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Hege Stück, Kiel
I. Einleitung
Die Abwägung ist bereits Gegenstand vieler Abhandlungen gewesen. Diese beschäf
tigen sich jedoch mit den Fragen nach der Zulässigkeit von Abwägungen im Recht,
nach der Konstruktion von Prinzipien- oder Normenkollisionen oder nach den Kriteri
en für die Begründung von Vorrangrelationen.1 In der vorliegenden Untersuchung
wird vorausgesetzt, daß sich Abwägungen bei der Rechtsanwendung nicht vermei
den lassen und es deshalb nur darum gehen kann, ihren Einsatz an rationale Kriteri
en zu knüpfen. Es soll deshalb um das Verhältnis von Subsumtion und Abwägung als
Formen der Rechtsanwendung gehen. Wenn Alexy schreibt, daß die Subsumtion die
für Regeln charakteristische Form der Rechtanwendung ist, die Abwägung die für
Prinzipien,2 so könnte man meinen, es stünden dem Rechtsanwender die beiden
Formen der Rechtsanwendung wahlweise zur Verfügung.3 Die hier zu untersuchen
de Frage besteht daher darin, inwieweit die Abwägung als Methode der Rechtsan
Vgl. dazu eingehend R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. Frankfurt/Main 1994, S. 143ff.,
span.: Teoría de los Derechos Fundamentales, Madrid 1993, S. 157ff.; J.-R. Sieckmann, Regelmo
delle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, Baden-Baden 1990, S. 52ff., 141 ff.; dens., Zur
Abwägungsfähigkeit von Prinzipien, in: H.-J. Koch/U. Neumann (Hrsg.), Praktische Vernunft und
Rechtsanwendung, ARSP Beiheft 53 (1993), S. 205ff.; dens., Zur Begründung von Abwägungsur
teilen, in: Rechtstheorie 26 (1995), S. 45ff.; N. Jansen, Die Struktur rationaler Abwägungen, in: A.
Brockmöller, D. Buchwald, D. v. d. Pfordten, K. Tappe (Hg.), Ethische und strukturelle Herausfor
derungen des Rechts, ARSP Beiheft 66 (1997), S. 152-168.
R. Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, in: Rechtstheorie 18 (1987), S. 408; ders., Grund
rechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, in: ders., Recht-Vernunft-Diskurs, Frank
furt/Main 1995, S. 268 (Erstveröffentlichung in: Der Staat 29 (1990), S. 54); ders./R. Dreier, Statu
tory Interpretation in the Federal Republic of Germany, in: D. N. MacCormick/R. S. Summers, Inter
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406 Hege Stück
Der Begriffder Abwägung läßt sich zunächst in einem weiteren und einem engeren
Sinne verwenden. In einem weiteren Sinne kann der Begriffder Abwägung synonym
zu dem Begriffder Wertung oder Bewertung verwendet werden. Dabei bleibt zunächst
offen,was Gegenstand der Bewertung ist (Rechtsgüter, Argumente, Gründe, Interes
sen, etc.). In einem engeren Sinne wird mit Abwägung eine Methode der Rechtsan
wendung5 bezeichnet. Im allgemeinen werden Abwägungen dadurch qualifiziert, daß
sie zur Lösung von Normenkollisionen i.w.S. erforderlichsind.6 Nach anderer neuerer
Definition sind „Abwägungen (...) Entscheidungsverfahren zur begründeten Festset
zung von Vorrangrelationen unter kollidierenden Argumenten".7
Ferner sind zwei Konstruktionen von Abwägungen im Recht zu finden. Im Bereich
der Grundrechtsdogmatik findet man eine offen konstruierte Abwägung im Falle der
Anwendung der sog. Eingriffsdogmatik.8 Offen konstruiert soll heißen, daß bei der
Prüfung der Frage nach einer Grundrechtsverletzung z.B. im Rahmen einer Verfas
sungsbeschwerde zunächst dargelegt wird, daß ein Grundrecht eine bestimmte Frei
heitsbetätigung prinzipiell schützt, daß aber diese Grundrechtsausübung aufgrund
eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, wenn dieses u.a. geeignet, erforderlich
und proportional9 ist. Im Rahmen der Prüfung, ob das Gesetz proportional ist, sind
die Bedeutung der gesetzlichen Beschränkung des Grundrechtes und die Wichtigkeit
des mit dem Gesetz verfolgten Zweckes gegeneinander abzuwägen.10
Zu dieser offen konstruiertenAbwägung steht eine Abwägung im Gegensatz, die im
Rahmen der Anwendung von Normen mitRegelcharakter stattfindet.11Dabei wird vor
4 Ähnlich schon Ph. Heck, Begriffsbitdung und Interessenjurisprudenz, Tübingen 1932; neuestens
auch L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Rechtssysteme,
Berlin 1997, S. 120 und passim; H.-J. Koch, Die normtheoretische Basis der Abwägung, in: W.
Erbguth u.a. (Hg.), Abwägung im Recht, Köln/Berlin/Bonn/München 1996, S. 10, 13f. und 23f.
