23680582

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Subsumtion und Abwägung

Author(s): Hege Stück


Source: ARSP: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie / Archives for Philosophy of Law and
Social Philosophy, Vol. 84, No. 3 (1998), pp. 405-419
Published by: Franz Steiner Verlag
Stable URL: http://www.jstor.org/stable/23680582
Accessed: 23-11-2015 06:28 UTC

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Hege Stück, Kiel

Subsumtion und Abwägung

Abstract: Weighing as a method of legal interprétation: in this investigation I will try to


show that legal interprétation amounts to more than the known cañones of interprétation
and the specific legal arguments. Principie arguments, too, which can resuit in weighing
can or have to be used within the framework of interprétation of Statutes.
A reversed form of Alexy's rule of collision (Kollisionsgesetz) will sen/e to connect the
level of rules with the level of principies. In order to structure principie arguments, which
resuit in weighing, Alexy's rule of weighing (Abwägungsgesetz) will be used.
In this way the transition to general practical argumentation within the framework of legal
interprétation can become clearer. The general practical argumentation is linked to the
relevant principies, i.e. to norms, and is therefore given a clearer structure. This leads to a
commitment of the judge in cases in which the usual cánones of interprétation do not lead
to a definite resuit of legal interprétation.
According to the constitutional law it is necessary to consider the fundamental legal prin
cipies in particular. The considération of other principies whose objects are for example
nonconstitutional interests that are incorporated in the Statute can be necessary because
of the general requirement of rational interprétation to consider all arguments, but it is not
in all cases.

I. Einleitung

Die Abwägung ist bereits Gegenstand vieler Abhandlungen gewesen. Diese beschäf
tigen sich jedoch mit den Fragen nach der Zulässigkeit von Abwägungen im Recht,
nach der Konstruktion von Prinzipien- oder Normenkollisionen oder nach den Kriteri
en für die Begründung von Vorrangrelationen.1 In der vorliegenden Untersuchung
wird vorausgesetzt, daß sich Abwägungen bei der Rechtsanwendung nicht vermei
den lassen und es deshalb nur darum gehen kann, ihren Einsatz an rationale Kriteri
en zu knüpfen. Es soll deshalb um das Verhältnis von Subsumtion und Abwägung als
Formen der Rechtsanwendung gehen. Wenn Alexy schreibt, daß die Subsumtion die
für Regeln charakteristische Form der Rechtanwendung ist, die Abwägung die für
Prinzipien,2 so könnte man meinen, es stünden dem Rechtsanwender die beiden
Formen der Rechtsanwendung wahlweise zur Verfügung.3 Die hier zu untersuchen
de Frage besteht daher darin, inwieweit die Abwägung als Methode der Rechtsan

Vgl. dazu eingehend R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. Frankfurt/Main 1994, S. 143ff.,
span.: Teoría de los Derechos Fundamentales, Madrid 1993, S. 157ff.; J.-R. Sieckmann, Regelmo
delle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, Baden-Baden 1990, S. 52ff., 141 ff.; dens., Zur
Abwägungsfähigkeit von Prinzipien, in: H.-J. Koch/U. Neumann (Hrsg.), Praktische Vernunft und
Rechtsanwendung, ARSP Beiheft 53 (1993), S. 205ff.; dens., Zur Begründung von Abwägungsur
teilen, in: Rechtstheorie 26 (1995), S. 45ff.; N. Jansen, Die Struktur rationaler Abwägungen, in: A.
Brockmöller, D. Buchwald, D. v. d. Pfordten, K. Tappe (Hg.), Ethische und strukturelle Herausfor
derungen des Rechts, ARSP Beiheft 66 (1997), S. 152-168.
R. Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, in: Rechtstheorie 18 (1987), S. 408; ders., Grund
rechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, in: ders., Recht-Vernunft-Diskurs, Frank
furt/Main 1995, S. 268 (Erstveröffentlichung in: Der Staat 29 (1990), S. 54); ders./R. Dreier, Statu
tory Interpretation in the Federal Republic of Germany, in: D. N. MacCormick/R. S. Summers, Inter

preting Statutes, Aldershot/Brookfield/Hongkong/Singapur/Sydney 1991, S. 99.


Daß auch Alexy nicht von einer solchen Trennung ausgeht, wird sich unten zeigen.

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wendung qualifiziert und zur Ergänzung des Subsumtionsverfahrens herangezogen


werden kann oder sogar muß.4 Es ist zunächst der Begriff der Abwägung (II.) zu
untersuchen. Sodann wird nach der Behandlung der Abwägung als Methode (III.)
gefragt. Im weiteren Verlauf wird mit den Arbeiten von Alexy als Ausgangspunkt und
Grundlage der Versuch einer Konzeption der Interpretation dargelegt werden, die die
Subsumtion mit der Abwägung verbindet (IV.). Schließlich wird zur Reichweite von
Prinzipienargumenten (V.) Stellung genommen werden.

II. Der Begriff der Abwägung

Der Begriffder Abwägung läßt sich zunächst in einem weiteren und einem engeren
Sinne verwenden. In einem weiteren Sinne kann der Begriffder Abwägung synonym
zu dem Begriffder Wertung oder Bewertung verwendet werden. Dabei bleibt zunächst
offen,was Gegenstand der Bewertung ist (Rechtsgüter, Argumente, Gründe, Interes
sen, etc.). In einem engeren Sinne wird mit Abwägung eine Methode der Rechtsan
wendung5 bezeichnet. Im allgemeinen werden Abwägungen dadurch qualifiziert, daß
sie zur Lösung von Normenkollisionen i.w.S. erforderlichsind.6 Nach anderer neuerer
Definition sind „Abwägungen (...) Entscheidungsverfahren zur begründeten Festset
zung von Vorrangrelationen unter kollidierenden Argumenten".7
Ferner sind zwei Konstruktionen von Abwägungen im Recht zu finden. Im Bereich
der Grundrechtsdogmatik findet man eine offen konstruierte Abwägung im Falle der
Anwendung der sog. Eingriffsdogmatik.8 Offen konstruiert soll heißen, daß bei der
Prüfung der Frage nach einer Grundrechtsverletzung z.B. im Rahmen einer Verfas
sungsbeschwerde zunächst dargelegt wird, daß ein Grundrecht eine bestimmte Frei
heitsbetätigung prinzipiell schützt, daß aber diese Grundrechtsausübung aufgrund
eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, wenn dieses u.a. geeignet, erforderlich
und proportional9 ist. Im Rahmen der Prüfung, ob das Gesetz proportional ist, sind
die Bedeutung der gesetzlichen Beschränkung des Grundrechtes und die Wichtigkeit
des mit dem Gesetz verfolgten Zweckes gegeneinander abzuwägen.10
Zu dieser offen konstruiertenAbwägung steht eine Abwägung im Gegensatz, die im
Rahmen der Anwendung von Normen mitRegelcharakter stattfindet.11Dabei wird vor

