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VKhUTEMAS Exhibition in Berlin
VKhUTEMAS Exhibition in Berlin
Zur Berliner Ausstellung „Ein russisches Labor der Moderne. Architekturentwürfe 1920-
1930“
.
Im Berliner Martin-Gropius-Bau ist zurzeit eine bemerkenswerte Ausstellung über die legendäre
Kunst- und Architekturschule WChUTEMAS der frühen Sowjetunion zu sehen. Gezeigt werden
erstmals 250 Arbeiten — Zeichnungen, Skizzen, Gemälde, Fotos und Modelle hauptsächlich aus
dem Bereich Architektur — von Studierenden und Lehrern dieser Moskauer Werkstätten, die von
1920 bis 1930 bestanden.
Die Ausstellung wurde vom Staatlichen Schtschussew Museum für Architektur Moskau erarbeitet,
das sich auf langwierige Nachforschungen in verschiedenen Archiven und bei Absolventen und
Familien ehemaliger Lehrer stützte und einige der lange verschollenen Entwürfe,
Konstruktionspläne und Modelle aufspüren konnte. Sie gibt einen faszinierenden Einblick in eine
Kunstschule, die die moderne Architektur stärker revolutioniert hat als bisher bekannt.
Die gezeigten Arbeiten der WChUTEMAS-Schüler reichen von Entwürfen für Wohngebäude,
Theater, Kioske, Schwimmbäder, Sportstadien, Arbeiterclubs oder ganze Städte zu
Studienarbeiten über theoretische Fragen wie „Masse und Gewicht“, „Farbe und räumliche
Komposition“ oder „geometrische Eigenschaften einer Form“. Die Skizzen zu komplexen
Dachlandschaften, fantasievollen, in die Natur eingebetteten Erholungsstätten, schwerelos
wirkenden Bauwerken voller Kurven und Schwünge, ästhetischen Formen und Fassaden für
Industriebauten zeichnen soviel Radikalität, Experimentierfreudigkeit und Ideenvielfalt aus, dass
dahinter manche Bauhaus-Kreationen verblassen.
Zugleich ist bei allen Entwürfen, selbst bei solch kühnen und wenig realistischen wie den
fliegenden Hochhäusern an Ballons, eine große Ernsthaftigkeit zu spüren, die von den Aufgaben
im Aufbau des Arbeiterstaats nach der Oktoberrevolution ausgeht.
Am 19. Dezember 1920 hatte Lenin das Dekret der Sowjetregierung zur Gründung der „Höheren
Künstlerisch-Technischen Werkstätten“ verkündet, die unter der russischen Abkürzung
WChUTEMAS bekannt wurden. Ziel war es, unter Einbeziehung der bildenden Künste technisch,
politisch und wissenschaftlich gebildete Architekten und Designer aller Fachrichtungen
auszubilden. In den zehn Jahren ihres Bestehens waren sie ein Labor moderner Architektur und
Kunst, in dem die unterschiedlichsten künstlerischen Ideen und Methoden, wie Klassizismus,
Konstruktivismus, psychoanalytische Ansätze oder auch Futurismus, aufeinandertrafen.
In den Medien werden die WChUTEMAS immer wieder als „russisches Bauhaus“ bezeichnet.
Viele Wissenschaftler im Westen haben bisher das Bauhaus in Weimar und Dessau als Vorbild
für die russische Architektur-Avantgarde gesehen. Das stellt die Ausstellung jedoch stark in
Zweifel. Auch wenn die WChUTEMAS enge Beziehungen zum Bauhaus hatten und dieses
ähnliche Konzepte und Ideen vertrat, ist das Verhältnis eher umgekehrt. Die Arbeiten der
Studenten und Lehrer, so Barbara Kreis in einem Katalogbeitrag, suchen „bis heute ihresgleichen
und dienten späteren Architekten nicht selten als Kopiervorlagen und Inspiration“.
Schon der Umfang der Ausbildung und die Zahl der Studenten und Lehrer machen deutlich, dass
die Moskauer Werkstätten eine einzigartige Stellung in der Entwicklung der modernen Architektur
einnehmen. Allein im ersten Jahr schrieben sich 2000 Studenten ein, während das Bauhaus nur
etwa 150 Studenten gleichzeitig unterrichtete.