5 H.-J. Koch (Fn. 4), S. 9: „Methode der Rechtsfindung"; F. Ossenbühl, Abwägung im Verfassungs
recht, in: W. Erbguth u.a. (Hg.), Abwägung im Recht, Köln/Berlin/Bonn/München 1996, S. 25 (27):
„Methode der Rechtsfindung" und „Methode der Rechtsgewinnung".
6 Vgl. W. Enderlein, Abwägung in Recht und Moral, Freiburg/München 1992, S. 45.
7 J. R. Sieckmann, Semantischer Normbegriff und Normbegründung, in: ARSP 80 (1994), S. 238.
8 Vgl. hierzu nur R. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 249ff., 272ff., span.: S. 267ff., 292ff.
9 Zu den drei Teilgrundsätzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vgl. R. Alexy, aaO, S. 10Off.,
span.: S. 111 ff.
10 Zu den mit diesen Thesen vorausgesetzten Grundannahmen einer Außentheorie des Rechts, einer
weiten Tatbestandstheorie als einer Konstruktionstheorie und der grundsätzlichen Möglichkeit ra
tionaler Abwägungen vgl. nur R. Alexy, aaO, S. 249ff., span.: S. 267ff. (Außentheorie des Rechts),
S. 278ff., span.: 298ff. (weite Tatbestandstheorie), S. 143ff., span.: 157ff. (Abwägung als rationales
Verfahren) und unten.
11 Zu einer ähnlichen Gegenüberstellung von Abwägungen, durch die das Bundesverfassungsgericht
Prinzipienkollisionen direkt löst, und Abwägungen, die in das deduktive Hauptschema integriert
werden, vgl. R. Alexy/R. Dreier, Statutory Interpretation (Fn. 2), S. 104f.
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Subsumtion und Abwägung 407
In der Literatur finden sich Äußerungen zur Abwägung zum einen in verschiedenen
konkreten Rechtsgebieten, vor allem im Zivilrecht einerseits und in der Grundrechts
dogmatik andererseits, aber auch in Arbeiten zur Methodenlehre oder schließlich in
solchen, die die Abwägung selbst zum Gegenstand haben. Dabei fällt auf, daß bei
der Definition der Abwägung stets auf die Kollision von verschiedenen Gegenständen
abgestellt wird.
Larenz18 spricht in seinem grundlegenden Werk zur Methodenlehre von der Me
thode der Güterabwägung im Einzelfall. Dieser Methode bediene sich einerseits das
12 Vgl. zu einer solchen Konzeption nur H.-J. Koch/H. Rüßmann, Juristische Begründungslehre, Mün
chen 1982, S. 48ff., insbes. S. 57f.; R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 3. Aufl.,
Frankfurt/Main 1996, S. 273ff., A Theory of Legal Argumentation, Oxford 1989, S. 221 ff., Teoría de
la Argumentación Jurídica, Madrid, S. 213ff.
13 Der Fall, daß in einem konkreten Fall streitig ist, welche Norm anzuwenden ist, soll hier außer
Betracht bleiben. Vgl. zu den drei in einem juristischen Streitfall möglichen Streitpunkten R. Alexy/
R. Dreier, Statutory Interpretation (Fn. 2), S. 104.
14 Vgl. R. Alexy/R. Dreier, aaO, S. 105; R. Alexy, Juristische Interpretation, in: ders., Recht-Vernunft
Diskurs (Fn. 2), S. 87; ders., Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 145; span.: 159f.
15 So z.B. auch E. Bulygin, On Legal Interpretation, in: H.-J. Koch/U. Neumann (Hrsg.), Praktische
Vernunft und Rechtsanwendung, ARSP Beiheft 53 (1993), S. 17.
16 H.-J. Koch (Fn. 4), S. 19ff.
17 F. Ossenbühl (Fn. 5), S. 26 und 29.
18 Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., Berlin/Heidelberg/New York/London/Tokyo/Hong
Kong/Barcelona/Budapest 1991, S. 404ff.
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408 Hege Stück
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Subsumtion und Abwägung 409
Auffallend an der Darstellung der Methode der Abwägung in der Literatur ist folgen
des: Die Erklärung für das Auftreten der Methode der Abwägung fungiert zugleich
auch als Begründung fürdie Notwendigkeit derselben. Weil die Reichweite bestimm
ter Rechte oder Rechtsgüter unklar sei und diese deshalb kollidieren könnten, sei zur
Auflösung dieser Kollision eine Abwägung nötig.32 Diese Erklärung taugt aber nicht
unmittelbar für den Fall der Anwendung der Methode der Abwägung bei der Ausle
gung von unklaren Rechtsbegriffen. Im Falle des unklaren Rechtsbegriffes, unter den
subsumiert werden soll, leuchtet erstens nicht ein, warum abgewogen werden kann
oder muß, und zweitens ist zunächst überhaupt nicht klar, was abzuwägen ist. Woran
es hier zunächst fehlt, sind die kollidierenden Rechte, Rechtsgüter oder Normen. Es
liegt nur eine einfachrechtliche Norm vor, unter die subsumiert werden soll. Vorlie
gend soll es deshalb darum gehen, den Schritt von der Feststellung, daß ein näher zu
bestimmendes Tatbestandsmerkmal vorliegt, zu der zweiten Feststellung, daß diese
nähere Bestimmung nicht mit den herkömmlichen juristischen Argumenten33 vorge
nommen werden kann, und von da zu einer die zu treffende Entscheidung ergänzen
den Abwägung näher zu bestimmen.