4 Ähnlich schon Ph. Heck, Begriffsbitdung und Interessenjurisprudenz, Tübingen 1932; neuestens
auch L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Rechtssysteme,
Berlin 1997, S. 120 und passim; H.-J. Koch, Die normtheoretische Basis der Abwägung, in: W.
Erbguth u.a. (Hg.), Abwägung im Recht, Köln/Berlin/Bonn/München 1996, S. 10, 13f. und 23f.
5 H.-J. Koch (Fn. 4), S. 9: „Methode der Rechtsfindung"; F. Ossenbühl, Abwägung im Verfassungs
recht, in: W. Erbguth u.a. (Hg.), Abwägung im Recht, Köln/Berlin/Bonn/München 1996, S. 25 (27):
„Methode der Rechtsfindung" und „Methode der Rechtsgewinnung".
6 Vgl. W. Enderlein, Abwägung in Recht und Moral, Freiburg/München 1992, S. 45.
7 J. R. Sieckmann, Semantischer Normbegriff und Normbegründung, in: ARSP 80 (1994), S. 238.
8 Vgl. hierzu nur R. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 249ff., 272ff., span.: S. 267ff., 292ff.
9 Zu den drei Teilgrundsätzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vgl. R. Alexy, aaO, S. 10Off.,
span.: S. 111 ff.
10 Zu den mit diesen Thesen vorausgesetzten Grundannahmen einer Außentheorie des Rechts, einer
weiten Tatbestandstheorie als einer Konstruktionstheorie und der grundsätzlichen Möglichkeit ra
tionaler Abwägungen vgl. nur R. Alexy, aaO, S. 249ff., span.: S. 267ff. (Außentheorie des Rechts),
S. 278ff., span.: 298ff. (weite Tatbestandstheorie), S. 143ff., span.: 157ff. (Abwägung als rationales
Verfahren) und unten.
11 Zu einer ähnlichen Gegenüberstellung von Abwägungen, durch die das Bundesverfassungsgericht
Prinzipienkollisionen direkt löst, und Abwägungen, die in das deduktive Hauptschema integriert
werden, vgl. R. Alexy/R. Dreier, Statutory Interpretation (Fn. 2), S. 104f.

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ausgesetzt, daß diese Normen mittelseiner deduktiven Begründungsstruktur als Grund


strukturangewendet werden, die durch eine Konzeption der Begründung der im deduk
tiven Schema verwendeten Prämissen ergänzt wird.12 Der Gegensatz zur offen kon
struierten Abwägung besteht darin, daß im Falle der Anwendung von Normen mit Re
gelcharakter zunächst lediglich die Ebene der Subsumtion betreten wird, die an sich
mit der Ebene der Abwägung nichts zu tun hat. Der Regelcharakter besagt, daß der
Anwendungsbereich der Norm an sich strukturellfeststeht und daß die Anwendung im
konkreten Fall der Idee nach nur anhand der Tatbestandsmerkmale der anzuwenden
den Norm erfolgt. Auf die Kollision der anzuwendenden Norm mit etwaigen anderen
Normen kommt es der Idee nach regelmäßig nicht an.13 Abwägungen können im Rah
men der Interpretationder Tatbestandsmerkmale vollzogen werden.14 Daß es sich hier
bei um Abwägungen im oben dargelegten weiteren Sinne handelt, wird vermutlich nicht
bestrittenwerden.15 Gegenstand der vorliegenden Überlegungen soll sein, im Rahmen
der Interpretationdie Abwägung als juristische Methode (Abwägung i.e.S.) fruchtbarzu
machen. Bevor der Versuch unternommen werden soll, die Ebene der Subsumtion mit
der der Abwägung zu verbinden, soll zunächst die Literaturdaraufhin untersucht wer
den, inwieweit sie die Abwägung als Methode der Rechtsanwendung berücksichtigt.
Schließlich wird der Begriffder Abwägung noch in einer anderen Hinsicht unter
schiedlich verwendet. Einerseits wird mitAbwägung der gesamte Weg von der Fest
stellung einer Prinzipienkollision über die Festsetzung einer Vorrangregel bis hin zur
Begründung des Vorranges im Einzelfall anhand verschiedener Kriterien bezeich
net.16 Andererseits soll Abwägung nur die am Ende dieses Weges stehende und mit
dem Grundsatz der Proportionalität identische wertende Gegenüberstellung und Be
gründung des Vorranges eines der kollidierenden Rechtsgüter sein.17

III. Abwägung als Methode

In der Literatur finden sich Äußerungen zur Abwägung zum einen in verschiedenen
konkreten Rechtsgebieten, vor allem im Zivilrecht einerseits und in der Grundrechts
dogmatik andererseits, aber auch in Arbeiten zur Methodenlehre oder schließlich in
solchen, die die Abwägung selbst zum Gegenstand haben. Dabei fällt auf, daß bei
der Definition der Abwägung stets auf die Kollision von verschiedenen Gegenständen
abgestellt wird.
Larenz18 spricht in seinem grundlegenden Werk zur Methodenlehre von der Me
thode der Güterabwägung im Einzelfall. Dieser Methode bediene sich einerseits das

12 Vgl. zu einer solchen Konzeption nur H.-J. Koch/H. Rüßmann, Juristische Begründungslehre, Mün
chen 1982, S. 48ff., insbes. S. 57f.; R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 3. Aufl.,
Frankfurt/Main 1996, S. 273ff., A Theory of Legal Argumentation, Oxford 1989, S. 221 ff., Teoría de
la Argumentación Jurídica, Madrid, S. 213ff.
13 Der Fall, daß in einem konkreten Fall streitig ist, welche Norm anzuwenden ist, soll hier außer
Betracht bleiben. Vgl. zu den drei in einem juristischen Streitfall möglichen Streitpunkten R. Alexy/
R. Dreier, Statutory Interpretation (Fn. 2), S. 104.
14 Vgl. R. Alexy/R. Dreier, aaO, S. 105; R. Alexy, Juristische Interpretation, in: ders., Recht-Vernunft
Diskurs (Fn. 2), S. 87; ders., Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 145; span.: 159f.
15 So z.B. auch E. Bulygin, On Legal Interpretation, in: H.-J. Koch/U. Neumann (Hrsg.), Praktische
Vernunft und Rechtsanwendung, ARSP Beiheft 53 (1993), S. 17.
16 H.-J. Koch (Fn. 4), S. 19ff.
17 F. Ossenbühl (Fn. 5), S. 26 und 29.
18 Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., Berlin/Heidelberg/New York/London/Tokyo/Hong
Kong/Barcelona/Budapest 1991, S. 404ff.

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Bundesverfassungsgericht „zur Bestimmung der jeweiligen Reichweite zweier Grund


rechte oder Verfassungsprinzipien, die im Einzelfall miteinander kollidieren".19 Ande
rerseits bediene sich aber auch die (seil, das einfache Recht anwendende) Recht
sprechung der gleichen Methode „etwa dann, wenn das allgemeine Persönlichkeits
recht des einen mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht oder einem Grundrecht
eines anderen kollidiert, wie auch in zahlreichen anderen Kollisionsfällen, etwa bei
der Frage, ob Notstand vorliegt, sowie bei der Entscheidung der Frage, was im Ein
zelfall ,zumutbar' oder .erträglich' sei".20 Larenz führtden Gebrauch dieser Methode
auf das Fehlen einer scharfen Begrenzung des Tatbestandes dieser Rechte bzw. das
Fehlen angebbarer Merkmale z.B. fürdas, was „zumutbar" ist, zurück 21 Rechte und
Prinzipien, deren Grenzen nicht festgelegt, sondern gewissermaßen „offen"bzw. „be
weglich" seien und deren Reichweite damit nicht von vornherein feststehe, könnten
deshalb leicht in Konflikttreten.22 Im Konfliktfallmüsse dann, um den Rechtsfrieden
wieder herzustellen, eines der betroffenen Rechte oder Rechtsgüter hinter das ande
re bis zu einem gewissen Maß zurücktreten.23 Die Rechtsprechung erreiche „dies
durch .Abwägung' der im Spiel befindlichen Rechte oder Rechtsgüter gemäß dem
.Gewicht', das sie dem betreffenden Gut in der betreffenden Situation beilegt".24 So
dann beschäftigt sich Larenz mit den Schwierigkeiten der Methode der Güterabwä
gung wie z.B. deren Kontrollierbarkeit.25 Die entscheidende Frage sei, ob es sich bei
der „Güterabwägung" überhaupt um eine Methode handele oder aber um das „Einge
ständnis, daß der Richter hier ohne jeden Rückhalt an methodische Grundsätze nur
noch aufgrund solcher Maßstäbe entscheide, die er sich selbst" setze.26 Diese
Frage
lasse sich nach dem heutigen Stand methodologischer Erkenntnisse vielleicht nicht
abschließend beantworten. Sodann untersucht Larenz die Art der Erwägungen, die
die Obergerichte hier anstellen.27 Von Interesse ist hier, daß Larenz im folgenden
allein solche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesge
richtshofes analysiert, die sich mit grundrechtlichen Kollisionen bzw. Kollisionen des
allgemeinen Persönlichkeitsrechts beschäftigen. Beispielfälle für die Abwägung im
Falle der Gruppe der Merkmale der „Zumutbarkeit" oder des „Erträglichen" führter
nicht an. So verwundert es nicht, daß er im Rahmen der
Untersuchung der Differen
ziertheit (und damit Nachvollziehbarkeit sowie Kontrollmöglichkeit) der Rechtspre
chung lediglich auf die Kriterien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eingeht und
allgemeine Fragen der Abwägung im Falle der Anwendung von einfachen Gesetzen
nicht mehr näher untersucht.
Auch Koch/Rüßmann beziehen sich in erster Linie im Rahmen der Grundrechts
anwendung auf die Abwägung im Einzelfall bzw. Prinzipienabwägung.28 Lediglich im
Rahmen der Erörterung von Ermessensnormen, die vom Rechtsanwender eine Tatbe
standsergänzung verlangen,29 wird die Abwägung als Folge der nach deutschem Ver
waltungsrecht gebotenen Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit seinen

