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Kijko Ju.Je., Kudrjawzewa O.D.

Grundlagen
der theoretischen Grammatik
der deutschen Sprache
Teil I

Tscherniwzi
2009
2

ББК: 8І.432.4-923.2
К 388

Друкується за ухвалою редакційно-видавничої ради


Чернівецького національного університету ім. Юрія Федьковича

К 388 Кійко Ю.Є., Кудрявцева О.Д.


Grundlagen der theoretischen Grammatik der deutschen
Sprache: Teil 1. / Основи теоретичної граматики німецької
мови: Частина 1. – Чернівці: Рута, 2009. – 80 с.

Методичний посібник складено у відповідності до навчальної


програми курсу "Основи теоретичної граматики німецької мови”
для мовних вузів. Розглядаються базові питання теоретичної
граматики, історія та предмет граматики, граматичні категорії
дієслова, його морфологічні, семантичні, синтаксичні класифікації.
Після кожної навчальної одиниці наводяться завдання для перевірки
засвоєного матеріалу і література для можливості подальшого
самостійного вивчення.
Для студентів-філологів і викладачів вищих учбових закладів.
ББК: 8І.432.4-923.2
УДК: 811.112.2’36 (075.8)

Навчальне видання

Grundlagen der theoretischen Grammatik der deutschen Sprache: Teil 1.


Основи теоретичної граматики німецької мови. Частина 1.

Укладачі: Кійко Юрій Євгенович, Кудрявцева Олена Діонізіївна


Редактор Левицький В.В.

Підписано до друку 15.03.2009. Формат 60х84/16.


Папір газетний. Друк офсетний. Ум. друк. арк. . Ум. фарб.-відб
Обл.-вид. арк. . Зам. . Тираж 50. Безплатно
Друкарня видавництва "Рута" Чернівецького університету
58012, Чернівці, вул. Коцюбинського, 2

©Кійко Ю.Є., Кудрявцева О.Д.


© Рута 2009
3
Світлій пам’яті
кандидата філологічних наук, доцента
Василя Юрійовича Іванюка
присвячується
цей навчальний посібник

ПЕРЕДМОВА

Навчальний посібник укладено згідно з типовою навчальною


програмою з курсу теоретичної граматики німецької мови для вищих
учбових закладів. Посібник призначений для студентів старших
курсів спеціальності “Німецька мова і література”.
Мета посібника – ознайомити студентів з граматичною будо-
вою німецької мови, спонукати студентів до роботи з науковою літе-
ратурою з теоретичної граматики, а також сприяти розвитку навичок
по застосуванню набутих теоретичних занять на мовному матеріалі.
Навчальний посібник складається з двох частин, які містять
теоретичний матеріал про морфологію і синтаксис сучасної німецької
мови. Кожна навчальна одиниця є окремим лекційно-практичним
заняттям з планом і літературою для можливості подальшого
поглибленого вивчення. Після кожної навчальної одиниці наводяться
питання і завдання для самоконтролю.
У першій навчальній одиниці розглядаються базові поняття
теоретичної граматики: термін «граматика», зв’язок граматики з
іншими дисциплінами, поділ і цілі граматики. Друга навчальна
одиниця є коротким нарисом з історії розвитку німецької граматики.
Третя навчальна одиниця присвячена проблемі виділення частин
мови в сучасній німецькій мові. З четвертої по чотирнадцяту навчаль-
ну одиницю розглядаються окремі частини мови. У п’ятнадцятій
навчальній одиниці в центрі уваги знаходяться питання синтаксису
сучасної німецької мови. Остання навчальна одиниця присвячена
проблемі класифікації речень.
У посібнику наведені плани семінарських занять, список тем
для рефератів, контрольні семестрові питання і список літератури з
граматики німецької мови.
О.Д. Кудрявцева уклала 4, 5, 6, 7, 9, 12, 13 і 14 навчальні
одиниці, Ю.Є.Кійко – 1, 2, 3, 8, 10, 11, 15 і 16 навчальні одиниці.
Автори будуть вдячні за поради, критичні зауваження та
побажання на адресу посібника.
4
Lerneinheit 1. Grundbegriffe der Grammatik

1. Zum Begriff Grammatik


2. Grammatik und andere linguistische Disziplinen
3. Gliederung der Grammatik
4. Ziele der Grammatik
5. Aufgaben
6. Literatur

1. Zum Begriff Grammatik


Der Terminus Grammatik (griech. grámma `Buchstabe`, lat. ars
grammatica `Sprachlehre`) stammt aus dem Altgriechischen und
bedeutete dort als grammatiké téchne ursprünglich die Lehre von
Buchstaben. Im Mittelalter umfasste die Grammatik die gesamte
Sprach- und Stillehre des Lateinischen.
Im Lexikon der Sprachwissenschaft (2002: 259) wird der
Terminus Grammatik für unterschiedliche Gegenstandsbereiche
verwendet:

1. Grammatik als Wissen bzw. als Lehre von morphologischen und


syntaktischen Regularitäten einer natürlichen Sprache. In diesem
Sinne bezieht sich Grammatik auf den formalen Aspekt der Sprache,
sodass Phonetik und die Bedeutungsseite der Sprache als spezielle
Teilbereiche der Sprachwissenschaft ausgeklammert bleiben.
2. Grammatik als strukturelles Regelsystem, das allen sprachlichen
Produktions- und Verstehensprozessen zugrunde liegt.
3. Grammatik als Sprachtheorie. (generative Grammatik u.a.)
4. Grammatik als systematische Beschreibung der formalen
Regularitäten einer natürlichen Sprache in Form eines
Nachschlagewerkes oder Lehrbuches.
5
W.Admoni (1986: 7) gibt solch eine Definition der Grammatik:
„Andererseits steht jeder Sprache eine beträchtliche Anzahl
verschiedenartiger Formen zur Verfügung, die sich an diese unmittelbar
benennenden Lautkomplexe anlehnen, sie modifizieren und in
Verbindung bringen. Der Bestand solcher Formen und die Art ihres
Zusammenwirkens mit den unmittelbar benennenden Lautkomplexen
haben in jeder Sprache ihre Besonderheiten. Die Gesamtheit dieser
Formen (einer Sprache) bildet eben das, was man gewöhnlich als die
`Grammatik` oder den `grammatischen Bau` der Sprache bezeichnet“.
W. Jung (1980: 16) versteht unter der Grammatik die in der
Sprache selbst vorhandenen Arten und Mittel, die einen Wörter den
anderen Wörtern in gleicher Weise gegenüberzustellen, verschiedene
Wörter in gleicher Weise abzuwandeln und verschiedene Sätze in
gleicher Weise aufzubauen.
Bei W. Flämig (1991: 30) ist folgende Bestimmung der
Grammatik zu finden: „Eine wissenschaftliche Beschreibung des
Systems einer Sprache, ein theoretisches Abbild dessen, nennen wir
eine Grammatik dieser Sprache“.