Bevor jedoch der Versuch unternommen werden soll, die Ebene der Subsumtion
mitder der Abwägung zu verbinden, sollen zunächst die fürdie nachfolgenden Über
legungen wesentlichen Aspekte der Prinzipientheorie Alexys dargelegt werden.34
Zum Verständnis des unten verwendeten Abwägungsmodells von Alexy ist die von
ihm dargelegte Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien vorzustellen. Hier
nach sind Prinzipien Optimierungsgebote, d.h. „Normen, die gebieten, daß etwas in
einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen
Maße realisiert wird".35 Prinzipien sind deshalb dadurch charakterisiert, daß sie in
unterschiedlichem Grade erfülltwerden können.36 Durch gegenläufige Prinzipien und
Regeln wird der Bereich der rechtlichen Möglichkeiten der Erfüllung des Prinzips be
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410 Hege Stück
stimmt.37 Hingegen sind Regeln „Normen, die stets nur entweder erfülltoder nicht
erfülltwerden können", sie enthalten Festsetzungen im Hinblick auf die rechtlichen
und tatsächlichen Möglichkeiten.38 Damit ist die Unterscheidung zwischen Regeln
und Prinzipien eine Unterscheidung qualitativer Art: Jede Norm ist entweder eine
Regel oder ein Prinzip.39
Einen Ansatz fürdie Verbindung von Subsumtion und Abwägung bieten die von Ale
xy im Bereich der juristischen Argumentation bzw. Interpretation angeführten Prinzi
pienargumente. Schon in der Theorie der juristischen Argumentation findet sich eine
„Argumentation aus Prinzipien", die dort den teleologischen Argumenten zugeordnet
und nicht näher spezifiziert wird.40
Im Rahmen einer anderen neueren Einteilung der gesamten Vielfalt der juristi
schen Argumente in vier Grundkategorien41 finden sich die Prinzipienargumente an
anderer Stelle wieder. Er unterscheidet (1) linguistische, (2) genetische, (3) systema
tische und (4) allgemeine praktische Argumente.42 Dabei stützen sich die systemati
schen Argumente auf die Idee der Einheit oder Kohärenz des Rechtssystems und
werden in acht Untergruppen eingeteilt.43 Eine dieser Untergruppen stellen die Prin
zipienargumente dar.44 Deren Aufgabe soll u.a. darin bestehen, „die im Rechtssy
stem enthaltenen Rechtsprinzipien zur Anwendung zu bringen".45 Das schließe in
schwierigen Fällen regelmäßig die Abwägung zwischen gegenläufigen Prinzipien ein.
Dabei spielten in demokratischen Verfassungsstaaten Verfassungsprinzipien eine
besondere Rolle.46 Teleologische Argumente finden sich hier bei den allgemeinen
praktischen Argumenten wieder, d.h. „substantiellen Argumenten", die ihre Kraft al
lein aus ihrer inhaltlichen Richtigkeit ziehen.47 Sie sollen sich an den Folgen einer
Interpretation orientieren und sich letztlich auf eine Idee des Guten stützen.48 Allge
mein praktische Argumente werden dann benötigt, wenn die Argumente der drei er
sten Kategorien, die sog. institutionellen Argumente, nicht zu genau einem Ergebnis
führen, aber auch dazu, u.a. Prinzipienargumente zu ergänzen, damit diese über
haupt vollständig sein können.49 Eine Klärung des genaueren Funktionierens der Prin
zipienargumente sowie des Verhältnisses zwischen Prinzipienargumenten und den
traditionellen Argumentformen findet sich hier nicht.
37 Oers., aaO.
38 Ders., aaO., S. 76, span.: S. 87.
39 Ders., aaO., S. 76f., span.: S. 87.
40 R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (Fn. 12), S. 299, engl.: S. 243; span.: S. 234.
41 Vgl. hierzu R. Alexy, Juristische Interpretation (Fn. 14), S. 84 m.w.N.
42 Ders., aaO.
43 Ders., aaO.
44 Ders., aaO., S. 87.
45 Ders., aaO.
46 Ders., aaO. Vorliegend soll es nur um die Frage nach der Verwendung von Prinzipien gehen. Die
Fragen nach deren logischem Status sowie der Begründung werden dabei nur, soweit notwendig,
berührt; zum logischen Status vgl. nur R. Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, in: Recht-Ver
nuntt-Diskurs (Fn.2), S. 182ff. (Erstveröffentlichung in: Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), S. 63ff.).
47 Ders., Juristische Interpretation (Fn. 14), S. 89; Hervorhebung im Oriqinal.
48 Ders., aaO.
49 Ders., aaO., S. 87f.
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Subsumtion und Abwägung 411
Für den Bereich der grundrechtlichen Argumentation hat Alexy ein Regel/Prinzipien
Modell entwickelt,50 das auf den Bereich der Anwendung des einfachen Rechts zu
übertragen hier versucht werden soll.