Ders., aaO., S. 404.


Oers., aaO.
Ders., aaO.
Ders., aaO.
Ders., aaO.
Ders., aaO.
Ders., aaO., S. 404f.
Ders., aaO., S. 405.
Ders., aaO.
H.-J. Koch/H. Rüßmann (Fn. 12), S. 110, 244ff.
Dies., aaO., S. 85ff., 236.

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drei Teilgrundsätzen der Geeignetheit, Erforderlichkeitund Proportionalität im Rah


men des Proportionalitätsgebots angesprochen.30 Schließlich halten Koch/Rüßmann
jedoch im Rahmen der objektiv-teleologischen Argumentation im Falle einer Mehr
zahl von Zielen eine Folgenberücksichtigung einschließende Zieloptimierung für zu
lässig,31 was füreine Abwägung im Rahmen der Interpretation gehalten werden kann.

IV. Von der Subsumtion zur Abwägung

Auffallend an der Darstellung der Methode der Abwägung in der Literatur ist folgen
des: Die Erklärung für das Auftreten der Methode der Abwägung fungiert zugleich
auch als Begründung fürdie Notwendigkeit derselben. Weil die Reichweite bestimm
ter Rechte oder Rechtsgüter unklar sei und diese deshalb kollidieren könnten, sei zur
Auflösung dieser Kollision eine Abwägung nötig.32 Diese Erklärung taugt aber nicht
unmittelbar für den Fall der Anwendung der Methode der Abwägung bei der Ausle
gung von unklaren Rechtsbegriffen. Im Falle des unklaren Rechtsbegriffes, unter den
subsumiert werden soll, leuchtet erstens nicht ein, warum abgewogen werden kann
oder muß, und zweitens ist zunächst überhaupt nicht klar, was abzuwägen ist. Woran
es hier zunächst fehlt, sind die kollidierenden Rechte, Rechtsgüter oder Normen. Es
liegt nur eine einfachrechtliche Norm vor, unter die subsumiert werden soll. Vorlie
gend soll es deshalb darum gehen, den Schritt von der Feststellung, daß ein näher zu
bestimmendes Tatbestandsmerkmal vorliegt, zu der zweiten Feststellung, daß diese
nähere Bestimmung nicht mit den herkömmlichen juristischen Argumenten33 vorge
nommen werden kann, und von da zu einer die zu treffende Entscheidung ergänzen
den Abwägung näher zu bestimmen.
Bevor jedoch der Versuch unternommen werden soll, die Ebene der Subsumtion
mitder der Abwägung zu verbinden, sollen zunächst die fürdie nachfolgenden Über
legungen wesentlichen Aspekte der Prinzipientheorie Alexys dargelegt werden.34

1. Die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien

Zum Verständnis des unten verwendeten Abwägungsmodells von Alexy ist die von
ihm dargelegte Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien vorzustellen. Hier
nach sind Prinzipien Optimierungsgebote, d.h. „Normen, die gebieten, daß etwas in
einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen
Maße realisiert wird".35 Prinzipien sind deshalb dadurch charakterisiert, daß sie in
unterschiedlichem Grade erfülltwerden können.36 Durch gegenläufige Prinzipien und
Regeln wird der Bereich der rechtlichen Möglichkeiten der Erfüllung des Prinzips be

30 Dies., aaO., S. 240ff.


31 Dies., aaO., S. 232f.
32 So z.B. auch N. Jansen (Fn. 1 ).
33 Dabei wird als Ausgangspunkt angenommen, daß die Abwägung nicht zu den herkömmlichen juri
stischen Argumenten gehört.
34 Auf die gegen den Prinzipienbegriff Alexys von J. R. Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmo
delle des Rechtssystems (Fn. 1), S. 63ff, berechtigterweise angeführte Kritik kommt es für die
vorliegenden Überlegungen nicht an.
35 R. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 1 ), S. 75f., span.: S. 86.
36 Ders., aaO., S. 76, span.: S. 86.

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stimmt.37 Hingegen sind Regeln „Normen, die stets nur entweder erfülltoder nicht
erfülltwerden können", sie enthalten Festsetzungen im Hinblick auf die rechtlichen
und tatsächlichen Möglichkeiten.38 Damit ist die Unterscheidung zwischen Regeln
und Prinzipien eine Unterscheidung qualitativer Art: Jede Norm ist entweder eine
Regel oder ein Prinzip.39

2. Prinzipienargumente bei der Interpretation

Einen Ansatz fürdie Verbindung von Subsumtion und Abwägung bieten die von Ale
xy im Bereich der juristischen Argumentation bzw. Interpretation angeführten Prinzi
pienargumente. Schon in der Theorie der juristischen Argumentation findet sich eine
„Argumentation aus Prinzipien", die dort den teleologischen Argumenten zugeordnet
und nicht näher spezifiziert wird.40
Im Rahmen einer anderen neueren Einteilung der gesamten Vielfalt der juristi
schen Argumente in vier Grundkategorien41 finden sich die Prinzipienargumente an
anderer Stelle wieder. Er unterscheidet (1) linguistische, (2) genetische, (3) systema
tische und (4) allgemeine praktische Argumente.42 Dabei stützen sich die systemati
schen Argumente auf die Idee der Einheit oder Kohärenz des Rechtssystems und
werden in acht Untergruppen eingeteilt.43 Eine dieser Untergruppen stellen die Prin
zipienargumente dar.44 Deren Aufgabe soll u.a. darin bestehen, „die im Rechtssy
stem enthaltenen Rechtsprinzipien zur Anwendung zu bringen".45 Das schließe in
schwierigen Fällen regelmäßig die Abwägung zwischen gegenläufigen Prinzipien ein.
Dabei spielten in demokratischen Verfassungsstaaten Verfassungsprinzipien eine
besondere Rolle.46 Teleologische Argumente finden sich hier bei den allgemeinen
praktischen Argumenten wieder, d.h. „substantiellen Argumenten", die ihre Kraft al
lein aus ihrer inhaltlichen Richtigkeit ziehen.47 Sie sollen sich an den Folgen einer
Interpretation orientieren und sich letztlich auf eine Idee des Guten stützen.48 Allge
mein praktische Argumente werden dann benötigt, wenn die Argumente der drei er
sten Kategorien, die sog. institutionellen Argumente, nicht zu genau einem Ergebnis
führen, aber auch dazu, u.a. Prinzipienargumente zu ergänzen, damit diese über
haupt vollständig sein können.49 Eine Klärung des genaueren Funktionierens der Prin
zipienargumente sowie des Verhältnisses zwischen Prinzipienargumenten und den
traditionellen Argumentformen findet sich hier nicht.