Viele berühmte russische Künstler und Architekten der Avantgarde gehörten zumindest zeitweilig
zu den Lehrern, darunterAlexander Rodtschenko, Warwara Stepanowa, Wladimir Tatlin, Wladimir
Krinski, Alexander Wesnin und seine Brüder Wiktor und Leonid, Ljubow Popowa, Naum Gabo, El
Lissitzky, Nikolai Ladowski, Konstantin Melnikow, Moisej Ginsburg, Alexei Schtschussew, Wassilij
Kandinsky, Alexandra Exter, Gustav Klucis.
Auch international hatten die WChUTEMAS eine große Ausstrahlung, die bis nach New York
reichte, wo es Ausstellungen ihrer Arbeiten gab. Der Gründungsdirektor des Museum of Modern
Art, Alfred H. Barr, reiste eigens für einen Besuch der WChUTEMAS im Jahr 1928 nach Moskau.
Auf der Pariser Internationalen Kunstgewerbeausstellung, der „Exposition internationale des arts
décoratifs et industriels modernes“ von 1925, erhielten der von Melnikow entworfene sowjetische
Pavillon und Rodtschenkos Arbeiterklub große Anerkennung. Auch Arbeiten ihrer Schüler wurden
ausgestellt.
Die jetzt in Berlin gezeigten Entwürfe und Skizzen sind ein beredtes Zeugnis, welch ungeheure
Aufbruchsstimmung die Oktoberrevolution in der Architektur und den anderen Kunstrichtungen
hervorgerufen hatte. Ein in der Ausstellung gezeigter Dokumentarfilm des WDR von 1984 lässt
Zeitzeugen sprechen, die voller Begeisterung von ihren Studienjahren in den WChUTEMAS
berichten. Er habe damals „die Treppe hoch immer zwei Stufen auf einmal genommen“,
beschreibt einer der damaligen Studenten die Atmosphäre, „und die Treppe abwärts immer einen
ganzen Absatz“.
Man könne sich im heutigen „pragmatisch orientierten“ Russland kaum mehr vorstellen, schreibt
auch die Kuratorin Irina Tschepkunowa in der Einführung zum Katalog, welchen Enthusiasmus es
nach der Revolution gegeben habe. „Hunger und Zerrüttung während des Kriegskommunismus,
der in den Randgebieten des Landes andauernde Bürgerkrieg, das ärmliche Alltagsleben riefen
bei den jungen Leuten — so merkwürdig das heute scheinen mag — nicht Mutlosigkeit hervor,
sondern einen ungekannten schöpferischen Elan und Arbeitswillen.“
Aufbau der WcHUTEMAS
Die Ausbildung in den WChUTEMAS war ausgerichtet auf die Mobilisierung aller Talente für den
Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Bereits unmittelbar nach der Revolution wurden die
Akademien und Kunstgewerbeschulen, die den privilegierten gesellschaftlichen Eliten vorbehalten
waren, abgeschafft und das künstlerische Ausbildungswesen durch die Einführung der Freien
Staatlichen Kunstwerkstätten reformiert. Alle, die Kunst studieren wollten, konnten sich an den
Kunsthochschulen einschreiben. Das galt zunächst auch für die WChUTEMAS, an denen aber
1921 für Arbeiter und Jugendliche ohne Vorbildung die Teilnahme an Vorbereitungskursen der
Arbeiterfakultät verbindlich wurde. Erst 1925 wurde auch eine Prüfung der künstlerischen
Begabung als Zulassungsvoraussetzung eingeführt.
