabsolutierung
des dynamischen Prinzips charakterisiert wird. Obwohl Kelsen seinem wertneutralen
Rechtspositivismus folgend immer ohne Vorbehalt hervorgehoben hat, dass auch auto
kratische Staatsformen Rechtsordnungen bilden und dass die Präferenz für Autokratie
oder Demokratie eine rein rechtspolitische Angelegenheit darstellt, entsprechen die
extremen Formen der totalitären Autokratien auf keinen Fall dem Muster eines eigenge
setzten, selbsterzeugten Rechts der Stufenbaulehre. In Bezug auf diese Staatsformen
kann man nicht konsequent und mit praktischer Relevanz eine Rechtwissenschaft
konstruieren, die von der Eigengesetzlichkeit bzw. Selbsterzeugung des Rechts aus
geht: Dieses ist vielmehr der politischen Macht unterworfen und wird praktisch nur
nach deren Maßgabe erzeugt und verändert, so dass nicht der Geltungsgrund einer
Norm durch eine höhere Norm (auch die angebliche Grundnorm dient nicht dazu), also
nicht das rechtliche Legitimitätsprinzip, sondern die tatsächliche Fähigkeit, kollektiv
bindende Entscheidungen zu treffen und „Willensakte" durchzusetzen, das heißt das
politische Effektivitätsprinzip im Vordergrund steht. Und dies stellt nicht nur ein rechts
soziologisches oder rechtspolitisches Problem dar, es betrifft die Voraussetzung der
„Rechtwissenschaft" als Reflexionsinstanz eines autonomen Rechts selbst, auch wenn
man von Kelsens Reiner Rechtslehre ausgehen wollte.
Auch in den peripheren Ländern, die das rechtsstaatliche und demokratische
Verfassungsmuster westlicher Provenienz in ihren Verfassungstexten annehmen, ist
die Selbsterzeugung des Rechtssystems nach der Stufenbaulehre alles andere als
selbstverständlich. Der auf den Sinngehalt des Verfassungstextes zurückzuführende
Stufenbau der Rechtsordnung wird im Prozess der praktischen Rechtskonkretisierung
so weit gebrochen, dass die Behauptung der hierarchischen Selbsterzeugung bzw.
Eigengesetzlichkeit des Rechts unter diesen Umständen sehr fragwürdig wird. Aber
es handelt sich auch hier nicht um eine rein rechtssoziologische Frage, wie sie im Ab
schnitt IV behandelt wurde. Die verallgemeinerten, ständigen Brüche des Stufenbaus
im dynamischen Prozess der Rechterzeugung beeinträchtigen auch den normativen

154 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 198 f.


155 Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 200
156 „Das Prinzip der Legitimität ist durch das Prinzip der Effektivität eingschränkt" (Kelsen,
Reine Rechtslehre [Fn. 5], 215; ders., General Theory of Law and State [Fn. 5], 119).