37 Oers., aaO.
38 Ders., aaO., S. 76, span.: S. 87.
39 Ders., aaO., S. 76f., span.: S. 87.
40 R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (Fn. 12), S. 299, engl.: S. 243; span.: S. 234.
41 Vgl. hierzu R. Alexy, Juristische Interpretation (Fn. 14), S. 84 m.w.N.
42 Ders., aaO.
43 Ders., aaO.
44 Ders., aaO., S. 87.
45 Ders., aaO.
46 Ders., aaO. Vorliegend soll es nur um die Frage nach der Verwendung von Prinzipien gehen. Die
Fragen nach deren logischem Status sowie der Begründung werden dabei nur, soweit notwendig,
berührt; zum logischen Status vgl. nur R. Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, in: Recht-Ver
nuntt-Diskurs (Fn.2), S. 182ff. (Erstveröffentlichung in: Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), S. 63ff.).
47 Ders., Juristische Interpretation (Fn. 14), S. 89; Hervorhebung im Oriqinal.
48 Ders., aaO.
49 Ders., aaO., S. 87f.

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3. Ein Regel/Prinzipien-Modell der Rechtsanwendung

Für den Bereich der grundrechtlichen Argumentation hat Alexy ein Regel/Prinzipien
Modell entwickelt,50 das auf den Bereich der Anwendung des einfachen Rechts zu
übertragen hier versucht werden soll.
Da weder ein reines Regel- noch ein reines Prinzipienmodell befriedigende Mo
delle der Rechtsanwendung zur Verfügung stellen,51 hat Alexy aus der Verbindung
der Regel- und der Prinzipienebene ein Regel/Prinzipien-Modell entwickelt.52 Für den
Bereich der Grundrechte geht er davon aus, daß Grundrechtsbestimmungen einen
Doppelcharakter besitzen, indem durch sie einerseits grundrechtliche Prinzipien, an
dererseits aber auch Regeln in Form von Festsetzungen relativ auf die Anforderun
gen gegenläufiger Prinzipien statuiert werden.53 Für die hier zu untersuchenden Fra
gen ist vor allem von Interesse, wie das Zusammenspiel von Regel- und Prinzipien
ebene erfolgen soll. Da Regeln Festsetzungen enthalten, bestehe unter dem Ge
sichtspunkt der Bindung an die Verfassung ein Vorrang der Regelebene.54
Um diese Erkenntnisse auf den Bereich der allgemeinen Rechtsanwendung zu
übertragen, soll jetzt nochmals der allgemeine Prozeß der Subsumtion genauer be
trachtet werden. Im Bereich der Regelebene geht es um die Subsumtion unter Tatbe
standsmerkmale. Aufgrund der Funktion der Tatbestandsmerkmale als Bestandteile
von Normen mit Konditionalform, nämlich der Vereinfachung der Normanwendung
durch die Vorgabe bestimmter Rechtsfolgen bei Vorliegen bestimmter Anwendungs
bedingungen,55 fehlt es zumindest auf den ersten Blick an einer Normenkollision.
Denn es gilt eine Norm anzuwenden, deren Anwendungsbereich problematisch sein
kann, weil die Reichweite eines oder mehrerer ihrerTatbestandsmerkmale unklar ist.
Zu einer Art der Kollision, wenn auch noch nicht zu einer unmittelbaren Normen
kollision, gelangt man bei der Bestimmung des Anwendungsbereiches, d.h. der Inter
pretation, eines problematischen Tatbestandsmerkmals und damit auch der Rechts
folge einer Norm. Und zwar können, und das wird bei problematischen Tatbestands
merkmalen regelmäßig der Fall sein, die verschiedenen cánones der Auslegung als
Formen der Interpretation zu einer unterschiedlichen Bestimmung des Anwendungs
bereichs des Tatbestandsmerkmals führen. Man könnte hier deshalb von einer Kolli
sion der verschiedenen juristischen Argumente sprechen.56 Dies stellt aber nicht den
in der Literatur angesprochenen Fall der Normenkollision dar, da es sich bei den
juristischen Argumentformen nicht um Normen handelt.
Im Falle von unklaren, näher zu bestimmenden Rechtsbegriffen können aber Nor
menkollisionen rekonstruiertwerden. Mit dieser Rekonstruktion soll zugleich versucht

50 Theorie der Grundrechte (Fn. 1 ), S. 117ff., span.: 129ff.


51
Vgl. hierzu näher dens., aaO., S. 104ff., span.: 115ff.
52 Ders., aaO., S. 117ff., span.: 129ff.
53 Ders., aaO., S. 121 ff., span.: 133ff.; zu der Unterscheidung zwischen Grundrechtsnormen und
Grundrechtsbestimmungen vgl. S. 54ff., span.: S. 63ff. sowie zum zugrundeliegenden semanti
schen Normbegriff S. 42ff., span.: S. 50ff.
54 Ders., aaO., S. 121., span.: S. 134.
55 Vgl. hierzu z.B. nur K. F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, Köln/Berlin/Bonn/München 1994, S. 249f.
56 Interessant wäre es, weiter der Frage nachzugehen, ob auch die Begründung des Vorgehens ei
nes oder mehrerer Argumente die Struktur einer Abwägung hat; in dieser Richtung könnte die
Regel „(J.8) Die Bestimmung des Gewichtes von Argumenten verschiedener Formen hat nach

Gewichtungsregeln zu erfolgen" verstanden werden, vgl. R. Alexy, Theorie der juristischen Argu
mentation (Fn. 12), S. 306, engl.: S. 249, span.: S. 239; s. jetzt auch L. Michael (Fn. 4), S. 206
m.w.N.

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werden, näher zu klären, was „Prinzipienargumente" im Bereich der juristischen Inter


pretation sein können. Zu dieser Rekonstruktion ist auf das von Alexy entwickelte
Kollisionsgesetz57 zurückzugreifen.

4. Das Kollisionsgesetz

Mit Hilfe des Kollisionsgesetzes faßt Alexy Einsichten in die Struktur von Lösungen
von Prinzipienkollisionen zusammen.58 Wenn zwei abstrakt gleichrangige Belange
im konkreten Fall kollidieren, gehe es darum, durch Abwägung zu bestimmen, wel
chem der Belange im konkreten Fall der Vorrang einzuräumen ist.59 Die Kollision
werde im Ergebnis dadurch gelöst, „daß im Blick auf die Umstände des Falles eine
bedingte Vorrangrelation zwischen den Prinzipien festgesetzt" werde.60 Bedingte
Vorrangrelation bedeutet, daß das eine Prinzip unter den im konkreten Fall gegebe
nen Bedingungen dem anderen Prinzip vorgeht. Dieser Vorrang ist hinreichend zu
begründen.61 Eine solche Vorrangrelation kann wie folgt notiert werden:

(P, P P2) C
Dabei bezeichnet „C" die Vorrangbedingungen. Diese müssen im Falle von grund
rechtlichen Abwägungen vom Gericht dargelegt werden.62 Die Vorrangbedingungen
haben aber noch eine zweite Rolle. Handelt es sich bei dem vorgehenden Prinzip um
ein Grundrecht, so ist eine Handlung, die die Bedingungen „C" erfüllt,grundrechtlich
verboten.63 Abstrakt gesagt bedeutet das Vorgehen des einen Prinzips, daß im kon
kreten Fall die Rechtsfolge dieses Prinzips rechtlich geboten ist. Es kann daher eine
Regel formuliertwerden, die wie folgt lautet:
Wenn die Handlung h C erfüllt, dann ist die Rechtsfolge des vorgehenden Prinzips geboten.64

In dieser Regelformulierung ist „C" die Tatbestandsvoraussetzung einer Norm.