2. Grammatik und andere linguistische Disziplinen


Die Grammatik ist eng mit anderen sprachwissenschaftlichen
Disziplinen verbunden. Vor allem überschneiden sich die Interessen der
Grammatik als Wort- und Satzlehre mit:

 der Lexikologie, die sich mit den lexikalischen Morphemen und


den Wörtern beschäftigt;
 der Phonetik, die Laute in akustisch-physiologischer Hinsicht
erforscht;
 der Phonologie, die sich mit Stellung der Laute als kleinster
bedeutungsunterscheidender Elemente im Sprachsystem befasst;
 der Wortbildung, die sich mit Bildung von Formen eines Wortes
und neuer Wörter beschäftigt;
 der Semantik, die sich mit der Bedeutung der Wörter befasst;
 der Textlinguistik, die sich mit Texten beschäftigt.

3. Gliederung der Grammatik


Die Grammatik wird traditionell in die Morphologie und die
Syntax untergliedert. Manchmal zählt man dazu noch Phonologie,
6
Satzsemantik/Pragmatik, Text-/Diskursgrammatik. In der Duden-
Grammatik (2005) beschreibt man sowohl die geschriebene, als auch die
gesprochenene Standartssprache der Gegenwart. Sie umfasst alle
grammatischen Bereiche von Laut bis hin zum Satz und Text.
Der Begriff Morphologie (Formenlehre) geht in seiner sprach-
wissenschaftlichen Bedeutung auf das 19. Jahrhundert zurück. Er
bezeichnet denjenigen Zweig der Grammatik, der sich mit dem Aufbau
von Formen von Wörtern befasst. Dabei geht es häufig um den
kombinatorischen Aufbau aus kleineren „Wortbausteinen“ (Eisenberg
2004: 209). Man unterscheidet zwischen Flexionsmorphologie und
Wortbildungsmorphologie.
Die Flexionsmorphologie befasst sich mit den Formen der
Wörter bzw. den Wortformen. So gehören Kind, Kindes, Kinder als
Wortformen zu dem Wort(paradigma) Kind. Die Flexionsmorphologie
untersucht, wie die Wortformen eines Wortes im so genannten
Flexionsparadigma organisiert sind, welche Kategorien mit welcher
Funktion hier wie oder mit welchen Mitteln ausgedrückt werden.
Die Wortbildungsmorphologie befasst sich demgegenüber mit
dem Aufbau von Wörtern auf der Basis anderer Wörter. So ist
Weltpolitik ein Wortbildungsprodukt (Kompositum) auf der Basis von
Welt und Politik oder politisch ein Wortbildungsprodukt (Derivat) auf
der Basis von Politik.
Durch die Flexionsmorphologie werden einerseits semantische
Informationen, andererseits syntaktische Informationen ausgedrückt.
Sprachübergreifend ist ein beschränktes Inventar von Klassen bzw.
Typen für solche semantisch-syntaktischen Informationen auszu-
machen. Peter Eisenberg (2004) nennt sie Kategorisierungen (Numerus,
Komparation, Genus, Tempus, Modus).
Als Gegenstand der Morphologie werden folgende Bereiche
betrachtet:
1) die Lehre von den Wortarten, ihrer Gliederung und ihren
grammatischen Eigenschaften;
2) die Paradigmatik der Wortarten (die Lehre vom Formensystem
flektierender Wortarten);
3) die Lehre von den grammatischen Kategorien flektierender
Wortarten (Sommerfeldt/Starke 1998: 39).
Die Syntax (die Satzlehre) befasst sich mit dem Aufbau der
menschlichen Rede, welche vorwiegend durch den Satz zur Geltung
kommt. Eine der wichtigsten und bis heute endgültig nicht gelösten
7
Fragen der Syntax ist die Definition des Satzes. Es gibt viele
Definitionen, doch keine ist als ausreichend anzusehen. Dies zeugt vor
allem von der Kompliziertheit des Satzes als einer Einheit der Rede. Im
Satz kommen grammatische, logische und emotionale Momente zum
Ausdruck. Hier seien nicht die Definitionen, sondern die wichtigsten
Merkmale des Salzes angeführt.
Die Wörter, aus denen ein Satz besteht, haben eine bestimmte,
von grammatischen und logischen Regeln vorgeschriebene Reihenfolge,
doch im Satz ist das zeitliche Nacheinander der Satzglieder für den
Sprecher und Hörer nicht von Bedeutung.
Das nächste Merkmal eines Satzes ist die Abgeschlossenheit
seines Sinns: der Satz ist eine Sinneinheit. Einzelne Satzglieder oder
Wortgruppen (Syntagmen) nennen Einzelheiten, aber sie geben keine
Sinnzusammenhänge. Der Satz stellt also eine strukturelle Einheit dar.
Die strukturelle Einheit beruht auf bestimmten Gesetzen des Satzbaus
(Stellung der Satzglieder, Kongruenz u.a.).
Als drittes Merkmal des Salzes gilt seine phonetische (melo-
dische) Gestalt, die zeigt, dass der Satz abgeschlossen ist, dass der
Sprecher etwas berichtet, fragt oder zu etwas auffordert.
Beinahe alle Sätze enthalten ein Subjekt und ein Prädikat. Für das
Zustandekommen eines Satzes ist die Subjekt-Prädikat-Beziehung
entscheidend. Deshalb heißen das Subjekt und das Prädikat die
Hauptglieder des Satzes. Die Hauptglieder sind aufeinander abge-
stimmt, d.h. zwischen ihnen besteht die Wechselbeziehung, während
die Nebenglieder des Satzes von den Hauptgliedern oder von anderen
Nebengliedern abhängen. Die Nebenglieder des Satzes sind Objekt,
Attribut, prädikatives Attribut und Adverbialbestimmung.
Die Syntax befasst sich mit der Erklärung und Beschreibung der
Satzarten, der Beschreibung der Wortstellungsregularitäten und der
sprachspezifischen syntaktischen Kategorien. Sie versucht folgende
Fragen zu beantworten:
– Woraus bestehen die Sätze einer Sprache?
– Welche Typen von Sätzen gibt es?
– Wie sind die Satzglieder formal gekennzeichnet, was ist ihre
Funktion im Satz?
– Welche Arten von Beziehungen bestehen zwischen diesen
Satzgliedern?
– Kann man den Begriff Satz definieren, wenn ja, wie?
8
4. Ziel der Grammatik
W. Flämig (1991: 38) nennt folgende Aufgaben der Grammatik:
1. Strukturzusammenhänge, d.h. Beziehungen zwischen sprach-
lichen Einheiten Sätze vs. Wörter, Wörter vs. Morphem u. a. feststellen.
2. Strukturelemente, d.h. kleinste Einheiten beschreiben.
3. Klassen sprachlicher Einheiten aufgrund gemeinsamer Eigen-
schaften zusammenfassen.
4. Klassen grammatischer Kategorien feststellen.
5. Laut-Bedeutung-Zuordnung beschreiben.
6. Grundstrukturen und abgewandelte Strukturen beschreiben.
In der Grammatik der deutschen Sprache von Gisela Zifonun u.a
(1997) sind folgende Erwartungen an modernen Grammatiken zu
finden:
1. Grammatiken sollen eine Einzelsprache deskriptiv vollständig in
ihrer mündlichen und schriftlichen Ausprägung erfassen.
2. Grammatiken sollen theoretisch fungiert und homogen sein, sie
sollen größtmögliche wissenschaftliche Aktualität bieten, auch in der
Untersuchung der einzelnen Phänomene.
3. Grammatiken sollen die Teilbereiche des sprachlichen Systems
wohlproportioniert behandeln und keine theoretisch nicht legitimier-
baren Gewichtungen haben.
4. Grammatiken sollen universellen Fragestellungen zugänglich
sein, d.h. die Besonderheiten der Sprache hervortreten lassen und ein
Begriffsnetz verwenden, das auch für andere Sprachen verwendet wird
oder verwendbar ist.
5. Grammatiken sollen nicht normativ sein, sondern die
Sprachwirklichkeit zum Gegenstand machen.
6. Grammatiken sollen Handbücher zur Problemlösung sein, d.h.
eher Resultate als Lösungswege, Theorien- oder Alternativendiskus-
sionen präsentieren.