Da weder ein reines Regel- noch ein reines Prinzipienmodell befriedigende Mo
delle der Rechtsanwendung zur Verfügung stellen,51 hat Alexy aus der Verbindung
der Regel- und der Prinzipienebene ein Regel/Prinzipien-Modell entwickelt.52 Für den
Bereich der Grundrechte geht er davon aus, daß Grundrechtsbestimmungen einen
Doppelcharakter besitzen, indem durch sie einerseits grundrechtliche Prinzipien, an
dererseits aber auch Regeln in Form von Festsetzungen relativ auf die Anforderun
gen gegenläufiger Prinzipien statuiert werden.53 Für die hier zu untersuchenden Fra
gen ist vor allem von Interesse, wie das Zusammenspiel von Regel- und Prinzipien
ebene erfolgen soll. Da Regeln Festsetzungen enthalten, bestehe unter dem Ge
sichtspunkt der Bindung an die Verfassung ein Vorrang der Regelebene.54
Um diese Erkenntnisse auf den Bereich der allgemeinen Rechtsanwendung zu
übertragen, soll jetzt nochmals der allgemeine Prozeß der Subsumtion genauer be
trachtet werden. Im Bereich der Regelebene geht es um die Subsumtion unter Tatbe
standsmerkmale. Aufgrund der Funktion der Tatbestandsmerkmale als Bestandteile
von Normen mit Konditionalform, nämlich der Vereinfachung der Normanwendung
durch die Vorgabe bestimmter Rechtsfolgen bei Vorliegen bestimmter Anwendungs
bedingungen,55 fehlt es zumindest auf den ersten Blick an einer Normenkollision.
Denn es gilt eine Norm anzuwenden, deren Anwendungsbereich problematisch sein
kann, weil die Reichweite eines oder mehrerer ihrerTatbestandsmerkmale unklar ist.
Zu einer Art der Kollision, wenn auch noch nicht zu einer unmittelbaren Normen
kollision, gelangt man bei der Bestimmung des Anwendungsbereiches, d.h. der Inter
pretation, eines problematischen Tatbestandsmerkmals und damit auch der Rechts
folge einer Norm. Und zwar können, und das wird bei problematischen Tatbestands
merkmalen regelmäßig der Fall sein, die verschiedenen cánones der Auslegung als
Formen der Interpretation zu einer unterschiedlichen Bestimmung des Anwendungs
bereichs des Tatbestandsmerkmals führen. Man könnte hier deshalb von einer Kolli
sion der verschiedenen juristischen Argumente sprechen.56 Dies stellt aber nicht den
in der Literatur angesprochenen Fall der Normenkollision dar, da es sich bei den
juristischen Argumentformen nicht um Normen handelt.
Im Falle von unklaren, näher zu bestimmenden Rechtsbegriffen können aber Nor
menkollisionen rekonstruiertwerden. Mit dieser Rekonstruktion soll zugleich versucht
Gewichtungsregeln zu erfolgen" verstanden werden, vgl. R. Alexy, Theorie der juristischen Argu
mentation (Fn. 12), S. 306, engl.: S. 249, span.: S. 239; s. jetzt auch L. Michael (Fn. 4), S. 206
m.w.N.
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4. Das Kollisionsgesetz
Mit Hilfe des Kollisionsgesetzes faßt Alexy Einsichten in die Struktur von Lösungen
von Prinzipienkollisionen zusammen.58 Wenn zwei abstrakt gleichrangige Belange
im konkreten Fall kollidieren, gehe es darum, durch Abwägung zu bestimmen, wel
chem der Belange im konkreten Fall der Vorrang einzuräumen ist.59 Die Kollision
werde im Ergebnis dadurch gelöst, „daß im Blick auf die Umstände des Falles eine
bedingte Vorrangrelation zwischen den Prinzipien festgesetzt" werde.60 Bedingte
Vorrangrelation bedeutet, daß das eine Prinzip unter den im konkreten Fall gegebe
nen Bedingungen dem anderen Prinzip vorgeht. Dieser Vorrang ist hinreichend zu
begründen.61 Eine solche Vorrangrelation kann wie folgt notiert werden:
(P, P P2) C
Dabei bezeichnet „C" die Vorrangbedingungen. Diese müssen im Falle von grund
rechtlichen Abwägungen vom Gericht dargelegt werden.62 Die Vorrangbedingungen
haben aber noch eine zweite Rolle. Handelt es sich bei dem vorgehenden Prinzip um
ein Grundrecht, so ist eine Handlung, die die Bedingungen „C" erfüllt,grundrechtlich
verboten.63 Abstrakt gesagt bedeutet das Vorgehen des einen Prinzips, daß im kon
kreten Fall die Rechtsfolge dieses Prinzips rechtlich geboten ist. Es kann daher eine
Regel formuliertwerden, die wie folgt lautet:
Wenn die Handlung h C erfüllt, dann ist die Rechtsfolge des vorgehenden Prinzips geboten.64
(K') Die Bedingungen, unter denen das eine Prinzip dem anderen vorgeht, bilden den
Tatbestand einer Regel, die die Rechtsfolge des vorgehenden Prinzips ausspricht.66
Mit Hilfe dieses Kollisionsgesetzes soll nun versucht werden, eine „hinter der anzu
wendenden Norm stehende" Prinzipienkollision zu rekonstruieren und für die Inter
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Subsumtion und Abwägung 413
wendigkeit von Abwägungen; vgl. J. R. Sieckmann, Zur Begründung von Abwägungsurteilen (Fn.