„Aus einem Präferenzsatz über eine bedingte Vorrangrelation folgt also eine Regel,
die beim Vorliegen der Vorrangbedingung die Rechtsfolge des vorgehenden Prinzips
vorschreibt."65 Hieraus formuliertAlexy das Kollisionsgesetz in einer weniger techni
schen Version wie folgt:

(K') Die Bedingungen, unter denen das eine Prinzip dem anderen vorgeht, bilden den
Tatbestand einer Regel, die die Rechtsfolge des vorgehenden Prinzips ausspricht.66

5. Rekonstruktion einer Prinzipienkollision

Mit Hilfe dieses Kollisionsgesetzes soll nun versucht werden, eine „hinter der anzu
wendenden Norm stehende" Prinzipienkollision zu rekonstruieren und für die Inter

57 R. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 79ff., span.: S. 90ff.


58 Ders., aaO., S. 79., span.: S. 90.
59 Ders., aaO., S. 80., span.: S. 90.
60 Ders., aaO., S. 81., span.: S. 92.
61 Ders., aaO., S. 82., span.: S. 93.
62 Ders., aaO., S. 82ff., span.: S. 93f.
63 Ders., aaO., S. 83, span.: S. 93f.
64 Vgl. zu einer spezifisch für Grundrechtsverletzungen formulierten derartigen dens., aaO., S.
Regel
83., span.: S. 94.
65 Ders., aaO., S. 83., span.: S. 94.
66 Ders., aaO., S. 84, span.: S. 94; ders./R. Dreier, Statutory Interpretation (Fn. 2), S. 102.

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Subsumtion und Abwägung 413

pretation fruchtbar zu machen. Hierzu soll das Kollisionsgesetz „umgekehrt" verwen


det werden. Im Falle der Interpretation von Normen, unter die subsumiert werden soll,
handelt es sich regelmäßig um Normen der Regelform, die Tatbestand und Rechts
folge enthalten. Wenn die Tatbestandsvoraussetzungen erfülltsind, muß der Richter
die Rechtsfolge aussprechen. Sollen nun bei der Interpretation der Tatbestandsvor
aussetzungen Prinzipienargumente herangezogen werden, so läßt sich dies nach
der hier vertretenen These wie folgt rekonstruieren. Die Tatbestandsvoraussetzun
gen der Regel stellen ebenfalls Bedingungen im Sinne der Bedingungen C des Kolli
sionsgesetzes dar, d.h. Bedingungen einer zwischen zwei oder mehreren Prinzipien
vom Gesetzgeber entschiedenen Vorrangrelation. Regelmäßig, wenn nicht stets, wird
der Gesetzgeber tätig, um Konfliktezwischen Interessen, Rechtsgütern, Gemeinwohl
zwecken etc., also Prinzipienkollisionen,67 zu lösen.68 Jede Norm stellt somit, wenn
sie eine rational begründbare Norm ist, das Ergebnis einer Prinzipienkollision dar. Da
mit der Bildung der Tatbestandsmerkmale durch den Gesetzgeber bestimmte Sach
verhalte von anderen unterschieden werden, auf die die vorgesehene Rechtsfolge
nicht angewendet werden soll,69 kommt den Tatbestandsmerkmalen die Rolle zu, die
Bedingungen festzulegen, unter denen die Prinzipienkollision zugunsten der vorge
sehenen Rechtsfolge des vorgehenden Prinzips gelöst wird.
Hiergegen kann eingewendet werden, daß die Tatbestandsmerkmale einer ge
setzgeberischen Norm nicht dasselbe leisten können wie die spezifischen Bedingun
gen, die regelmäßig z.B. von Verfassungsgerichten im Falle von Güterabwägungen
angegeben werden. Dies mag in einem gewissen Sinne zutreffen,jedoch erhebt der
Gesetzgeber beim Erlaß der Norm jedenfalls den Anspruch, mitden von ihm gewähl
ten Tatbestandsmerkmalen die einschlägigen Sachverhalte im Hinblick auf die ge
wählte Rechtsfolge adäquat zu erfassen.70
Damit stellt jedes Tatbestandsmerkmal einen Ergebnisbegiff dar. In ihnen sind die
Festsetzungen des Gesetzgebers im Hinblick auf konkrete Vorrangrelationen enthal
ten. Diese Festsetzungen können vollständig oder nicht vollständig sein. Sind die
Festsetzungen vollständig, so handelt es sich um eine vollständige Regel, die abwä
gungsfrei anwendbar ist.71 Sind die Festsetzungen hingegen unvollständig, wie etwa
bei unklaren oder auch bewußt unbestimmt gefaßten Rechtsbegriffen, so ist die Re
gel nicht mehr abwägungsfrei anwendbar.72 Die Rechtsbegriffe stellen in diesem Fall
abwägungsbezogene Rechtsbegriffe dar.73

67 von Abwägungen können Interessen, Rechtsgüter, Gemeinwohlzwecke, Werte oder


Gegenstand
oder Wer
Prinzipien sein. Die Verwirklichung von Interessen, Rechtsgütern, Gemeinwohlzwecken
ten kann wiederum Gegenstand von Prinzipien sein. Die Konstruktion als Prinzipienabwägungen
hat den Vorteil der Normativität der Abwägungsentscheidungen und den der Begründung der Not

wendigkeit von Abwägungen; vgl. J. R. Sieckmann, Zur Begründung von Abwägungsurteilen (Fn.
1), S. 45, Fn. 1 sowie W. Enderlein (Fn. 6), S. 70ff.
4. Aufl. 1985,
68 Vgl. K. Larenz(Fn. 18), S. 119f. m.w.N.; H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie,
S. 337f., 346f; ebenso aus der bundesdeutschen Zivilrechtsprechung BGHZ 17, 266 (276); ähnlich
bereits Ph. Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, in: AcP 112 (1914), S. 1 (17):

„Die Gesetze sind die Resultanten der in jeder Rechtsgemeinschaft einander gegenübertretenden
und um Anerkennung ringenden Interessen materieller, nationaler, religiöser und ethischer Rich
tung."
69 Vgl. schon Ph. Heck (Fn. 68), S. 18; ähnlich neuerdings auch L. Michael (Fn. 4), S. 48.
70 Ob ihm das stets gelingt, ist eine Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, auf die es im hier
- zunächst - nicht ankommt.
zu untersuchenden Fall der Rechtsanwendung
71 R. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 121., span.: S. 134.
72 Ders., aaO.
73 Zu abwägungsbezogenen vgl. dens., aaO, S. 110f., span.: S. 122f.
Ergebnisbegriffen