5. Aufgaben
1. Was versteht man unter dem Begriff Grammatik im engeren
und weiteren Sinne?
2. Welche Hauptziele verfolgt die Grammatik? Vergleichen Sie
die Ziele der Grammatik bei W.Flämig mit den oben angeführten
Erwartungen von der Grammatik bei G.Zifonun u.a.
3. In welchem Sinn wird das Wort Grammatik in folgenden
9
Sätzen gebraucht?
1) Ich habe im Sommer einiges von der Grammatik des
Deutschen mitbekommen.
2) Die Studenten haben sich die Grammatik von Eisenberg
gekauft.
3) Die Generative Grammatik geht auf Chomsky zurück.
4. Kommentieren Sie folgende Äußerung:
Lexikalische Bedeutungen gehören in den Bereich der Lexikologie,
die grammatischen werden meist im Bereich der Morphologie und
Syntax abgehandelt.
5. Womit befasst sich die Morphologie?
6. Womit befasst sich die Syntax?
7. Worin besteht die Hauptschwierigkeit der Definition des
Wortes?
8. Worin besteht die Hauptschwierigkeit der Definition des
Satzes?
9. Mit welchen linguistischen Disziplinen ist die Grammatik eng
verbunden?
10. Überlegen Sie, ob man ohne Grammatik eine Sprache
beherrschen kann?

6. Literatur
1. Admoni W. Der deutsche Sprachbau. – Moskau, 1986.
2. Deutsche Sprache. Kleine Enzyklopädie. // Hrsg. W.Fleischer, G.Helbig,
G.Lerchner. – Frankfurt am Main: Peter Lang, 2001. – S.218-309.
3. Die Grammatik. Duden. Bd. 4. 7. Aufl. – Mannheim: Brockhaus, 2005.
4. Engel U. Deutsche Grammatik. – München: Iudicum, 2004.
5. Flämig W. Grammatik des Deutschen. – Berlin: Akademie Verlag, 1991.
6. Grammatik der deutschen Sprache in 3 Bänden. Hrsg. von G.Zifonun,
L.Hoffmann, B.Strecker. – Berlin, New York: de Gruyter. 1997.
7. Hentschel E., Weydt H. Handbuch der deutschen Grammatik. 3. Aufl. – Berlin,
New York: de Gruyter, 2003.
8. Jung W. Grammatik der deutschen Sprache. – Leipzig: VEB Bibliographi-
sches Institut, 1980.
9. Lexikon der Sprachwissenschaft. // Hrsg. von H.Bußmann. – Stuttgart:
Kröner Verlag, 2002.
10. Linke A., Nussbaumer M., Portmann P.R. Studienbuch Linguistik. 5.
Auflage. – Tübingen: Niemeyer, 2004. – S.49-148.
11. Metzler Lexikon Sprache. Hrsg. von H.Glück. 3.Aufl. – Stuttgart, Weimar:
Metzler Verlag, 2005.
10
12. Sommerfeldt K.-E., Starke G. Einführung in die Grammatik der deutschen
Sprache. – Tübingen: Niemeyer, 1998.
11
Lerneinheit 2. Zur Entwicklung der Grammatik