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 391

Sinngehalt der entsprechenden Verfassungsurkunde, auf dem die stufengemäßen


Prozesse der Selbsterzeugung des Rechts beruhen sollten. Gerade wichtigsten „Ver
fassungsnormen" - oder genauer: Verfassungsbestimmungen - fehlt ein Minimum an
Wirksamkeit, das für die Reine Rechtslehre - wie oben im Abschnitt II bereits betont
wurde - Bedingung der Geltung einer einzelnen Norm ist. Es sind diejenigen Verfas
sungsvorschriften, die durch ihren normativen Sinn den grundlegenden Rahmen des
Stufenbaus bestimmen und somit die Selbsterzeugung des Rechtssystems strukturie
ren und ihr Konturen geben sollten. Deswegen geht es dabei nicht nur um das Fehlen
eines Minimums an Wirksamkeit als Bedingung der Geltung einer einzelnen Norm,
sondern auch um Probleme, die auf die das Geltungskonzept der Reinen Rechts
lehre betreffende Frage hinauslaufen, ob die Bedingung der Geltung der gesamten
Rechtsordnung, nämlich die Wirksamkeit der Verfassung „im Großen und Ganzen",
überhaupt besteht (s. oben Abschnitt II). Selbstverständlich herrscht im Scheinkons
titutionalismus der peripheren Länder keine Rechtlosigkeit. Es gibt auch unter diesen
Bedingungen staatliches Recht. Fragwürdig ist eher, ob die entsprechenden Staaten
die Voraussetzungen für die Selbsterzeugung bzw. Eigengesetzlichkeit des Rechts
nach der Stufenbaulehre erfüllen.
Auch hier besteht nicht nur die von der Reinen Rechtslehre hervorgehobene Ein
schränkung des Legitimitätsprinzips durch das Effektivitätsprinzip, welche auf den Inhalt
der Grundnorm selbst zurückgeht, sondern vielmehr steht der umfassende Vorrang der
letzteren vor dem ersteren im Mittelpunkt. Deswegen ist es nicht möglich, das Problem
der stetigen Brüche der Verfassungskonkretisierung in den peripheren Ländern durch
Kelsens Auffassung der Interpretation und der Alternativbestimmung zu erklären. In
Bezug auf die Interpretation hebt Kelsen hervor: „Die Frage, welche der im Rahmen
des anzuwendenden Rechts gegebenen Möglichkeiten die .richtige' ist, ist kein rechts
theoretisches, sondern ein rechtspolitisches Problem."157 Aber er fügt hinzu: „Dabei
ist zu beachten, daß im Wege authentischer Interpretation, das heißt Interpretation
einer Norm durch das Rechtsorgan, das diese Norm anzuwenden hat, nicht nur eine
der durch die erkenntnismäßige Interpretation der anzuwendenden Norm aufgezeigten
Möglichkeit realisiert, sondern eine Norm erzeugt werden kann, die völlig außerhalb des
Rahmens liegt, den die anzuwendenden Norm darstellt."158 Hier lässt sich feststellen,
dass Kelsen einen erkenntnismäßig zu bestimmenden Rahmen der möglichen Interpre
tationen voraussetzt, innerhalb dessen die erzeugten Normen nicht zu vernichten sind.
Das verdeutlichen seine Bemerkungen zum Alternativcharakter der die Gesetzgebung
regelnden Bestimmungen der Verfassung, die dem Gesetzgebungsorgan „die Wahl
zwischen zwei Wegen" bieten: „den durch die Verfassung direkt bestimmten und den
von dem Gesetzgebungsorgan selbst zu bestimmenden. Der Unterschied aber besteht
darin, daß die auf dem zweiten Wege zustande gekommenen Gesetze zwar gültig,
aber in einem besonderen Verfahren aufhebbar sind [...]. Damit kommt zum Ausdruck,
daß die Verfassung, wenn sie auch den zweiten Weg nicht ausschließen kann, doch
dem ersten den Vorzug gibt."159 Daraus folgt, dass für die Reine Rechtslehre die Wahl

157 Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 350


158 Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 352. Von der authentischen Interpretation durch das
rechtsanwendende Organ, in deren Wege der Willensakt im Vordergrund steht, unterschei
det Kelsen die nichtauthentische Interpretation, insbesondere die rechtwissenschaftliche
Interpretation, die im Grunde genommen erkenntnismäßig orientiert ist (ebd., 346 u. 352)
159 Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 278 (Flervorhebung von mir). Wenn Kelsen sich auf die
„besondere Verfahren der Aufhebung" einer Norm und vor allem eines Gesetzes bezieht,
weist er auf die Aufhebung hin, die nicht nach dem Grundsatz lex posterior derogat priori,
sondern aufgrund der Vernichtbarkeit eines „verfassungswidrigen" Gesetz („eine contra