Die WChUTEMAS gliederten sich in acht Fakultäten, darunter drei Kunstwerkstätten: Malerei
(Tafel-, Monumental- und Dekorationsmalerei), Bildhauerei und Architektur, sowie fünf
Produktionswerkstätten: Grafik, Textil, Keramik, Metall- und Holzbearbeitung. Lidja Komarowa,
eine Architektin und Absolventin der WcHUTEMAS von 1929 formuliert die übergreifende
Ausrichtung der Werkstätten so: „Das Ziel bestand darin, die Kunst mit der Produktion, die
Wissenschaft mit der Technik und dem neuen Inhalt des sozialistischen Lebens sowie mit den
Bedürfnissen des Volkes zu vereinen.“ (1)
In der Einführung des Programms der Werkstätten heißt es:
Die Aufgaben, die das moderne Leben stellt, zerstören entschieden die Prinzipien der von der
Gesellschaft abgeschlossenen Spezialisierung des Künstlers und erfordern gleichzeitig
Kenntnisse und professionelle Fertigkeiten, die sich bis zur heutigen Zeit in einzelnen
Spezialisierungen der Meister entwickelt haben… Im gegenwärtigen Augenblick brauchen wir
kein sich selbst genügendes ‘Bild’ oder ‘Projekt’… Deshalb ist es die Aufgabe der heutigen
Produktionswerkstatt, mittels Arbeit zur Erfüllung der wirklichen Aufträge im individuellen und
kollektiven Konsumbereich, die Spezialkenntnisse der Künstler zusammenzufassen.(2)
Mehr oder weniger dienten alle Werkstätten diesen Zielen. Über die Konzepte und Methoden der
Lehre, die hier nur unzureichend dargestellt werden können, gibt der Katalog und vor allem der
Beitrag von Barbara Kreis detailliert Auskunft. (3)
Der Unterricht in den Akademischen Werkstätten war der eher traditionellen Akademieausbildung
verpflichtet. Sie bemühten sich unter dem Stichwort der „lebendigen Klassik“ um die Übertragung
des traditionellen Erbes von Architekturformen, Formelementen und Methoden auf die
Bedingungen des sozialistischen Aufbaus. Der Volkskommissar für das Bildungswesen
Lunatscharski begründete dies damit, dass die Studenten auch in der Lage sein müssen, sich auf
eine richtig verstandene klassische Tradition zu stützen.
Ganz anders dagegen war der Ansatz der Vereinigten Linken Werkstätten (Obmas), die unter
Mitarbeit von Wladimir Krinski und Nikolaj Dokutschajew nach Nikolai Ladowskis
„psychoanalytischer Lehrmethode“ zu arbeiten begannen. Der Architekt Ladowski (1881-1941)
hatte von 1918 bis 1920 im Büro für Architektur und Kunst des Moskauer Sowjets der
Volksdeputierten gearbeitet und schon 1919 die Ziele der Baukunst als Körper und Raum
dargelegt. Sein WcHUTEMAS-Labor widmete sich der Erforschung der psychologischen
Wahrnehmung des Raums und der örtlichen Bedingungen.
Die Werkstatt der Experimentellen Architektur dagegen orientierte sich an den Theorien des
Aufbaus „architektonischer Organismen“ der Architekten Ilja Golossow und Konstantin Melnikow.
Sie zählte nur relativ wenige Studierende und wurde bereits Mitte der 1920er Jahre geschlossen.
Zu ihren Zielen gehörte, mittels der räumlichen Form und ihrer Ästhetik einen harmonischen
Zusammenhang aller Bereiche des Lebens zu schaffen.
Eine große Rolle bei den WChUTEMAS spielten, insbesondere ab Mitte der 20er Jahre,
die Konstruktivisten und dieProduktionskünstler. Sie propagierten ähnlich wie in Westeuropa
funktionelle Bauten mit Glas, Beton und Stahl und waren stark an den unmittelbaren Bedürfnissen
des Wohnungsbaus und der Errichtung von Industriebauten und öffentlicher Gebäude orientiert.
Doch auch sie entwickelten Projekte mit ästhetisch ansprechenden Formen. Die hässlichen
Plattenbauten und Wohnsilos, wie man sie in der DDR und in ganz Osteuropa kennt, gehörten
der späteren, stalinistischen Periode der Sowjetunion an.
Ein interessantes Beispiel, das in der Ausstellung zu sehen ist, ist der Wettbewerbsentwurf der
Brüder Wesnin für das Verlagshaus der Leningrader Prawda 1924, der in der Presse als „Kristall
in einer übersättigten Lösung“ gerühmt wurde. (4) Alexander Wesnin unterrichtete in der Fakultät
für Malerei und Freihandzeichnen in der akademischen Abteilung.