1), S. 45, Fn. 1 sowie W. Enderlein (Fn. 6), S. 70ff.
4. Aufl. 1985,
68 Vgl. K. Larenz(Fn. 18), S. 119f. m.w.N.; H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie,
S. 337f., 346f; ebenso aus der bundesdeutschen Zivilrechtsprechung BGHZ 17, 266 (276); ähnlich
bereits Ph. Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, in: AcP 112 (1914), S. 1 (17):
„Die Gesetze sind die Resultanten der in jeder Rechtsgemeinschaft einander gegenübertretenden
und um Anerkennung ringenden Interessen materieller, nationaler, religiöser und ethischer Rich
tung."
69 Vgl. schon Ph. Heck (Fn. 68), S. 18; ähnlich neuerdings auch L. Michael (Fn. 4), S. 48.
70 Ob ihm das stets gelingt, ist eine Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, auf die es im hier
- zunächst - nicht ankommt.
zu untersuchenden Fall der Rechtsanwendung
71 R. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 121., span.: S. 134.
72 Ders., aaO.
73 Zu abwägungsbezogenen vgl. dens., aaO, S. 110f., span.: S. 122f.
Ergebnisbegriffen
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414 Hege Stück
An dieser Stelle setzt üblicherweise die juristische Interpretation an, um mit Hilfe
der juristischen Argumente den subjektiven oder objektiven Willen des Gesetzgebers
zu ermitteln.74 Man könnte es an dieser Stelle bei der Verwendung der herkömmli
chen Argumentformen belassen und auf die Berücksichtigung von Prinzipien oder
Prinzipienargumenten verzichten, etwa weil man die herkömmlichen Argumentformen
fürausreichend erachtet oder weil man allein auf der Regelebene arbeiten möchte.75
Eine andere Möglichkeit bestünde darin, auf die Verwendung der herkömmlichen
juristischen Argumentformen gänzlich zu verzichten und zu einer unmittelbaren Ab
wägung etwaiger widerstreitender Interessen überzugehen, wie sie im Falle der oben
dargelegten offenen Abwägung häufig stattfindet. Eine solche Vorgehensweise wür
de aber derart mit der Tradition der juristischen Interpretation brechen, daß sie nur
dann gefordert werden soll, wenn es keine Möglichkeit gibt, von der traditionellen
Methodenlehre auszugehen und diese mit Hilfe der Prinzipientheorie zu ergänzen.
Eine solche ergänzende Konzeption muß mehreres leisten: Sie muß mehr bieten
als die traditionelle Methodenlehre. Sie muß ferner das Verhältnis von den traditionel
len Argumentformen und der Abwägung als Methode klären. Dabei geht es darum zu
bestimmen, was Prinzipienargumente sein könnten, ob Prinzipienargumente zusätz
lich einfach neben den traditionellen Argumentformen angewendet werden können
oder ob ihre Anwendung einen Wechsel zwischen verschiedenen Ebenen der juristi
schen Methodik bedeutet. Im Zusammenhang mit diesem letzten Punkt muß auch
geklärt werden, ob nicht die traditionellen Argumentformen bereits Abwägungen oder
Teilstücke von Abwägungen enthalten, d.h. es muß zu der Frage Stellung genommen
werden, ob es zwischen den traditionellen Argumentformen und der Methode der
Abwägung Überschneidungen gibt, die bedingt sind durch die verschiedenen Ebe
nen, auf denen sich die Methoden jeweils abspielen. Dies läßt sich nur klären, wenn
man zunächst feststellt, woran die Vornahme von Abwägungen zu erkennen ist.
Schließlich muß auch geklärt werden, ob Prinzipienargumente stets oder nur nach
rangig verwendet werden dürfen. Von diesen Fragen kann hier nur noch zu einigen
Stellung genommen werden.
Mitdem oben dargelegten Kollisionsgesetz und dessen „Umkehrung" liegt eine Struktur
vor, mit der notwendige substantielle Wertungen im Bereich der Interpretation von
anzuwendenden Normen als Abwägungen rekonstruiert werden können.
Um diese Struktur im konkreten Anwendungsfall zu füllen, sind in einem ersten
Schritt die einschlägigen Prinzipien zu ermitteln. Das können diejenigen Prinzipien
sein, die z.B. im Mietrecht das Interesse des Vermieters und das des Mieters zum
Gegenstand haben76 und denen der Gesetzgeber mitder anzuwendenden Norm z.B.
im Wohnraumkündigungsschutz unterschiedlichen Vorrang gegeben hat, wenn er die
Kündigung von Wohnraum durch den Vermieter nur aus im einzelnen aufgeführten
wichtigen Gründen zuläßt. Die Einschlägigkeit der Prinzipien ist zu begründen.
74 Zu den Auslegungszielen der Ermittlung des subjektiven oder objektiven Willens des Gesetzge
bers vgl. R. Alexy, Juristische Interpretation (Fn. 14), S. 82f.; ders./R. Dreier, Statutory Interpreta
tion (Fn. 2), S. 93.