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392 Marcelo Neves

zwischen den Alter


Vorzug hat, ist fü
der Rechtsordnun
die praktische Un
Einschränkung de
Für den Fall der u
und mithin des St
irrelevant, dass d
zweiten Alternati
Vorrang des Effek
Selbsterzeugung
Sinngehalts wird
gesellschaftlicheS
Dieses Problem l
lismus" der Rein
Konzept der Wirk
Theoriemodell und entfernt dieses definitiv von allen formalistischen und idealistischen
Auffassungen des Rechts. Nur durch den Anspruch auf eine Weiterentwicklung der
Kelsenschen Rechtstheorie in die Richtung einer Art radikalen Konstruktivismus162
könnte die Stufenbaulehre gegen die Probleme des Scheinkonstitutionalismus in den
peripheren Ländern immunisiert werden. Aber auf keinen Fall kann man Kelsens Rei
ne Rechtslehre auf eine Variante des radikalen Konstruktivismus reduzieren, die für
die Frage der Wirkung eines bestimmten Grades der Unwirksamkeit des Rechts auf
dessen Geltung unsensibel bleiben würde. Im Gegenteil hängen Selbsterzeugung und
Stufenbau nach Kelsen von tatsächlichen Bedingungen der Erzeugung, Anwendung
und Befolgung des Rechts ab.
Diese Argumente in Bezug auf den Scheinkonstitutionalismus der peripheren Län
der gelten analog für die völkerrechtliche Ordnung, besonders was ihre gegenwärtige
Lage angeht. Hier handelt es sich auch nicht darum, die Existenz des Völkerrechts
zu leugnen, also seinen Normen den rechtlichen Charakter abzusprechen. Die zu
stellende Frage ist eher, ob das Völkerrecht sich durch die Merkmale der Selbster
zeugung im Rahmen des Stufenbaus mit praktischer Relevanz kennzeichnen lässt,
ob es also die Voraussetzungen einer normhierarchischen Eigengesetzlichkeit des
Rechts erfüllt. Zwar hatte Kelsen das Völkerrecht durch dessen Ähnlichkeit mit den

dictio in adjecto") zustande kommt (ebd., 275 ff.; ders., General Theory of Law and State
[Fn. 5], 155 f.).
160 Dementsprechend behauptet Kelsen: „Solange einer Verfassung der [...] Garantie der
Vernichtbarkeit verfassungswidriger Akte ermangelt, fehlt ihr auch der Charakter voller
Rechtsverbindlichkeit im technischen Sinne. Wenn man sich dessen auch im allgemeinen
nicht bewusst ist [...], so bedeutet doch eine Verfassung, derzufolge auch verfassungswid
rige Akte und insbesondere verfassungswidrige Gesetze gültig bleiben müssen, weil sie
aus dem Grund ihrer Verfassungswidrigkeit nicht aufgehoben werden können, von einem
rechtstechnischen Standpunkte aus nicht viel mehr, als unverbindlichen Wunsch"; Wesen
und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit [1929], in: Klecatsky / Marcic / Schambeck [Hg.]
[Fn. 10], Bd. 2, 1813-1871, 1862. Vgl. dazu Dieter Grimm, Zum Verhältnis von Interpreta
tionslehre, Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratieprinzip bei Kelsen, in: Krawietz/
Topitsch / Koller (Hg.) (Fn. 10), 149-157, 152 f.
161 Hierzu kritisch Paulson (Fn. 9), 109-13.
162 In diesem Sinne etwa Matthias Jestaedt, Konkurrenz von Rechtsdeutungen statt Koexi
stenz von Rechtsordnungen (Manuskript).