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414 Hege Stück

An dieser Stelle setzt üblicherweise die juristische Interpretation an, um mit Hilfe
der juristischen Argumente den subjektiven oder objektiven Willen des Gesetzgebers
zu ermitteln.74 Man könnte es an dieser Stelle bei der Verwendung der herkömmli
chen Argumentformen belassen und auf die Berücksichtigung von Prinzipien oder
Prinzipienargumenten verzichten, etwa weil man die herkömmlichen Argumentformen
fürausreichend erachtet oder weil man allein auf der Regelebene arbeiten möchte.75
Eine andere Möglichkeit bestünde darin, auf die Verwendung der herkömmlichen
juristischen Argumentformen gänzlich zu verzichten und zu einer unmittelbaren Ab
wägung etwaiger widerstreitender Interessen überzugehen, wie sie im Falle der oben
dargelegten offenen Abwägung häufig stattfindet. Eine solche Vorgehensweise wür
de aber derart mit der Tradition der juristischen Interpretation brechen, daß sie nur
dann gefordert werden soll, wenn es keine Möglichkeit gibt, von der traditionellen
Methodenlehre auszugehen und diese mit Hilfe der Prinzipientheorie zu ergänzen.
Eine solche ergänzende Konzeption muß mehreres leisten: Sie muß mehr bieten
als die traditionelle Methodenlehre. Sie muß ferner das Verhältnis von den traditionel
len Argumentformen und der Abwägung als Methode klären. Dabei geht es darum zu
bestimmen, was Prinzipienargumente sein könnten, ob Prinzipienargumente zusätz
lich einfach neben den traditionellen Argumentformen angewendet werden können
oder ob ihre Anwendung einen Wechsel zwischen verschiedenen Ebenen der juristi
schen Methodik bedeutet. Im Zusammenhang mit diesem letzten Punkt muß auch
geklärt werden, ob nicht die traditionellen Argumentformen bereits Abwägungen oder
Teilstücke von Abwägungen enthalten, d.h. es muß zu der Frage Stellung genommen
werden, ob es zwischen den traditionellen Argumentformen und der Methode der
Abwägung Überschneidungen gibt, die bedingt sind durch die verschiedenen Ebe
nen, auf denen sich die Methoden jeweils abspielen. Dies läßt sich nur klären, wenn
man zunächst feststellt, woran die Vornahme von Abwägungen zu erkennen ist.
Schließlich muß auch geklärt werden, ob Prinzipienargumente stets oder nur nach
rangig verwendet werden dürfen. Von diesen Fragen kann hier nur noch zu einigen
Stellung genommen werden.

6. Interpretation und Abwägung

Mitdem oben dargelegten Kollisionsgesetz und dessen „Umkehrung" liegt eine Struktur
vor, mit der notwendige substantielle Wertungen im Bereich der Interpretation von
anzuwendenden Normen als Abwägungen rekonstruiert werden können.
Um diese Struktur im konkreten Anwendungsfall zu füllen, sind in einem ersten
Schritt die einschlägigen Prinzipien zu ermitteln. Das können diejenigen Prinzipien
sein, die z.B. im Mietrecht das Interesse des Vermieters und das des Mieters zum
Gegenstand haben76 und denen der Gesetzgeber mitder anzuwendenden Norm z.B.
im Wohnraumkündigungsschutz unterschiedlichen Vorrang gegeben hat, wenn er die
Kündigung von Wohnraum durch den Vermieter nur aus im einzelnen aufgeführten
wichtigen Gründen zuläßt. Die Einschlägigkeit der Prinzipien ist zu begründen.

74 Zu den Auslegungszielen der Ermittlung des subjektiven oder objektiven Willens des Gesetzge
bers vgl. R. Alexy, Juristische Interpretation (Fn. 14), S. 82f.; ders./R. Dreier, Statutory Interpreta
tion (Fn. 2), S. 93.
75 So dürfte E. Bulygin (Fn. 13), S. 16f. zu verstehen sein.
76 Zum Verhältnis von Prinzip und Interesse vgl. oben Fn. 67.

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Subsumtion und Abwägung 415

Sind so mehrere Prinzipien ermitteltworden, deren Kollision der Gesetzgeber mit


der anzuwendenden Norm entscheiden wollte, so ist eine Abwägung zwischen die
sen Prinzipien vorzunehmen.77 Diese Abwägung ist ebenfalls in einem dem Kollisi
onsgesetz folgenden bedingten Präferenzsatz auszudrücken. Dieser muß zwei Be
sonderheiten aufweisen. Er muß erstens die im Tatbestand der Norm enthaltenen
Bedingungen als Entscheidung des Gesetzgebers mitberücksichtigen. Zweitens muß
er die in dem zu interpretierenden Tatbestandsmerkmal ausgedrückte Bedingung durch
Angabe von zusätzlichen Bedingungen spezifizieren. In diesem Punkt hat die Vorge
hensweise Ähnlichkeit mit der Festsetzung von Wortgebrauchsregeln78 im Rahmen
der üblichen Interpretation. Sie geht aber insofern darüber hinaus, als fürdie Begrün
dung der zusätzlichen Bedingungen eben Prinzipienargumente, die Abwägungen ein
schließen können, angeführt werden können.
Die Aufstellung eines spezifischen bedingten Präferenzsatzes reicht jedoch nach
dem Abwägungsmodell Alexys nicht aus. Denn nach ihm ist die Strukturder Abwägung
nicht mit einem Dezisions-, sondern einem Begründungsmodell zu verbinden.79 Im
Rahmen der Grundrechtsanwendung seien zur Begründung sowohl abwägungsunspe
zifische wie auch abwägungsspezifische Argumente verwendbar.80 Von den abwägungs
unspezifischen Argumenten seien außer den semantischen Argumenten alle in der grund
rechtlichen Argumentation möglichen Argumente verwendbar, also die cánones der
Auslegung, dogmatische, präjudizielle, allgemeine praktische und empirische Argumen
te.81 Dies läßt sich auf die Abwägung im Rahmen der Interpretation so nicht übertra
gen. Denn hier sind diese Argumente teilweise bereits vor dem Prinzipienargument
erörtertworden im Hinblick auf die Interpretation des gesetzlichen Tatbestandsmerk
mals. Um deren Wiederholung zu vermeiden, können daher im Rahmen der Abwägung
in diesen Fällen nur noch die abwägungsspezifischen Argumente verwendet werden.
Für diese abwägungsspezifische Begründung hat Alexy ein Abwägungsgesetz
entwcikelt. Es lautet:

(A) Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist,
um so größer muß die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein.82

Das Abwägungsgesetz bietet zwar kein Kriteriumfürdie Ermittlungstets sicherer


Ergebnisse an. Es führtaber insofern zu einem Rationalitätsgewinn dadurch, daß
hiernach angegeben werden muß, was begründet werden muß, nämlich die Wichtig
keit der Erfüllung des einen Prinzips und die Bedeutung der Beeinträchtigung des
anderen Prinzips.83 Diesen Rationalitätsgewinn hat auch die in die Interpretation inte
grierte Abwägung gegenüber der üblichen Interpretation allein mittels der üblichen
juristischen Argumente.
Nach Alexy soll im Rahmen der Begründung der Sätze über Beeinträchtigungs
und Wichtigkeitsgrade wiederum jedes auch sonst in der juristischen Argumentation

77 Das Abwägungskonzepl ist dabei nicht auf eine subjektive oder objektive Auslegungszieltheorie
festgelegt. Die Abwägung kann sowohl entsprechend der vom wirklichen Gesetzgeber vorgenom
menen Abwägung aber auch im Hinblick auf ein vernünftiges Ergebnis vorgenommen werden.
78 Vgl. dazu R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (Fn. 12), S. 278ff., engl.: S. 226, span.:
S. 218.
79 R. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 144, span.: S. 158f.; hierdurch wird das Abwägungs
modell mit der Theorie der juristischen Argumentation verknüpft, vgl. S. 152, span.: S. 167.
80 Ders., aaO., S. 144f., span.: S. 159f.
81 Ders., aaO., S. 144f., span.: S. 159.
82 R. Alexy, aaO., S. 146, span.: 161; ders., R. Dreier, Statutory Interpretation (Fn. 2), S. 101.
83 Ders., aaO., S. 149f., 152, span.: S. 164f., 167.

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416 Hege Stück

in Frage kommende Argument verwendet werden können.84 Dies ist im Rahmen der
Interpretation des einfachen Rechts wiederum so nicht möglich, ohne daß die Argu
mentation insgesamt redundant wird. Daher sind im Rahmen der Abwägung in die
sem Fall lediglich noch allgemeine praktische Argumente anzuführen.