1. Meilensteine in der Geschichte der deutschen Grammatik


2. Typen der Grammatiken
3. Aufgaben
4. Literatur

1. Meilensteine in der Geschichte der deutschen Grammatik


Mit deutschen Grammatiken, wie P.Eisenberg (2006: 1) treffend
bemerkte, kann man leicht ein stattliches Bücherregal füllen. Nur
wenige Sprachen sind so häufig, so ausführlich und auf so vielfältige
Weise beschrieben worden wie das Deutsche.
Eine detaillierte Übersicht über die Entwicklung der wissen-
schaftlichen Grammatik der deutschen Sprache ist dem Werk von
O.Moskalskaja (1983) zu entnehmen. Wir nennen nur Meilensteine in
der Geschichte der deutschen Grammatik.
Ende des 18. Jahrhunderts. Zu den bekanntesten Grammatiken
dieser Zeit gehört vor allem „Umständliches Lehrgebäude der deutschen
Sprache zur Erläuterung der deutschen Sprachlehre für Schulen“ von
Johann Christoph Adelung. Es erschien im Jahre 1782 und galt als die
vollständigste Schulgrammatik jener Zeit.
Anfang des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit entwickelt sich eine
historische Grammatik, die von der Sprachgeschichte kaum zu trennen
ist. Grundlegend für den Ausbau der wissenschaftlichen Grammatik der
deutschen Sprache war Jacob Grimms „Deutsche Grammatik“, I-IV
(1822 – 1837). Dieses Werk war eine systematische Darstellung der
Entwicklungsgeschichte aller germanischen Sprachen.
Im Jahre 1814 wird „Theoretisch-praktische Grammatik oder
Lehrbuch zum reinen und richtigen Schreiben“ von Johann Christian
Heyse“ veröffentlicht.
Ende des 19. Jahrhunderts. Der weitere Ausbau der
wissenschaftlichen deutschen Grammatik ist mit der junggrammati-
schen Schule (A.Leskin, W.Scherer, H.Paul, K.Verner, K.Brugmann,
B.Delbrück) verbunden. Als Hauptwerk dieser linguistischen Schule
gilt H. Pauls „Prinzipien der Sprachgeschichte". Die Junggrammatiker
konzentrieren sich auf die empirische Beschreibung greifbarer
Einzelerscheinungen der Sprache und verfolgen jede solche
Erscheinung in ihrem Werden und ihrer Entwicklung.
12
Im Jahre 1850 erscheinen Friedlich Bauers „Grundzüge der
neuhochdeutschen Grammatik für Bildungsanstalten und zur Selbst-
lehrung für Gebildete“.
Anfang des 20. Jahrhunderts. Seit 1916 setzt sich in Europa
und Amerika eine neue linguistische Richtung, der Strukturalismus,
durch. Im Bereich der Grammatik wird Syntax zum Hauptobjekt der
Forschung. In den Mittelpunkt des grammatischen Studiums rücken
die Gegenwartssprachen.
1935 veröffentlicht Otto Basler seine „Grammatik der
deutschen Sprache“, der die von Konrad Duden bearbeiteten
Neuauflagen der Bauer`schen Grammatik zugrunde liegen. Eine
Neubearbeitung von Baslers Grammatik wurde nach dem Zweiten
Weltkrieg vom Wissenschaftlichen Rat der Duden-Redaktion beim
Bibliographischen Institut in Mannheim vorgenommen und als
4. Auflage der Duden-Grammatik herausgegeben.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheinen im
deutschsprachigen Raum außer traditionellen Grammatiken wie Duden-
Grammatik auch neue Grammatiken wie strukturelle, inhaltbezogene,
funktionale, kommunikative, pragmatische, generative und andere.
Im Laufe der Entwicklung der Grammatik ändert sich ihr
Hauptziel. Wenn im späten 19. und noch dem frühen 20. Jahrhundert es
hauptsächlich die Beschreibung der Sprachgeschichte war,
konzentrieren neuere Grammatiken sich auf das Gegenwartsdeutsche
und überlassen die Sprachgeschichte speziellen Darstellungen. Als
Kerngebiete gelten die Morphologie und Syntax, danach die
Wortbildungslehre. Nur selten enthalten sie eine Lautlehre, wie es bei
Heidolph u.a. (1981) der Fall ist. Noch seltener ist eine Orthographie
ein Teil der Grammatik.
Am Ende des 20. Jahrhunderts tritt auch die Textgrammatik als
ein Bestandteil in der Grammatik vor. Wenn die heutzutage viel
verwendete Grammatik von Engel (1991) nur einen Abschnitt zur
Textgrammatik enthält, so macht Weinreich (1993) das Funktionieren
von Sätzen in Texten zur Grundlage der Beschreibung überhaupt.

2. Typen der Grammatiken


Für eine Typologie von Grammatiken sind verschiedene Aspekte
von Bedeutung wie zum Beispiel: 1) Gegenstandsbereich (Kompetenz-
grammatik und Korpusgrammatik), 2) theoretische Zielsetzung
(einzelsprachliche oder universale Grammatik), 3) methodischer Ansatz
13
(deskriptive, präskriptive, distributionelle, operationelle Grammatik), 4)
sprachtheoretische Basis (Allgemeine, Generative u.a. Grammatiken),
5) Zielgruppe (wissenschaftliche oder pädagogische).
Wir gehen nur kurz auf die Hauptmerkmale von modernen
Grammatiken ein.
Traditionelle Grammatik (manchmal auch Schulgrammatik
genannt) weist folgende Merkmale auf:
1) Fortsetzung der griechisch-lateinischen Formen- und Syntax-
lehre,
2) Darstellungen des Gesamtsystems einer Einzelsprache,
3) Konzentration auf die Schriftsprache,
4) Praxisorientierung,
5) Präskriptivität, d.h. sie schreibt bestimmte Normen vor.
Zu den Grammatiken dieser Richtung gehört in erster Linie die
Duden-Grammatik.

Die Valenz- bzw. Dependenzgrammatik wurde vom franzö-


sischen Strukturalisten Lucien Tesnière (1893-1954) begründet.
Der Grundgedanke dieses grammatiktheoretischen Ansatzes
basiert darauf, dass zwischen zwei syntaktisch verbundenen
Elementen eines das regierende und das andere das regierte
Element ist. Das finite Verb ist das strukturelle Zentrum des
Satzes. Demnach wird in der Darstellung des Satzes darauf
geachtet, dass die Abhängigkeit der Satzglieder oder
Konstituenten vom Verb sichtbar gemacht wird.
liest

Der Student ein Buch


Als Grammatiken dieser Richtung sind Helbig (1992), Erben
(1980), Weber (1992), Heringer (1996), Engel (1988), Eroms (2000) zu
nennen.

Für die funktionale Grammatik sind folgende Merkmale


charakteristisch:
1. Die Sprache wird als ein Instrument der sozialen Interaktion
zwischen den Menschen verstanden.
14
2. Die Funktionale Grammatik verbindet drei Ebenen der theore-
tischen Beschreibung sprachlicher Ausdrücke: semantische, syntak-
tische und pragmatische.
3. Die Funktionale Grammatik benutzt strukturelle Verfahren:
Weglass-, Ersatz-, Verschiebe- und Umstellprobe.
Funktionale Grammatik versucht also Grammatik im
traditionellen Sinn mit Semantik und Pragmatik zu vermitteln.

Konstituenten-/Phrasenstrukturgrammatiken repräsentieren die


linearen (Wortstellung) und hierarchischen (Konstituenten) Struktur-
aspekte von Sätzen mittels Baumdiagrammen. Ihre Zielstellung ist
komplexer als der Dependenzgrammatik. Für praktische Zwecke, etwa
die Anwendung in der Schule, ist sie aufgrund ihrer Komplexität
weniger geeignet.