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 393

primitiven Rechtsordnungen charakterisiert.163 Damit wollte er auf die weitgehende


Dezentralisation und die mangelhafte organische Arbeitsteilung des Völkerecht hin
weisen.164 Aber das impliziert nicht, dass die Selbsterzeugung und der Stufenbau
der völkerrechtlichen Ordnung von Kelsen in Frage gestellt wurden (s. oben Abschnitt
II). Gerade die ständigen und umfassenden Brüche des Stufenbaus in der Praxis der
Staaten als Organe der dezentralisierten „Völkerrechtsgemeinschaft" macht die These
der Selbsterzeugung unhaltbar. Auch hier stellt sich nicht nur ein rechtssoziologisches
Problem. Der Sinngehalt der positivrechtlich höchsten Normen des Völkerrechts, die das
allgemeine Gewohnheitsvölkerrecht nach Kelsen ausmachen, wird so weit von Macht
und diffusen Gesellschaftsverhältnissen bzw. politischen und anderen gesellschaftlichen
Sinngebungen in der Völkerrechtskonkretisierung der Gegenwart überlagert und mithin
entstellt, dass die These, die entsprechenden Gewohnheitsmuster bildeten die norma
tiven Maßstäbe für die Selbsterzeugung der völkerrechtlichen Ordnung im Rahmen
des Stufenbaus, m.E. auch in „rechtwissenschaftlicher" bzw. rechtsdogmatischer Per
spektive zurückzuweisen ist. Ebenfalls gilt das für das partikuläre Vertragsvölkerrecht
und die unmittelbar darauf beruhenden Akte der völkerrechtlichen Gerichte und der
internationalen Organe: Verträge und Akte werden insofern außer Acht gelassen, als
sie den Erwartungen der Großmächte, die am jeweiligen Fall Interesse zeigen oder
darin verwickelt sind, nicht entsprechen.165 Dann sind die Sinngebungen, die für die
Erwartungsorientierung entscheidend und primär sind, nicht diejenigen eines eigenge
setzlichen Rechts, sondern sie sind politischer oder ggf. ökonomischer bzw. allgemein
gesellschaftlicher Natur. Diese Situation wird noch selbstverständlicher, wenn man die
neue „internationale " Praxis der einzigen Supermacht der Gegenwart, der Vereinigten
Staaten von Amerika, in Betracht zieht.166 Diese Praxis wirkt auf das Völkerrecht so
destruktiv, dass die Unterscheidung von Recht und Unrecht von der Differenz zwischen
überlegener und unterlegener Macht, also von politischen Sinngebungen ganz unter
miniert wird. Daraus folgt, dass für die überlegene Macht die Beziehung von Unrecht
und Unrechtsfolge im Völkerrecht bedeutungslos wird. Hier geht es wieder nicht um
die nach Kelsen für die Rechtsordnung kennzeichnende Einschränkung des Legitimi
tätsprinzips durch das Effektivitätsprinzip, sondern ebenfalls um eine umfassende Un
terordnung des rechtlichen Legitimitätsprinzips unter das politische Effektivitätsprinzip.
Von Eigengesetzlichkeit bzw. Selbsterzeugung des Rechts nach der Stufenbaulehre zu

163 Kelsen, General Theory of Law and State (Fn. 5), 338 ff.; ders., Reine Rechtslehre (Fn. 5),
289 f. u. 323 f.; ders., Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts (Fn.
35), insbes. 260 und 262 f.
164 Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 5), 323; ders., Allgemeine Staatslehre (Fn. 10), 174 f.;
ders., General Theory of Law and State (Fn. 5), 325 ff.;ders., Peace Through Law, Chapel
Hill 1944, 22; ders., Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts (Fn.
35), 257 ff. Deswegen stellt das Völkerrecht nicht „eine technisch entwickelt[e] Rechtsord
nung" dar; ders., Unrecht und Unrechtsfolge im Völkerrecht, Wien 1932, 7.
165 Vgl. unter vielen Martti Koskenniemi, Die Polizei im Tempel - Ordnung, Recht und die Ver
einten Nationen: Eine dialektische Betrachtung, in: Hauke Brunkhorst (Hg.): Einmischung
erwünscht? Menschenrechte und bewaffnete Intervention, Frankfurt am Main 1998,63-87;
ders., The Gentie Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law 1870-1960,
Cambridge 2002, insbes. 480 ff.
166 Vgl. Marcelo Neves, Die symbolische Kraft der Menschenrechte, in: Archiv für Rechts- und
Sozialphilosophie 90 (2005) 2,159-187. Auch Luhmann äußert sich kritisch zu dieser Pra
xis; Das Recht der Gesellschaft [Fn. 68], 580.