Kunstdebatten an den WChUTEMAS
Noch einen wichtigen Punkt zeigt die Ausstellung: Obwohl die bolschewistische Führung die
technische und künstlerische Ausbildung an den WChUTEMAS nicht als l’art pour l’art, als Kunst
um der Kunst Willen wünschte, ließ sie den unterschiedlichen künstlerischen Strömungen große
Freiräume, ihre Theorien zu vertreten und auszutesten.
Wie sehr sich Lenin selbst, der seinen, wie er selbst zugab, konservativen Kunstgeschmack
niemandem aufdrängen wollte, um eine freie, aber auch wissenschaftlich fundierte künstlerische
Ausbildung bemühte, wird auch daran deutlich, dass er ein privates Gespräch mit Studierenden
der WChUTEMAS suchte. So berichtet Alexander W. Stepanow:
Nach der Gründung der WChUTEMAS fand Lenin trotz der schweren politischen Lage im Lande
die Möglichkeit, sich mit Studenten der WChUTEMAS zu treffen. W.I. Lenin wollte die Studenten
nicht offiziell sprechen und darum nutzte er seine Bekanntschaft mit der Familie seiner
Kampfgefährtin Inessa Armand, einer sehr gebildeten Frau, die mehrere Fremdsprachen
beherrschte und die der Revolution bis zum Tode treu diente. Inessa Armand hatte zwei Töchter,
Inna und Warja, letztere war Studentin an den WcHUTEMAS. Spät am Abend des 21. Februar
1921 kamen Lenin und N. K. Krupskaja in das Studentenheim der WcHUTEMAS, das in der
ehemaligen Mjasnitskaja Straße lag. Dort haben sie über drei Stunden miteinander
gesprochen.(5)
Teilweise bekämpften sich die verschiedenen Schulen aufs Heftigste. Kandinsky, der eng mit der
deutschen Avantgarde verbunden war und schon 1922 einem Ruf ans Weimarer Bauhaus folgte,
vertrat einen geistig-intuitiven Weg in der Kunst und wurde von anderen als „metaphysisch“
bekämpft. Rodtschenko sah die Aufgabe des Künstlers darin, „der materialistischen konstruktiven
Arbeit einen kommunistischen Ausdruck zu verleihen“. Er wollte die Atelierarbeit in eine
praktische Tätigkeit verwandeln.
Auch Tatlin, der vom Futurismus kam, und Malewitsch lagen meist in heftigen Fehden
miteinander. Tatlin kritisierte die Konstruktivisten, sie würden die Technik mechanisch mit ihrer
Kunst verknüpfen, aber sich in Wahrheit mit dekorativer Stilisierung befassen. Ihm ging es um die
Kunst als Mittel zur Humanisierung der Technik. Einige der WChUTEMAS-Künstler wie
Malewitsch, Popowa, Stepanowa, Rodtschenko hatten Verbindungen zur Linken Front der
Künste, der LEF, oder zu Anhängern des Proletkults.
Trotz aller Auseinandersetzungen war den russischen Avantgarde-Künstlern in den
WChUTEMAS — im Unterschied zu den Avantgarde-Vertretern der kapitalistischen
Metropolen — eines gemeinsam: Sie wollten in der Ausbildung nicht Stile und Richtungen,
sondern vor allem Kenntnisse, Wege und Mittel vermitteln, die dem Aufbau der neuen
Gesellschaft förderlich waren. Anders als im Bauhaus deklarierten sie nicht die völlige Absage an
vergangene „bürgerliche“ Kunstformen, sondern ließen alle Stile zu, sofern sie dem Ziel einer
sozialistischen Gesellschaft und der Hebung der Kultur der Arbeiterklasse dienten.