Die Generative Grammatik gilt als ein Oberbegriff für solche


Grammatik-Modelle, mit deren Regelsystem sich alle grammatischen
Sätze einer Sprache generieren lassen (generieren = erzeugen). Häufig
wird der Begriff auch synonym zu generativer Transformations-
grammatik verwendet. Der auf Noam Chomsky zurückgehende Begriff
„generative Grammatik“ bezeichnet außerdem eine sprachwissenschaft-
liche Schule, in der solche formalen Grammatiken eine wichtige Rolle
spielen.
In der generativen Grammatik versuchten die Forscher mithilfe
bestimmter Regeln aus einer endlichen Zahl von Lexemen eine
unendliche Zahl an Sätzen zu generieren. Generative Grammatik kann
als erzeugend, dynamisch, mentalistisch, mathematisch explizit
charakterisiert werden. Sie befasst sich mit einer relativ kleinen Menge
einzelsprachspezifischer Phänomene.
Die Generative Grammatik hat bis heute keine umfassende
Darstellung des deutschen Sprachsystems hervorgebracht. In einem
lockeren Zusammenhang mit einer älteren Ausprägung dieser Theorie
ist die große so genannte "Akademie-Grammatik" von Heidolph/Frä-
mig/Motsch (1980) zu sehen; hier handelt es sich um den Prototyp
einer theoretisch orientierten Grammatik.

Die Kasusgrammatik ist ein semantisch orientierter Ableger der


früheren Generativen Grammatik, der von großem Einfluss auf die
Entwicklung der Grammatiktheorie der letzten Jahrzehnte war. Er lebt
15
in jüngeren Entwicklungsstadien der Generativen Grammatik als
Theorie der thematischen Rollen weiter. Bei der Kasusgrammatik
handelt es sich um den Versuch, syntaktische Strukturen aus seman-
tischen Strukturen, und zwar aus Konstellationen von universalen so
genannten Tiefenkasus oder Handlungsrollen wie Agens, Patiens,
Instrumental abzuleiten. Als Begründer der Kasustheorie gilt Ch.
Fillmore (1968). Aus der Kasusgrammatik hat S. C. Dik seine
„Funktionale Grammatik“ entwickelt (Dik 1978). Grundideen der
Kasusgrammatik lassen sich auch mit gewissen Weiterentwicklungen
der Valenz- oder Dependenzgrammatik verbinden (Helbig 1982).

Formale Grammatik, Kategorialgrammatik, Formale Semantik,


Montague-Grammatik gehen davon aus, dass die natürlich-menschli-
chen Sprachen formalen Sprachen so sehr ähneln, dass es möglich sein
muss, natürliche Sprachen mit den gleichen theoretischen Begriffen zu
beschreiben. Es handelt sich hier um Grammatiktheorien für ausgespro-
chene wissenschaftliche Spezialisten.

Weitere moderne deutsche Grammatiken


Eine wichtige neuere Grammatik, die man nicht ohne weiteres
einer bestimmten Schule zuordnen kann und die ihre Bestimmung vor
allem im Hochschulunterricht sieht und auch gefunden hat, ist
Eisenberg (2006).
Eine umfangreiche Grammatik stellt die Grammatik der
deutschen Sprache in drei Bänden, herausgegeben von G.Zifonun u.a.,
dar. Sie gilt als eine Varietätengrammatik, in der neue Sichtweisen und
Zugänge erprobt sind.
Ganz stark auf die Benutzer ausgerichtet, ist die Grammatik von
H.J.Heringer. Heringer (1988) nimmt in seiner “rezeptiven Grammatik”
ganz die Perspektive des Hörers oder Lesers ein. Er fragt nicht, wie die
Sprache gebaut ist, sondern wie es verstanden wird. Einen expliziten
Adressatenbezug hat die Grammatik von Helbig/Buscha mit dem Titel
“Ein Handbuch für den Ausländerunterricht”.

3. Aufgaben
1. Erläutern Sie den Unterschied zwischen deskriptiver und
präskriptiver, synchroner und diachroner Grammatik. Welche Arten der
Grammatiken kennen Sie noch?
16
2. Worin liegt der Unterschied zwischen traditioneller und formaler
Grammatik?
3. Charakterisieren Sie eine von Ihnen gewählte Grammatik.
4. Welche Grammatiken liegen der heutigen normativen Duden-
Grammatik zugrunde?
5. Nennen Sie die Meilensteine in der Geschichte der deutschen
Grammatik.
6. Wer gilt als Begründer der Valenzgrammatik?
7. Welche Merkmale sind für die funktionale Grammatik eigen?
8. Wer gilt als Begründer der generativen Grammatik?
9. Nennen und erklären Sie Grundbegriffe der Valenzgrammatik.
10. Überlegen Sie die Frage: „Welche Grammatik braucht der
Mensch?“

4. Literatur
1. Eisenberg P. Grundriss der deutschen Grammatik. 3. Aufl. – Stuttgart,
Weimar: Metzler, 2006.
2. Engel U. Deutsche Grammatik. – München: Iudicum, 2004.
3. Grundzüge einer deutschen Grammatik. // Hrsg. von Heidolph K.-E., W.Främig,
W.Motsch. – Berlin, 1981.
4. Helbig G. Geschichte der neueren Sprachwissenschaft. – Leipzig: VEB
Bibliographisches Institut, 1973.
5. Hentschel E., Weydt H. Handbuch der deutschen Grammatik. 3. Aufl. –
Berlin, New York: de Gruyter, 2003. – S. 444-477
6. Heringer H.J. Deutsche Syntax. Dependentiell. – Tübingen: Stauffenburg,
1996.
7. Junger O., Lohnstein H. Einführung in die Grammatiktheorie. – München:
Fink, 2006.
8. Linke A., Nussbaumer M., Portmann P.R. Studienbuch Linguistik. 5.
Auflage. – Tübingen: Niemeyer, 2004. – S. 43-72
9. Moskaljskaja O. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. – M., 1983.
– S. 10-40.
10. Naumann B. Grammatik der deutschen Sprache zwischen 1781 und 1856. –
Berlin: Schmidt, 1986.
11. Pfeffer J.A. Probleme der deskriptiven deutschen Grammatik. – Heidelberg:
Groos, 1982.
12. Rohr W.G. Einführung in die historische Grammatik des Deutschen. –
Hamburg: Buske, 1999.
13. Schmidt W. Grundfragen der deutschen Grammatik: Eine Einführung in die
funktionale Sprachlehre. 5. Aufl. – Berlin: Volk u. Wissen Volkseig. Verl.,
1977.
17
14.Welke K. Einführung in die Valenz- und Kasustheorie. – Leipzig:
Bibliographisches Institut, 1988.
18
Lerneinheit 3. Wortarten