75 So dürfte E. Bulygin (Fn. 13), S. 16f. zu verstehen sein.
76 Zum Verhältnis von Prinzip und Interesse vgl. oben Fn. 67.
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Subsumtion und Abwägung 415
(A) Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist,
um so größer muß die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein.82
77 Das Abwägungskonzepl ist dabei nicht auf eine subjektive oder objektive Auslegungszieltheorie
festgelegt. Die Abwägung kann sowohl entsprechend der vom wirklichen Gesetzgeber vorgenom
menen Abwägung aber auch im Hinblick auf ein vernünftiges Ergebnis vorgenommen werden.
78 Vgl. dazu R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (Fn. 12), S. 278ff., engl.: S. 226, span.:
S. 218.
79 R. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 144, span.: S. 158f.; hierdurch wird das Abwägungs
modell mit der Theorie der juristischen Argumentation verknüpft, vgl. S. 152, span.: S. 167.
80 Ders., aaO., S. 144f., span.: S. 159f.
81 Ders., aaO., S. 144f., span.: S. 159.
82 R. Alexy, aaO., S. 146, span.: 161; ders., R. Dreier, Statutory Interpretation (Fn. 2), S. 101.
83 Ders., aaO., S. 149f., 152, span.: S. 164f., 167.
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in Frage kommende Argument verwendet werden können.84 Dies ist im Rahmen der
Interpretation des einfachen Rechts wiederum so nicht möglich, ohne daß die Argu
mentation insgesamt redundant wird. Daher sind im Rahmen der Abwägung in die
sem Fall lediglich noch allgemeine praktische Argumente anzuführen.
Bei der Frage nach der Reichweite von Prinzipienargumenten geht es zunächst darum,
ob der Einsatz von Prinzipienargumenten in einem konkreten Fall der Normanwendung
zulässig ist. Die Zulässigkeit von Prinzipienargumenten ist z.T. eine Frage der Striktheit
der anzuwendenden Norm. Im Regel/Prinzipienmodell des Rechtssystems wird die Bin
dung an Festsetzungen des Rechts durch die Bindung an Regeln und den grundsätzli
chen Vorrang von Regeln vor Prinzipien erreicht.85 Die vorliegende Konzeption soll
daher in der dargelegten Form zunächst nur auf diejenige Interpretation bezogen wer
den, die über den möglichen Wortsinn eines zu interpretierenden Tatbestandsmerk
mals nicht hinausgeht. Sie hat lediglich die Funktion, für deren Interpretation zusätzli
che normative Aspekte zu liefern und deren Verwendung rationaler zu strukturieren.
Aber auch im Falle des eindeutigen Wortlautes einer Norm und damit einer strik
ten Festlegung können Prinzipien zur Begründung einer „Auslegung" contra legem
herangezogen werden. In diesem Fall deckt sich die Begründung mit einem Prinzipi
enargument inhaltlich mit der Begründung beispielsweise mit einer teleologischen
Reduktion, die ebenfalls eine Auslegung contra legem zum Inhalt hat. Der Einsatz
von Prinzipienargumenten hat gegenüber der teleologischen Argumentation den Vor
teil, daß sich Prinzipienargumente je nach der Anzahl der im Spiele stehenden Prinzi
pien erweitern lassen und dazu führen, daß entsprechend der oben dargelegten Re
konstruktion vorzunehmende Bewertungen unter Berücksichtigung der Erkenntnisse
über Abwägungsstrukturen klarer vorgenommen werden. Zudem muß im Rahmen
der Prinzipienargumentation im Falle der Auslegung contra legem über die Darstel
lung der Kollision inhaltlicher Prinzipien auch die Kollision zwischen dem formellen
Prinzip der Wahrung des gesetzgeberischen Willens und dem Prinzip der materiellen
Richtigkeit dargelegt und gute Gründe für das Abweichen vom gesetzgeberischen
Willen angeführt werden.86 Hieran wird nochmals deutlich, daß die Argumentation
aus Prinzipien nicht dazu führt,Durchbrechungen des gesetzgeberischen Willens zu
erleichtern und die Gesetze dadurch „weicher" zu machen, sondern den Anspruch
hat, bereits vorhandene juristische Argumente rationaler zu strukturieren und sie da
durch kontrollierbarer zu machen.
Die Frage nach der Zulässigkeit von Prinzipienargumenten kann aber nicht nur in
struktureller,sondern auch in inhaltlicher Hinsicht gestellt werden. So ist Dworkin der
Ansicht, der Richter dürfe nur „principies", d.h. Rechte, nicht aber „policies", d.h. poli
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Subsumtion und Abwägung 417
Schließlich stellt sich die Frage nach dem Gebotensein von Prinzipienargumenten.