Das Rote Stadion
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Neben dem engen und von Kollegialität geprägten Verhältnis zwischen Lehrenden und
Lernenden zeichnete die Ausbildung an den WcHUTEMAS die Tatsache aus, dass oft konkrete
Aufgaben gestellt wurden, die tatsächlich in Moskau realisiert werden sollten. Dabei konnten die
Studenten unmittelbar praktische Erfahrungen sammeln. Beispiele dafür sind die Diplomarbeit zur
Gartenstadt Ostankino von Georgi Golz oder vor allem das Internationale Rote Stadion an den
Moskauer Sperlingsbergen, dessen spannende Projektierungs- und Baugeschichte einen großen
Raum in der Ausstellung einnimmt.
Den Wettbewerb für das Rote Stadion gewann Ladowski, sein Mitarbeiter war Krinski. Auch die
Diplomarbeiten von Michail Korschew und Sergej Glagolew widmeten sich dem Thema. In die
Arbeiten, sowohl bei den Entwürfen als auch bei den Vorbereitungen der Bauarbeiten und den
Untersuchungen im Gelände, waren zahlreiche Studierende eingebunden. Ein Foto der
Ausstellung zeigt Lehrer und Schüler mit Schaufeln, die gerade eine Arbeitspause einlegen.
Das Stadion sollte nicht nur ein Zentrum für internationale Wettkämpfe der
Arbeitersportbewegung werden — mit zwei Sportarenen und Tribünen für 60.000 Zuschauer,
einem Schwimmbad, Duschen, Umkleideräumen, Yachtklubs, Kanu-, Ruderboot- und
Radrennstrecken sowie etlichen Wintersporteinrichtungen —, sondern auch ein Zentrum für
vielfältige Unterhaltung, Vergnügungen und Veranstaltungen mit Theatern, Kinos, Karussells,
Schaukeln usw.
Eine Vielzahl von Gründen spielte eine Rolle, warum dieses ehrgeizige Projekt nicht verwirklicht
werden konnte. An erster Stelle stand wohl die unsichere Finanzierung. Aber im Laufe der
Vorarbeiten stellte sich auch der schwierige Baugrund als mit den damaligen technischen
Möglichkeiten nicht zu überwindendes Hindernis heraus.
Andere Entwürfe wie die Diplomarbeiten zur „Stadt der Zukunft“, die in der Ausstellung zu sehen
sind, orientierten sich weniger an der unmittelbaren Machbarkeit, sondern an den Möglichkeiten
einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaft, wie das Kommunehaus der Fliegenden Stadt von
Georgi Krutikow.
Das Ende von WChUTEMAS
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Die meisten Entwürfe blieben allerdings auf dem Papier. Der Grund ist hauptsächlich in der bald
beginnenden Degeneration der Sowjetunion und dem Aufstieg der bürokratischen Kaste unter
Stalins Führung zu suchen. Nach dem Ausbleiben der Revolution in den fortgeschrittenen
Industrieländern wie Deutschland oder England setzte diese auf die nationalistische Politik des
„Sozialismus in einem Land“ und begann alle Bemühungen um revolutionäre Neuerungen zu
ersticken. In der Architektur wie in den anderen Kunstgattungen wurde der „sozialistische
Realismus“ zur allein geltenden Doktrin erhoben. Zukunftsentwürfe fielen unter das Verdikt des
„Formalismus“. Fortan herrschten rückwärtsgerichtete Stile vor, wie sie dem Geschmack der
Parteibürokratie und Stalins entsprachen.
Wie Trotzki in Verratene Revolution schrieb:
Als die Diktatur [des Proletariats] sich noch auf eine begeisterte Massenbasis stützen konnte und
noch die Perspektive der Weltrevolution vor Augen hatte, fürchtete sie weder die Experimente
noch das Suchen, denn sie begriff, dass nur auf diesem Weg die neue Kulturepoche vorbereitet
werden kann. … Die heutige herrschende Schicht fühlt sich dazu berufen, das geistige Schaffen
nicht nur zu kontrollieren, sondern ihm auch seine Entwicklungsrichtung vorzuschreiben. … (6)
1927 wurde die Hochschule in „Höheres Künstlerisch-Technisches Institut“ (WcHUTEIN)
umbenannt. Anlässlich des ersten Fünfjahresplans von 1928 ordnete Stalins Regierung die
Architekturausbildung dem Volkskommissariat für Wirtschaft statt wie bisher für Bildung unter. In
der Werkstatt für Experimentelle Architektur wurden bereits ab 1926 Konzepte des
Wohnungsbaus nach dem Vorbild des Fordismus und Taylorismus im kapitalistischen Westen
erarbeitet. Die innovativen Entwürfe aus den Jahren zuvor, die die Bekämpfung der Wohnungsnot
mit Vorstellungen von humaneren Lebensverhältnissen für Arbeiterfamilien verknüpften, wurden
verworfen.