1. Begriff und Kriterien der Ausgliederung


2. Die Streitfragen der Wortartentheorie
3. Wortartenklassifikationen
4. Aufgaben
5. Literatur

1. Begriff und Kriterien der Ausgliederung


Das Wort ist die wichtigste sprachliche Einheit, in ihm kommen
die lexikalische und die grammatische Bedeutung zur Geltung. Der
Mensch formuliert seine Gedanken mit Hilfe der Sätze, die aus
Wörtern betehen. Alle Wörter lassen sich nach der verallgemeinerten
lexikalischen Bedeutung und nach den grammatischen Merkmalen in
einzelne Gruppen einteilen, die Wortarten genannt werden. Die Wortart
erwies sich als ein einfaches und sicheres grammatisches Ordnungs-
prinzip. Die am häufigsten verwendeten Kriterien der Ausgliederung
der Wortarten sind die folgenden:
Semantische Kriterien. Von der lexikalischen Seite her muss
eine allgemeine gemeinsame Bedeutung die Wörter einer Wortart
verbinden. So zum Beispiel haben alle Verben die Bedeutung eines
Zustandes (stehen, liegen, schlafen), eines Prozesses (fallen, wachsen,
gehen) oder einer Tätigkeit (machen, werfen, geben). Alle Substantive
bezeichnen einen Gegenstand (Tisch, Baum, Haus), ein Lebewesen
(Mensch, Tiger, Ameise), einen abstrakten Begriff (Liebe, Frieden,
Gedanke). Den Adjektiven ist die allgemeine Bedeutung der Qualität,
die sie den Substantiven verleihen, eigen (schön, hässlich, empfindlich).
Alle Präpositionen zeigen die allgemeinen Beziehungen zwischen den
Substantiven: auf, vor, zwischen.
Morphologische Kriterien. Aus der morphologischen Hinsicht
müssen die Wörter einer Wortart die gleichen morphologischen
Eigenschaften besitzen. Die Wörter können auf verschiedene Weise
flektiert werden: man kann sie konjugieren, deklinieren und
komparieren. Bei den deklinierbaren Wörtern findet man solche mit
einem festen Genus und solche, die nicht genusfest sind. Daneben gibt
es Wörter, die gar nicht flektiert werden können. Nach diesen Kriterien
ist die Fünf-Wortarten-Lehre von Glinz (1971) gebaut.
Da laut dieser Einteilung zum Beispiel Wörter wie da, sehr,
morgen, wahrscheinlich, auf u.ä. derselben Wortart Partikel zugeordnet
19
werden können, ist diese Klassifikation nicht ganz präzis.

Wort

flektierbar nicht flektierbar


Partikel

konjugierbar deklinierbar
Verb

genusfest nicht genusfest


Substantiv

komparierbar nicht komparierbar


Adjektiv Begleiter.

Syntaktische Kriterien. Aus der syntaktischen Hinsicht müssen


die Wörter der gleichen Wortart die gleiche syntaktische Funktion im
Satz erfüllen. So spielen die Substantive meistens die Rolle eines
Subjekts, eines Objekts oder eines Prädikativs im Satz, die Verben sind
meistens Prädikate, die Adjektive erfüllen die Funktion eines Attributs
oder eines Prädikativs usw.

2. Die Streitfragen der Wortartentheorie


In modernen Klassifikationen verbindet man die oben ange-
führten Kriterien mit unterschiedlicher Dominanz. Eben das beinhaltet
zwei Streitpunkte in der Wortartenfrage: 1) homogener vs. heterogener
Ansatz und 2) Hierarchieverhältnisse zwischen den Kriterien.
In älteren Darstellungen werden Wortarten aufgrund der
semantischen Kriterien ausgegliedert (Jung 1953). In den Grammatiken
von Glinz, Erben, Duden u.a. sind hauptsächlich semantische und
morphologische Kriterien ausschlaggebend. In den modernen Klassifi-
kationen werden in erster Linie morphologische und syntaktische
Kriterien angewendet. In der Grammatik von U.Engel ist die Distribution
ein Verfahren zur Unterscheidung der Wortarten.
In den jüngeren Grammatiken versucht man ein heterogenes
Kriterium anzuwenden: entweder ein semantisches (Hentschel/Weydt
1990), oder ein syntaktisches (Helbig/Buscha 1984, Engel 2004) oder
ein morphologisches. Es dominiert aber dabei das so genannte gramma-
20
tische Kriterium, d.h. morphologische und syntaktische Kriterien, weil
es bei den Wortarten letztendlich um grammatische Klassen handelt.
Die Schwierigkeiten bei der Wortartenklassifikation im
Deutschen stellen vor allem Zuordnung von Konjunktionen und
Präpositionen, Adjektiv und Adverb, die nur aufgrund der semantischen
Kriterien ausgegliederte Wortart Numeralien, die Negationswörter und
die Pronomina.
Wie G.Helbig (2001: 223) bemerkt, sind faktisch alle in der
deutschen Sprache vorhandenen Wortarten in den verschiedenen
Darstellungen zu sehen, unabhängig davon, ob sie als selbständige
Klassen anerkannt oder als Teilklassen anderen Klassen zugeordnet
werden.

3. Wortartenklassifikationen
Die Zahl der Wortarten in verschiedenen Grammatiken der
deutschen Gegenwartssprache ist unterschiedlich: 2 – Sommer (1931), 4
– Sütterlin (1923), 5 – Glinz (1952, 1973), Erben (1959), 6 –
Hentschel/Weydt (2003), 7 – Flämig (1991), 9 – Duden-Grammatik
(1995), Helbig/Buscha (1999), Wellmann (2008), 10 – Sommer-
feldt/Starke (1998), 12 – Admoni (1982), 14 – Moskalskaja (1983).
Duden-Grammatik (1995) führt folgende komplexe Klassifika-
tion der Wortarten im Deutschen an:

Wortart morphologisch syntaktisch semantisch/


pragmatisch
flektierbare:
Verb Konjugation Funktion: Prädikat Zustand,
Distribution: in Vorgang,
Kongruenz mit dem Tätigkeit,
Subjekt Handlung
Substantiv Deklination Funktion: Subjekt, Lebewesen,
Objekt, adverbiale Sachen (Dinge),
Bestimmung, Attribut Begriffe
Distribution: mit (Abstrakta)
Artikel
Adjektiv Deklination Funktion: Attribut, Eigenschaften,
Komparation adverbiale Bestimmung Merkmale
Distribution: mit
Substantiv bzw. Verb
21
unflektierbare:
Adverb Funktion: Attribut oder nähere Umstände
Umstandsangabe
Distribution: mit
Substantiv, Adjektiv,
Verb
Partikel Funktion: Satzgliedteil / Sprechereinstellu
Attribut ng,
Distribution: v. a. bei -bewertung
Hauptwortarten oder
syntaktisch isoliert
Präposition Funktion: Verhältnisse,
Präpositionalkasus Beziehungen
Distribution: vor
Substantiven
(Pronomen)
Konjunktion Funktion: Verbindung, Verknüpfung im
Einleitung, logischen,
Unterordnung zeitlichen,
Distribution: zwischen begründenden,
Sätzen, innerhalb von modalen u.ä.
Satzgliedern und Sinn
Attributen
In der Grammatik von Helbig/Buscha (2001) werden die Wörter
in erster Linie nach dem syntaktischen Prinzip der Kommunikations-
Klassen in folgende Wortklassen (nicht Wortarten) eingeteilt:
I. Flektierbare II Nichtflektierbare
a) nominale a) verbindende
1. Substantiv 5. Präposition
2. Adjektiv 6. Konjunktion
3. Pronomen b) „situierende“
b) verbale 7. Adverb
4. Verb 8. Partikeln
c) dialogische
9.Interjektionen, Satzwörter

O.Moskalskaja (1983) schlägt folgende Einteilung des Wort-


schatzes in Wortarten vor:
I. Eigentliche Wortarten (Autosemantika)
22
a) benennende oder nominative
1.Substantiv
2.Verb
3.Adjektiv (einschließlich der qualitativen Adverbien)
4.Adverb
b) verweisende
5. Pronomen
c) zählende
6. Numerale
II. Funktionswörter (Synsemantika)
a) mit syntaktischer Funktion
7. Präposition
8.Konjunktion
9.Kopula
10.Partikel
b) mit morphologischer Funktion
11.Artikel
12.Hilfsverb
III.13. Modalwort
IV.14. Interjektion

4. Aufgaben
1. Nennen Sie Kriterien, die bei der Wortartenklassifikation gebraucht
werden können. Welche Kriterien dominieren bei der Wortarten-
klassifikation?
2. Bestimmen Sie die Wortart der folgenden Wortformen:
gut, dachte, Liebe, liebe, sagen, Sagen, gesagt, Gesagte, lesend, und,
doch, ach, muss, sehr, schnell, an, während.
3. Bestimmen Sie die Wortart der unterstrichenen Wörter:
„Du sagst, dass das das Buch ist, das du gekauft hast.“
4. Warum bietet gerade die Klassifikation der Artikel, Pronomen,
Numeralia und Adverbien besondere Schwierigkeiten?
5. Welche Kriterien liegen folgenden Wortartdefinitionen zugrunde:
1)Adjektive bezeichnen Eigenschaften.
2) Artikel sind Begleiter des Substantivs.
3) Konjunktionen sind indeklinabel.
23

6 Charakterisieren Sie aufgrund folgender Tabelle die


dargestellten Wortartenklassifikationen. Welche Kriterien werden
dabei bevorzugt?
Traditionelle Erben Glinz (1971) Engel (1988)
(Schul)grammatik
Verb Aussagewort Verb Verb
Tuwort
Substantiv Nennwort Nomen Nomen
Hauptwort
Adjektiv charakterisierendes Adjektiv Adjektiv
Eigenschaftswort Beiwort
Artikel größenbezog. Pronomen Determinativ
Geschlechtswort Formwort
Pronomen

Pronomen
Fürwort
Numerale charakterisierendes Adjektiv
Zahlwort Beiwort
Adjektiv
Adverb
Umstandswort Partikel
(Adv.)
Fügewort (Präp.)
Partikel (Konj.)
Präposition (Satzäquival.)
Verhältniswort
-
Konjunktion
Bindewort
Interjektion
Ausrufewort

7. Bestimmen Sie, welche Wortarten „offen“ und welche „geschlossen“


sind. Begründen Sie Ihre Entscheidungen.
8. Bestimmen Sie die Wortart der Wörter im folgenden Grimms
Märchen:
Die Sterntaler
Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter
gestorben, und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte,
darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und
24
endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen
Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Es war
aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging
es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld. Da begegnete ihm
ein armer Mann, der sprach: "Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so
hungrig." Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte: "Gott
segne dir's", und ging weiter. Da kam ein Kind, das jammerte und
sprach: "Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit
ich ihn bedecken kann." Da tat es seine Mütze ab und gab sie ihm. Und
als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte
ein Leibchen an und fror; da gab es ihm seins; und noch weiter, da bat
eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin. Endlich gelangte es
in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch eins
und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte: 'Es ist
dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd
weggeben', und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin. Und wie es
so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom
Himmel und waren lauter harte, blanke Taler; und ob es gleich sein
Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an, und das war vom
allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und war
reich für seinen Lebtag.

5. Literatur
1. Deutsche Sprache. Kleine Enzyklopädie. // Hrsg. von W.Fleischer, G.Helbig,
G.Lerchner. – Frankfurt am Main: Peter Lang, 2001. – S. 220-225.
2. Die Grammatik. Duden. Bd. 4. 7. Aufl. – Mannheim: Brockhaus, 2005.
3. Engel U. Deutsche Grammatik. – München: Iudicum, 2004.
4. Handbuch der deutschen Wortarten. // Hrsg. von L.Hoffmann. – Berlin, New
York: de Gruyter, 2007.
5. Hentschel E., Weydt H. Handbuch der deutschen Grammatik. 3. Aufl. –
Berlin, New York: de Gruyter, 2003. – S. 14-22.
6. Linke A., Nussbaumer M., Portmann P.R. Studienbuch Linguistik. 5.
Auflage. – Tübingen: Niemeyer, 2004. – S. 72-77.
7. Moskaljskaja O. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. – M., 1983.
S. 41-50.
8. Römer Chr. Morphologie der deutschen Sprache. – Tübingen, Basel:
A.Franke Verlag, 2006. – S. 43-179.
9. Wellmann H. Deutsche Grammatik. – Heidelberg: Winter, 2008.
25
Lerneinheit 4. Das Verb. Klassifizierung der Verben