V. Die Reichweite von Prinzipienargumenten

1. Die Zulässigkeit von Prinzipienargumenten

Bei der Frage nach der Reichweite von Prinzipienargumenten geht es zunächst darum,
ob der Einsatz von Prinzipienargumenten in einem konkreten Fall der Normanwendung
zulässig ist. Die Zulässigkeit von Prinzipienargumenten ist z.T. eine Frage der Striktheit
der anzuwendenden Norm. Im Regel/Prinzipienmodell des Rechtssystems wird die Bin
dung an Festsetzungen des Rechts durch die Bindung an Regeln und den grundsätzli
chen Vorrang von Regeln vor Prinzipien erreicht.85 Die vorliegende Konzeption soll
daher in der dargelegten Form zunächst nur auf diejenige Interpretation bezogen wer
den, die über den möglichen Wortsinn eines zu interpretierenden Tatbestandsmerk
mals nicht hinausgeht. Sie hat lediglich die Funktion, für deren Interpretation zusätzli
che normative Aspekte zu liefern und deren Verwendung rationaler zu strukturieren.
Aber auch im Falle des eindeutigen Wortlautes einer Norm und damit einer strik
ten Festlegung können Prinzipien zur Begründung einer „Auslegung" contra legem
herangezogen werden. In diesem Fall deckt sich die Begründung mit einem Prinzipi
enargument inhaltlich mit der Begründung beispielsweise mit einer teleologischen
Reduktion, die ebenfalls eine Auslegung contra legem zum Inhalt hat. Der Einsatz
von Prinzipienargumenten hat gegenüber der teleologischen Argumentation den Vor
teil, daß sich Prinzipienargumente je nach der Anzahl der im Spiele stehenden Prinzi
pien erweitern lassen und dazu führen, daß entsprechend der oben dargelegten Re
konstruktion vorzunehmende Bewertungen unter Berücksichtigung der Erkenntnisse
über Abwägungsstrukturen klarer vorgenommen werden. Zudem muß im Rahmen
der Prinzipienargumentation im Falle der Auslegung contra legem über die Darstel
lung der Kollision inhaltlicher Prinzipien auch die Kollision zwischen dem formellen
Prinzip der Wahrung des gesetzgeberischen Willens und dem Prinzip der materiellen
Richtigkeit dargelegt und gute Gründe für das Abweichen vom gesetzgeberischen
Willen angeführt werden.86 Hieran wird nochmals deutlich, daß die Argumentation
aus Prinzipien nicht dazu führt,Durchbrechungen des gesetzgeberischen Willens zu
erleichtern und die Gesetze dadurch „weicher" zu machen, sondern den Anspruch
hat, bereits vorhandene juristische Argumente rationaler zu strukturieren und sie da
durch kontrollierbarer zu machen.
Die Frage nach der Zulässigkeit von Prinzipienargumenten kann aber nicht nur in
struktureller,sondern auch in inhaltlicher Hinsicht gestellt werden. So ist Dworkin der
Ansicht, der Richter dürfe nur „principies", d.h. Rechte, nicht aber „policies", d.h. poli

84 Ders., aaO., S. 150, span.: S. 164.


85 Vgl. R. Alexy, Rechtssystem und Praktische Vernunft (Fn. 2), S. 222; für die Verfassung: ders.,
Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 121 f., span.: S. 133ff.
86 Eingehend zu formellen Prinzipien R. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 89; J.-R. Sieck
mann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems (Fn. 1), S. 147ff.

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Subsumtion und Abwägung 417

tische Zielsetzungen,87 berücksichtigen.88 Hiergegen ist einzuwenden, daß eine sol


che Forderung nicht zu einer rationaleren richterlichen Begründung führt.Sicher darf
der Richter keine eigenen, völlig freien sozialpolitischen Ziele verfolgen. Ein Verbot
der Berücksichtigung dieser Ziele im Rahmen der Argumentation, wenn sie relevante
Argumente für einen Fall mit sich bringen, birgt aber die Gefahr, daß diese Ziele
verdeckt berücksichtigt und die mit ihnen verbundenen Wertungen verdeckt vorge
nommen werden.

2. Das Gebotensein von Prinzipienargumenten

Schließlich stellt sich die Frage nach dem Gebotensein von Prinzipienargumenten.
Dabei sind nicht-verfassungsrechtliche und verfassungsrechtliche Prinzipien zu un
terscheiden. Im allgemeinen könnte die Forderung, daß alle möglichen Argumente
anzuführen sind, auch die Berücksichtigung der Prinzipienargumente in jedem Fall
notwendig machen. Zählte man die Prinzipienargumente zu den cánones der Ausle
gung, so könnte sich diese Forderung aus Alexys Regel (J.9) ergeben, wonach alle
Argumente der zu den cánones der Auslegung zu rechnenden Form, die möglicher
weise vorgebracht werden können, zu berücksichtigen sind.89 Diese Forderung geht
jedoch im Rahmen der Rechtsanwendung zu weit, weil sie dazu führt,daß die durch
die Konditionalform gegebene Entlastungsfunktion der Gesetze nicht mehr gegeben
ist. Es entstünde das Problem der Überargumentation, dem am besten durch die
Orientierung an dem „Echoprinzip" begegnet werden kann, indem sich die Argumen
tation in erster Linie auf das Parteivorbringen bezieht. Für den Bereich nicht verfas
sungsrechtlicher Prinzipien gilt die Forderung, daß alle möglichen Argumente anzu
führen sind, daher nicht.
Prinzipienargumente können allerdings aus verfassungsrechtlichen Gründen zu
berücksichtigen sein. Wenn verfassungsrechtliche Prinzipien einschlägig sind, sind
diese aufgrund des Vorrangs bzw. des höheren Ranges der Verfassung zu berück
sichtigen. Dem entspricht es, wenn Alexy in seiner Theorie der Grundrechte fordert,
daß Prinzipien nicht beliebig herangezogen und nicht herangezogen werden kön
nen.90 Führt die Anwendung einer Norm in bestimmten Fallgruppen oder regelmäßig
zur Bewertung einer Kollision von Verfassungsprinzipien, so muß der die Norm an
wendende Richter im Rahmen der „Interpretation" des fraglichen Tatbestandsmerk
mals als einem Wertbegriff91eine Abwägung im oben dargelegten Sinne vorneh

87 Zum Begriff des „principie" im Unterschied zu „policies" bei R. Dworkin vgl. dens., Taking Rights
Seriously, 2. Aufl. London 1978, S. 82,90; R. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 99., span.:
S. 111 ; da Dworkin nur Rechte als Gegenstände von Prinzipien begreift, nach dem hier vertretenen
Begriff aber auch kollektive Güter Gegenstand von Prinzipien sein können, verschiebt sich die
Frage. Während hier gefragt wird, welche Prinzipien im konkreten Fall berücksichtigt werden kön
nen, schließt Dworkin über seinen engen Begriff des Prinzips ganze Klassen von möglichen Argu
menten bereits von vornherein aus, wie z.B. die Argumentation aus kollektiven Gütern.
88 R. Dworkin, A Matter of Principie, Oxford 1986, S. 11 ; ähnlich auch J. Habermas, Faktizität und
Geltung, Frankfurt/Main 1992, S. 315ff., der sich grundsätzlich gegen die Möglichkeit der Abwä
gung von Grundrechten gegen kollektive Güter wendet. Dabei übersieht er, daß sich dann weite
Teile des Verwaltungsrechts wie z.B. das Baurecht, insbesondere aber auch das Umweltschutz
recht, nicht mehr rechtfertigen ließen.
89 R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (Fn. 12), S. 302; engl.: S. 250; span.: S. 240.
90 R. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 516, span.: S. 548f.
91 Vgl. zu Wertbegriffen H.-J. Koch/H. Rüßmann (Fn. 12), S. 201 ff.

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418 Hege Stück

men.92 Als Beispiele können hierfüraus der bundesdeutschen Verfassungsrechtspre


chung die im Rahmen des zivilrechtlichen Ehrschutzes erforderliche Abwägung zwi
schen Ehrschutz und Meinungsfreiheit93 und die bei der Frage nach der „sittlichen
Gefährdung" im Sinne des § 1 Abs. 1 des Gesetzes über jugendgefährdende Schrif
ten erforderliche Abwägung zwischen Jugendschutz und Kunst-94 oder Meinungsfrei
heit95 angeführt werden. Mit dem dargelegten Modell läßt sich daher auch die sog.
Ausstrahlungswirkung der Grundrechte96 differenzierterrekonstruieren.