Dabei sind nicht-verfassungsrechtliche und verfassungsrechtliche Prinzipien zu un
terscheiden. Im allgemeinen könnte die Forderung, daß alle möglichen Argumente
anzuführen sind, auch die Berücksichtigung der Prinzipienargumente in jedem Fall
notwendig machen. Zählte man die Prinzipienargumente zu den cánones der Ausle
gung, so könnte sich diese Forderung aus Alexys Regel (J.9) ergeben, wonach alle
Argumente der zu den cánones der Auslegung zu rechnenden Form, die möglicher
weise vorgebracht werden können, zu berücksichtigen sind.89 Diese Forderung geht
jedoch im Rahmen der Rechtsanwendung zu weit, weil sie dazu führt,daß die durch
die Konditionalform gegebene Entlastungsfunktion der Gesetze nicht mehr gegeben
ist. Es entstünde das Problem der Überargumentation, dem am besten durch die
Orientierung an dem „Echoprinzip" begegnet werden kann, indem sich die Argumen
tation in erster Linie auf das Parteivorbringen bezieht. Für den Bereich nicht verfas
sungsrechtlicher Prinzipien gilt die Forderung, daß alle möglichen Argumente anzu
führen sind, daher nicht.
Prinzipienargumente können allerdings aus verfassungsrechtlichen Gründen zu
berücksichtigen sein. Wenn verfassungsrechtliche Prinzipien einschlägig sind, sind
diese aufgrund des Vorrangs bzw. des höheren Ranges der Verfassung zu berück
sichtigen. Dem entspricht es, wenn Alexy in seiner Theorie der Grundrechte fordert,
daß Prinzipien nicht beliebig herangezogen und nicht herangezogen werden kön
nen.90 Führt die Anwendung einer Norm in bestimmten Fallgruppen oder regelmäßig
zur Bewertung einer Kollision von Verfassungsprinzipien, so muß der die Norm an
wendende Richter im Rahmen der „Interpretation" des fraglichen Tatbestandsmerk
mals als einem Wertbegriff91eine Abwägung im oben dargelegten Sinne vorneh
87 Zum Begriff des „principie" im Unterschied zu „policies" bei R. Dworkin vgl. dens., Taking Rights
Seriously, 2. Aufl. London 1978, S. 82,90; R. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 99., span.:
S. 111 ; da Dworkin nur Rechte als Gegenstände von Prinzipien begreift, nach dem hier vertretenen
Begriff aber auch kollektive Güter Gegenstand von Prinzipien sein können, verschiebt sich die
Frage. Während hier gefragt wird, welche Prinzipien im konkreten Fall berücksichtigt werden kön
nen, schließt Dworkin über seinen engen Begriff des Prinzips ganze Klassen von möglichen Argu
menten bereits von vornherein aus, wie z.B. die Argumentation aus kollektiven Gütern.
88 R. Dworkin, A Matter of Principie, Oxford 1986, S. 11 ; ähnlich auch J. Habermas, Faktizität und
Geltung, Frankfurt/Main 1992, S. 315ff., der sich grundsätzlich gegen die Möglichkeit der Abwä
gung von Grundrechten gegen kollektive Güter wendet. Dabei übersieht er, daß sich dann weite
Teile des Verwaltungsrechts wie z.B. das Baurecht, insbesondere aber auch das Umweltschutz
recht, nicht mehr rechtfertigen ließen.
89 R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (Fn. 12), S. 302; engl.: S. 250; span.: S. 240.
90 R. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 516, span.: S. 548f.
91 Vgl. zu Wertbegriffen H.-J. Koch/H. Rüßmann (Fn. 12), S. 201 ff.
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418 Hege Stück
Mit der vorliegenden Untersuchung wurde zu zeigen versucht, daß auch im Rahmen
der Anwendung und Interpretation von Normen in Regelform die Abwägung als Me
thode eingesetzt werden kann oder muß. Erst hierdurch wird es möglich, den Prozeß
der Argumentation so durchzustrukturieren, daß er vollständig alle relevanten Argu
mente enthält und fürden Adressaten des richterlichen Urteils verständlich wird. Das
Gebot, den Adressaten des Urteils alle für die Entscheidung relevanten Argumente
darzulegen, ergibt sich aus der in demokratischen Verfassungsstaaten regelmäßig
geltenden richterlichen Begründungspflicht.97'98 Eine diesen Anforderungen gerecht
werdende Begründung darf nicht auf der Regelebene und bei einer Begründung ste
henbleiben, die lediglich Interpretationsketten formuliert.Wenn komplexere Wertun
gen vorgenommen werden, muß die Prinzipienebene betreten werden, um die Wer
tungen anhand der dargelegten Strukturen vorzunehmen.
Natürlich könnte gegen die hier vertretene These vorgebracht werden, daß die
Richter im demokratischen Verfassungsstaat schon genügend demokratisch legiti
miert sind durch ihre Berufung in das Richteramt, das regelmäßig eine Richterwahl
durch repräsentative Wahlorgane vorsieht. Diese hinreichende Legitimation lasse das
Bedürfnis nach einer weiteren Legitimation durch die Argumentation in der einzelnen
Entscheidung des Richters entfallen. Aufgrund dieser Legitimation könne der Richter
in dem Fall, daß Gesetz und Interpretation ihm keine hinreichenden Vorgaben mach
ten, kraftseiner Autoritätden Fall entscheiden. Deshalb sei eine Entscheidungstheo
rie der Rechtsanwendung auch im demokratischen Verfassungsstaat ausreichend.