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394 Marcelo Neves

sprechen, fällt un
radikalen Konstruktivismus hinaus.
Im Zusammenhang mit der völkerrechtlichen Problematik lässt sich eine kurze,
ergänzende Bemerkung zu den pluralen globalen Rechtsordnungen machen, die
hinsichtlich der postmodernen Systemtheorie Teubners im Abschnitt IV behandelt
wurden. Was hier interessiert, ist nicht die Schwierigkeit, diese Rechtsordnungen in
die monistische Konstruktion Kelsens (als Totalrechtsordnung oder als Teilordnungen
des Staates bzw. des Völkerrechts) einzuordnen. Die zu stellende Frage ist wieder
um, ob diese Ordnungen die Bedingungen der stufengemäßen Selbsterzeugung des
Rechts erfüllen. Vieles spricht dafür, dass sie nicht in der Lage sind, sich gegenüber
den entsprechenden globalen sozialen Systemen, für die sie Leistungen bringen,
autonom zu reproduzieren. Ihre „Verfassungen" werden nach der Codierung und den
Kriterien der Kommunikationsbereiche, an die sie gebunden sind, fremdbestimmt, so
dass sich eine konsequent eigengesetzte Rechtsnormenhierarchie nicht hinreichend
herausbilden kann. Über den rechtssoziologischen Aspekt hinaus ist in diesem Fall
die „rechtswissenschaftliche" bzw. rechtsdogmatische Perspektive beeinträchtigt:
normative Sinngebungen der Rechtsordnung werden durch Sinngebungen anderer
sozialer Bereiche „unterdrückt". Kurzum: Auch die pluralen globalen Rechtsordnungen
der asymmetrischen Gesellschaft der Gegenwart entsprechen nicht dem Modell eines
stufenbaugemäß selbsterzeugten, eingesetzten Rechts, sondern sind vielmehr den
jeweiligen globalen Systemen untergeordnet, denen sie als „Medien" zu dienen ha
ben.

VI.

Aus diesen Überlegungen lässt sich schließen, dass sowohl Luhmanns soziologisches
Paradigma der operativen Selbstproduktion des Rechtssystems als auch Kelsens
„rechtswissenschaftliches" Modell der normativ-strukturellen Selbsterzeugung der
Rechtsordnung zu voraussetzungsvoll sind, als dass sie einer adäquaten Beobachtung
und Beschreibung der verschiedenen rechtlichen Zusammenhänge der gegenwärtigen,
asymmetrischen Weltgesellschaft dienen könnten. Vielmehr sind sie für die Beobach
tung/Beschreibung rechtsstaatlicher bzw. durch rule of law oder ein funktionales Äqui
valent gekennzeichneter Rechtsordnungen, die empirisch gesehen nicht vorherrschend
sind, angemessen. Mit anderen Worten: Rechtsstaatlichkeit / rule of law stellt eine innere
Voraussetzung der operativen bzw. strukturellen Autonomie des Rechts dar, obwohl
nur wenige Rechtsordnungen der Gegenwart diese Voraussetzung erfüllen.
Damit zusammenhängend lässt sich eine zweite These aufstellen: Ohne Verfassung
(oder ein funktionales Äquivalent) als Instanz der operativen Schließung (bzw. als um
fassenden reflexiven Mechanismus des Rechts) und der strukturellen Kopplung gibt
es keine beobachtungs-/beschreibungsfähige Autonomie des Rechtssystems bzw. der
Rechtsordnung. Selbstverständlich handelt es sich hier weder nur um Verfassungstexte
mit politisch-symbolischer Funktion noch um Verfassungsgesetze als reines Instrument
der Macht, sondern um konkretisierungsfähige, „mit normativer Kraft" ausgestattete
Verfassungen, die als „Errungenschaft der modernen Gesellschaft" für die Autonomie
des Rechtssystems erforderlich sind. Insofern die Verfassung die reflexive Ebene der
Rechtsstaatlichkeit bzw. der rule of law bildet, dient sie der operativen und mithin der
strukturellen Autonomie des Rechts. Fehlt die Verfassung in diesem engeren Sinne,
kann man strenggenommen nicht von Autonomie des Rechts sprechen: Das Recht