Die von den Stalinisten gegründete Allunionsvereinigung proletarischer Architekten (WOPRA)
warf den Konstruktivisten und Rationalisten „Eklektizismus“ vor und behauptete, sie würden sich
nicht für die Interessen des Proletariats einsetzen.
1930 ließ Stalin schließlich die WChUTEIN schließen und einige Abteilungen wie Malerei und
Bildhauerei in andere Einrichtungen eingliedern. Die Architekturabteilung ging in das neue Höhere
Architektur- und Bauinstitut ein (ab 1933 Moskauer Architekturinstitut).
Nowizki, der letzte Leiter des WcHUTEIN, erklärte: „Wir verausgaben das Kapital, das seit der
Revolution angehäuft wurde, durch die Zerstörung der Kunstschulen.“ (7) Nach der Schließung
verschwand auch das Archiv von WChUTEMAS für Jahrzehnte, viele Lehrer fielen in Ungnade
oder den Säuberungen zum Opfer, und die revolutionäre Kunstwerkstätte geriet in Vergessenheit.
In den Texten zur Ausstellung und im Katalog werden die historischen Gründe für die Schließung
nur sehr vage gestreift. Nichts wird über das Schicksal der Lehrenden und Studenten unter der
Stalin-Herrschaft mitgeteilt. Einige passten sich offenbar den neuen Vorgaben an und versuchten,
ihre Fähigkeiten im Rahmen der großen Bauprojekte der 1930er Jahre anzuwenden. Nikolai Kolli
gehörte zusammen mit Alexander Wesnin zu den Architekten des großen DneproGES
Staudamms. Auch Krinski arbeitete an Staudammprojekten mit.
Gustav Kluzis, der noch 1937 am Design des sowjetischen Pavillons der Pariser Weltausstellung
mitgewirkt hatte, wurde im Zuge der Säuberungen verhaftet und 1938 erschossen. Melnikow
wurde in den 30er Jahren als „Formalist“ angegriffen, aus der Lehre ausgeschlossen und erhielt
keine Aufträge mehr. Auch Iwan Leonidow wurde in der Prawda bösartigen Angriffen ausgesetzt.
Ginsburg trat zunächst noch für die Avantgarde auf, beugte sich schließlich aber ebenso wie Ilja
Golossow den stalinistischen Diktaten.
Von dem traurigen Schicksal der Bauten, die im Geist des WcHUTEMAS zum Teil auch nach
dessen Schließung von Lehrenden und Schülern verwirklicht wurden, zeugen die Fotos von
Richard Pare, die in der Ausstellung Baumeister der Revolution 2012 im Gropius-Bau gezeigt
wurden und im gleichnamigen Katalog aus dem Mehring Verlag dokumentiert sind.
Auch wenn die Ausstellung zu WcHUTEMAS nur wenig über die historischen Hintergründe
erklärt, hat sie eine große Bedeutung. In einer Zeit der martialischen anti-russischen Politik und
Propaganda ist es den Ausstellungsmachern in Moskau und im Gropius-Bau hoch anzurechnen,
dass sie eine objektive Würdigung der kulturellen Errungenschaften der ersten Jahre der
Sowjetunion vermitteln.
Die ausgestellten Arbeiten sprechen für sich: Sie widerlegen die Lügen, dass die
Oktoberrevolution der erste Schritt des Stalinismus gewesen sei, und zeigen im Gegenteil, wie
noch heute, trotz Auflösung der Sowjetunion, dieser erste Versuch der Schaffung einer
humaneren Gesellschaft als der Kapitalismus seine Faszination behält.
Die Ausstellung ist noch bis zum 6. April 2015 zu sehen. Der Katalog kostet 20 €.
Anmerkungen