92 Dies führt nicht zu einer Anwendung des gesamten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes i.w.S., son
dern nur des Proportionalitätsgebots. Die Anwendung des Proportionalitätsgebots hat nicht eine
Argumentationslast zugunsten eines der kollidierenden Prinzipien zur Folge, wie von Kritikern der
Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Zivilrecht immer wieder angeführt wird. Denn
die Abwägungskonzeption Alexys erlaubt es, zwischen der Struktur der Abwägung und einer mög
lichen Argumentationslast im Falle des argumentativen Patts zu trennen. Letztere gilt z.B. bei der
Kollision von abstrakt gleichrangigen Grundrechten nicht; vgl. dens., Theorie der Grundrechte (Fn.
1); S. 516ff.
93 Seit BVerfGE 7, 198 (208ff.) - Lüth.
94 Z.B. BVerfGE 83, 130 (145ff.) - Josephine Mutzenbacher.
95 Z.B. BVerfGE 90, 1 (20f.) - „Wahrheit für Deutschland".
96 Vgl. hierzu BVerfGE 7, 198 (207); H.-J. Koch/H. Rüßmann (Fn. 12), S. 262ff.; vertiefend R. Alexy,
Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 477ff.; span.: S. 507ff.
97 Vgl. zur Regelung der richterlichen Begründungspflicht D. N. MacCormick/R. S. Summers (Fn. 2),
S. 60ff., 103ff„ 154ff., 197ff„ 237ff., 291ff„ 341ff„ 392f., 445ff.
98 R. Alexy, Juristische Interpretation (Fn. 14), S. 78.
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Subsumtion und Abwägung 419
Gesetze könne der Fall nicht entschieden werden. Auch die Interpretation der Geset
ze führe zu keinem eindeutigen Ergebnis. Schließlich gebe es auch keine Präzedenz
fälle, auf die er seine Entscheidung stützen könne. Deshalb habe er seine Entschei
dung kraftseiner Autoritätgefällt. Eine solche Entscheidung wird man vermutlich nicht
finden. Vielmehr wird der Richter seine Entscheidung in eine Interpretation der Ge
setze und Berücksichtigung von Präzedenzfällen einkleiden, auch wenn ihm bewußt
ist, daß hieraus nicht zwingend das von ihm „gefundene" Ergebnis folgt. Das bedeu
tet, daß in der Rechtspraxis Richter regelmäßig mit dem Anspruch urteilen, ihr Urteil
sei aus Rechtsnormen begründbar. Soweit eine Begründung auf normativer Basis
erfolgen kann, sollte sie deshalb auch auf diese Weise vorgenommen werden.
Schließlich läßt sich ein weiteres Argument gegen diesen Einwand anführen. Wenn
eine Argumentationstheorie der Rechtanwendung ein Mehr an Legitimation bringt,
dann ist dieses Mehr auch geboten. Denn in einem demokratischen Verfassungs
staat muß man von gleichberechtigten Bürgern ausgehen. Diesen muß der Richter
darlegen, wie er zu seiner Entscheidung gekommen ist. Es geht in diesem Verhältnis
nicht mehr an, daß eine Entscheidung allein kraftAutorität gefällt wird. Es steht den
Parteien zu, daß ihnen gegenüber die Entscheidung gerechtfertigtwird und daß die
se Rechtfertigung auch nicht als Interpretation der Gesetze „verpackt" wird, sondern
offengelegt wird, wenn dies nicht aufgrund der Interpretation der Gesetze allein ent
schieden werden kann. Im demokratischen Verfassungsstaat darf eine Entscheidung
nicht mehr unter angeblicher Rekurrierung auf einen - nicht vorliegenden - Willen
des Gesetzgebers gefällt werden, wenn dieser nicht nachgewiesen werden kann.
Im Anschluß an die dargelegten Überlegungen drängt sich als weitere Frage auf,
inwieweit die ergänzende Funktion, die aufgrund von Prinzipienargumenten erfolgen
de Abwägungen im Rahmen der Begründung von Interpretationen erfüllen, dazu führt,
daß die objektiv-teleologische Auslegung durch sie abgelöst wird, weil die Abwägung
sämtliche Erwägungen, die im Rahmen von objektiv-teleologischen Argumenten an
geführt werden, ebenfalls enthält, hingegen nicht derselben Unzulänglichkeitskritik
ausgesetzt ist wie die objektiv-teleologische Auslegung." Dies zu untersuchen ist
hier leider nicht mehr möglich.
99 Vgl. hierzu nur H.-J. Koch/H. Rüßmann (Fn. 10), S. 221ff., 228ff.; M. R. Deckert, Folgenorientie
München 1995, S. 45ff., sowie W. Fikentscher, Methoden des
rung in der Rechtsanwendung,
Rechts in vergleichender Darstellung, Band 3, Tübingen 1976, S. 67611., der die teleologische
Auslegung als Sammelbegriff für verschiedene Zweckargumentationen bezeichnet; vgl. nunmehr
auch H.-J. Koch (Fn. 4), S. 24, der sich von der „Analyse der objektiv- und (...) auch subjektiv
teleologischen Gesetzesauslegung in der Terminologie von Prinzipien und Abwägung (...) ein bes
seres Verständnis und Fortschritte in der Auslegungslehre" verspricht.
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