VI. Zusammenfassung und Ausblick

Mit der vorliegenden Untersuchung wurde zu zeigen versucht, daß auch im Rahmen
der Anwendung und Interpretation von Normen in Regelform die Abwägung als Me
thode eingesetzt werden kann oder muß. Erst hierdurch wird es möglich, den Prozeß
der Argumentation so durchzustrukturieren, daß er vollständig alle relevanten Argu
mente enthält und fürden Adressaten des richterlichen Urteils verständlich wird. Das
Gebot, den Adressaten des Urteils alle für die Entscheidung relevanten Argumente
darzulegen, ergibt sich aus der in demokratischen Verfassungsstaaten regelmäßig
geltenden richterlichen Begründungspflicht.97'98 Eine diesen Anforderungen gerecht
werdende Begründung darf nicht auf der Regelebene und bei einer Begründung ste
henbleiben, die lediglich Interpretationsketten formuliert.Wenn komplexere Wertun
gen vorgenommen werden, muß die Prinzipienebene betreten werden, um die Wer
tungen anhand der dargelegten Strukturen vorzunehmen.
Natürlich könnte gegen die hier vertretene These vorgebracht werden, daß die
Richter im demokratischen Verfassungsstaat schon genügend demokratisch legiti
miert sind durch ihre Berufung in das Richteramt, das regelmäßig eine Richterwahl
durch repräsentative Wahlorgane vorsieht. Diese hinreichende Legitimation lasse das
Bedürfnis nach einer weiteren Legitimation durch die Argumentation in der einzelnen

Entscheidung des Richters entfallen. Aufgrund dieser Legitimation könne der Richter
in dem Fall, daß Gesetz und Interpretation ihm keine hinreichenden Vorgaben mach
ten, kraftseiner Autoritätden Fall entscheiden. Deshalb sei eine Entscheidungstheo
rie der Rechtsanwendung auch im demokratischen Verfassungsstaat ausreichend.

Hiergegen kann zunächst folgendes Argument angeführt werden: Es wird kein


Richter sein Urteil wie folgt begründen: Aufgrund der in dem Fall X einschlägigen

92 Dies führt nicht zu einer Anwendung des gesamten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes i.w.S., son
dern nur des Proportionalitätsgebots. Die Anwendung des Proportionalitätsgebots hat nicht eine
Argumentationslast zugunsten eines der kollidierenden Prinzipien zur Folge, wie von Kritikern der
Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Zivilrecht immer wieder angeführt wird. Denn
die Abwägungskonzeption Alexys erlaubt es, zwischen der Struktur der Abwägung und einer mög
lichen Argumentationslast im Falle des argumentativen Patts zu trennen. Letztere gilt z.B. bei der
Kollision von abstrakt gleichrangigen Grundrechten nicht; vgl. dens., Theorie der Grundrechte (Fn.
1); S. 516ff.
93 Seit BVerfGE 7, 198 (208ff.) - Lüth.
94 Z.B. BVerfGE 83, 130 (145ff.) - Josephine Mutzenbacher.
95 Z.B. BVerfGE 90, 1 (20f.) - „Wahrheit für Deutschland".
96 Vgl. hierzu BVerfGE 7, 198 (207); H.-J. Koch/H. Rüßmann (Fn. 12), S. 262ff.; vertiefend R. Alexy,
Theorie der Grundrechte (Fn. 1), S. 477ff.; span.: S. 507ff.
97 Vgl. zur Regelung der richterlichen Begründungspflicht D. N. MacCormick/R. S. Summers (Fn. 2),
S. 60ff., 103ff„ 154ff., 197ff„ 237ff., 291ff„ 341ff„ 392f., 445ff.
98 R. Alexy, Juristische Interpretation (Fn. 14), S. 78.

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Subsumtion und Abwägung 419

Gesetze könne der Fall nicht entschieden werden. Auch die Interpretation der Geset
ze führe zu keinem eindeutigen Ergebnis. Schließlich gebe es auch keine Präzedenz
fälle, auf die er seine Entscheidung stützen könne. Deshalb habe er seine Entschei
dung kraftseiner Autoritätgefällt. Eine solche Entscheidung wird man vermutlich nicht
finden. Vielmehr wird der Richter seine Entscheidung in eine Interpretation der Ge
setze und Berücksichtigung von Präzedenzfällen einkleiden, auch wenn ihm bewußt
ist, daß hieraus nicht zwingend das von ihm „gefundene" Ergebnis folgt. Das bedeu
tet, daß in der Rechtspraxis Richter regelmäßig mit dem Anspruch urteilen, ihr Urteil
sei aus Rechtsnormen begründbar. Soweit eine Begründung auf normativer Basis
erfolgen kann, sollte sie deshalb auch auf diese Weise vorgenommen werden.
Schließlich läßt sich ein weiteres Argument gegen diesen Einwand anführen. Wenn
eine Argumentationstheorie der Rechtanwendung ein Mehr an Legitimation bringt,
dann ist dieses Mehr auch geboten. Denn in einem demokratischen Verfassungs
staat muß man von gleichberechtigten Bürgern ausgehen. Diesen muß der Richter
darlegen, wie er zu seiner Entscheidung gekommen ist. Es geht in diesem Verhältnis
nicht mehr an, daß eine Entscheidung allein kraftAutorität gefällt wird. Es steht den
Parteien zu, daß ihnen gegenüber die Entscheidung gerechtfertigtwird und daß die
se Rechtfertigung auch nicht als Interpretation der Gesetze „verpackt" wird, sondern
offengelegt wird, wenn dies nicht aufgrund der Interpretation der Gesetze allein ent
schieden werden kann. Im demokratischen Verfassungsstaat darf eine Entscheidung
nicht mehr unter angeblicher Rekurrierung auf einen - nicht vorliegenden - Willen
des Gesetzgebers gefällt werden, wenn dieser nicht nachgewiesen werden kann.
Im Anschluß an die dargelegten Überlegungen drängt sich als weitere Frage auf,
inwieweit die ergänzende Funktion, die aufgrund von Prinzipienargumenten erfolgen
de Abwägungen im Rahmen der Begründung von Interpretationen erfüllen, dazu führt,
daß die objektiv-teleologische Auslegung durch sie abgelöst wird, weil die Abwägung
sämtliche Erwägungen, die im Rahmen von objektiv-teleologischen Argumenten an
geführt werden, ebenfalls enthält, hingegen nicht derselben Unzulänglichkeitskritik
ausgesetzt ist wie die objektiv-teleologische Auslegung." Dies zu untersuchen ist
hier leider nicht mehr möglich.

Anschrift der Autorin: Assessorin Hege Stück, Leuschnerweg 8, D-24145 Kiel

99 Vgl. hierzu nur H.-J. Koch/H. Rüßmann (Fn. 10), S. 221ff., 228ff.; M. R. Deckert, Folgenorientie
München 1995, S. 45ff., sowie W. Fikentscher, Methoden des
rung in der Rechtsanwendung,
Rechts in vergleichender Darstellung, Band 3, Tübingen 1976, S. 67611., der die teleologische
Auslegung als Sammelbegriff für verschiedene Zweckargumentationen bezeichnet; vgl. nunmehr
auch H.-J. Koch (Fn. 4), S. 24, der sich von der „Analyse der objektiv- und (...) auch subjektiv
teleologischen Gesetzesauslegung in der Terminologie von Prinzipien und Abwägung (...) ein bes
seres Verständnis und Fortschritte in der Auslegungslehre" verspricht.

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