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Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft 395

ist dann anderen Kommunikationsbereichen strukturell untergeordnet oder mit ihnen


operativ vermischt.
Wenn außerdem berücksichtigt wird, dass die „rechtswissenschaftliche" Selbstbe
obachtung des Rechts (die Rechtsdogmatik) mit der Autonomie des Rechtssystems
zusammenhängt, so lässt sich hinzuzufügen, dass ein Minimum an Rechtsstaatlichkeit
bzw. rule of law (mit der Verfassung als reflexiver Ebene) Bedingung der Möglichkeit der
Konstruktion der Rechtsordnung durch die „eigenständige Rechtswissenschaft" bzw.
die selbstbeobachtende Rechtsdogmatik ist. Fehlt diese Bedingung der Möglichkeit der
Konstruktion von Ordnung, wird die Rechtsdogmatik von verschiedenartigen Reflexi
onen und Beschreibungen überfordert und versagt in ihrer Funktion, die Identität und
Einheit des Rechtssystems mit praktischer Relevanz zu reflektieren, sie ist also nicht in
der Lage, der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung des Rechts funktionsfähig
zu dienen.167
Zum Schluß möchte ich die normativen Implikationen der beiden Modelle der
Autonomie andeuten. Natürlich weisen Luhmanns Systemtheorie und Kelsens Reine
Rechtslehre vehement - freilich unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen - jeden
normativen Anspruch von sich. Aber die zu stellende Frage ist nicht, ob sich norma
tive „Intentionen" bei Luhmann und Kelsen nachweisen lassen oder ob die jeweiligen
Theorien darauf „hinauswollen". Vielmehr ist an dieser Stelle zu hinterfragen, ob die
entsprechenden Theoriegebäude wirklich weder einen normativen Hintergrund haben
noch normative Implikationen mit sich tragen. Wenn beide Modelle der Autonomie
des Rechts in einem inneren Zusammenhang mit Rechtsstaatlichkeit bzw. rule of law
stehen, wie ich in diesem Beitrag zu zeigen versucht habe, dann lässt sich behaupten,
dass ihnen bestimmte normative Grundannahmen zugrunde liegen, die für die jewei
ligen Entstehungszusammenhänge der entsprechenden Theorien maßgeblich waren,
nämlich die normativen Ansprüche der modernen Gesellschaft und der modernen
Staaten westlicher Prägung auf Rechtsstaat, rule of law und Konstitutionalismus, und
das heißt: auf die Autonomie des Rechts gegenüber Macht, Geld, Religion, guten Be
ziehungen usw. Bezöge man aber den demokratischen Anspruch in diese Betrachtung
mit ein, so würden die auf diese Entstehungszusammenhänge zurückzuführenden
Grundannahmen noch weiterführen: Stünde Demokratie mit Rechtsstaatlichkeit / rule
of law in einem inneren Zusammenhang, so könnte man auch auf den verborgenen
demokratischen Hintergrund der beiden Paradigmen hindeuten; diese Fragestellung
würde aber den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen.

Anschrift des Autors: Prof. Dr. Marcelo Neves, Rua Maranhäo, 192, ap. 23, 01240-000 Säo Paulo - SP
- Brasilien, e-mail: mneves57@yahoo.com.br

167 Siehe in anderem Kontext Neves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren
Moderne (Fn. 6), 207 ff.

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