1. Allgemeine Charakteristik
2. Einteilung der Verben
2.1. Klassifizierung der Verben nach morphologischen Kriterien
2.2. Klassifizierung der Verben nach syntaktischen Kriterien
2.3. Klassifizierung der Verben nach semantischen Kriterien
3. Beziehungen zwischen semantischen Klassen und grammatischen
Kategorien
4. Aufgaben
5. Literatur

1. Allgemeine Charakteristik
Die lateinische Bezeichnung verbum bedeutet ganz allgemein
„Wort“. Die treffendste Verdeutschung von „Verb“ ist „Aussagewort“
(auch „Zeitwort“), weil es der einzige Träger der Prädikativität im Satz ist.
Die Zahl der Verben ist im Deutschen auch genug groß unter allen
Wortarten, nach Angaben einiger Germanisten macht sie etwa ein Viertel
des Gesamtwortschatzes aus.
Das Verb gilt im Deutschen als zentrale Wortart aus solchen
Gründen:
1) es ist die einzige konjugierbare Wortart und zugleich Träger von 5
Kategorien (Person, Numerus, Tempus, Modus, Genus);
2) es gibt in der Regel keinen Satz ohne Verb;
3) die Stellung des Verbs im Satz ist strikt festgelegt (Erst, Zweit- oder
Letztstellung), dadurch werden die Stellungstypen des deutschen Satzes
bestimmt (Kernsatz, Stirnsatz, Spannsatz);
4) das Verb entscheidet über die weitere Ausgestaltung des Satzes mit
anderen Gliedern und ist die einzige Wortart, die sich auf die Struktur des
Gesamtsatzes auswirkt.
Das Verb hat im Vergleich zu anderen Wortarten das größte
Paradigma der Wortformen: ein transitives Verb kann in 177, ein
intransitives in 91 Wortformen realisiert werden (nach den Angaben von
O. Moskalskaja). Unter dem Paradigma versteht man die Gesamtheit der
Wortformen, die für eine Wortart charakteristisch sind. Die Wortformen
des Verbs können einfach (synthetisch) oder zusammengesetzt (analytisch)
sein. Zu den synthetischen Formen gehören der Infinitiv I Aktiv, alle
Formen des Präsens und des Präteritums Indikativ und Konjunktiv sowie
alle Formen des Imperativs. Zu den analytischen Formen gehören der
26
Infinitiv II, das Perfekt, das Plusquamperfekt, das Futur I/II Indikativ und
Konjunktiv, der Konditionalis I/II, der Infinitiv I/II Passiv sowie alle
Zeitformen des Passivs.

2. Einteilung der Verben


2.1. Klassifizierung der Verben nach morphologischen Kriterien
Aus der morphologischen Sicht können die Verben nach der
Konjugiertheit und nach der Art der Konjugation klassifiziert werden.
Nach der Konjugiertheit unterscheidet man zwischen finiten
(konjugierten) und infiniten (nicht konjugierten) Verbformen. Die finite
Verbform drückt alle 5 Kategorien aus: Person (1., 2., 3. Person), Numerus
(Singular, Plural), Tempus (Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt,
Futurum I, Futurum II), Genus (Aktiv, Passiv), Modus (Indikativ,
Imperativ, Konjunktiv).
Die finiten Formen nennt man auch Personalformen des Verbs, weil
sie die grammatische Person ausdrücken. Jeder Satz enthält eine finite
Verbform; daneben können mehrere infinite Verbformen auftreten:
Ich habe ihn gestern besuchen können.
Die infiniten Verbformen drücken nur die Kategorien des Tempus
und des Genus aus. Sie sind nicht personengebunden und nicht konjugiert.
Man unterscheidet zwei Arten von infiniten Verbformen: den Infinitiv und
die Partizipien.
Nach der Art der Konjugation werden schwache (regelmäßige) und
starke (unregelmäßige) Verben unterschieden:
- regelmäßige Verben bilden das Präteritum mit Hilfe des Suffixes -
te, unregelmäßige Verben ohne zusätzliches Suffix;
- regelmäßige Verben bilden ihr Partizip II mit dem Suffix -t oder -
et, unregelmäßige Verben mit Hilfe des Suffixes -en;
- regelmäßige Verben ändern im Prät. und im Part. II ihren
Stammvokal nicht, unregelmäßige Verben ändern ihn in gesetzmäßiger
Weise in den drei Stammformen (Inf. – Prät. – Part.II.) (Ablaut):
fragen – fragte – gefragt (regelmäßig)
finden – fand – gefunden (unregelmäßig)
Unter den regelmäßigen Verben unterscheidet man eine besondere
Gruppe, die in ihrer Tempusbildung einige Besonderheiten aufweisen:
brennen, kennen, nennen, rennen, senden, wenden, bringen, denken,
Modalverben, haben.
Unter den unregelmäßigen Verben unterscheidet man eine
besondere Gruppe (gehen, stehen, tun, werden, sein), die in der
27
Konjugation Besonderheiten aufweist. Die drei Verben gehen, stehen, tun
haben nicht nur einen von den normalen Gruppen abweichenden
Vokalwechsel, sondern zusätzlich einen Wechsel im Konsonantismus:
gehen – ging – gegangen
stehen – stand – gestanden
tun – tat – getan
Das Verb werden weicht im Präteritum von der Klasse der starken
Verben:
werden – wurde – geworden
Das Verb sein hat verschiedene Stämme bei der Konjugation: ich
bin, du bist, er ist, wir sind, ihr seid, sie sind, ich war, ich bin gewesen
Es gibt Mischtypen von regelmäßiger und unregelmäßiger
Konjugation, bei welchen die Verben im Präteritum regelmäßig und im
Perfekt unregelmäßig konjugiert werden können:
mahlen – mahlte – gemahlen
spalten – spaltete –gespaltet/gespalten
stecken – steckte/stak – gesteckt

2.2. Klassifizierung der Verben nach syntaktischen Kriterien


Die Klassifizierung der Verben aus dem syntaktischen Aspekt
erfolgt nach dem Verhältnis im Prädikat, nach dem Verhältnis zum
Subjekt, nach dem Verhältnis zu den Objekten, nach dem Verhältnis zu
Subjekt und Objekten und auch nach dem Verhältnis zu allen Aktanten.
Nach dem Verhältnis im Prädikat unterscheidet man zwischen
Vollverben, die allein das Prädikat des Satzes bilden, und Nicht-
Vollverben (Hilfsverben), die nicht allein, sondern zusammen mit anderen
Gliedern das Prädikat bilden („helfen“, das Prädikat zu bilden).
Zu den Nicht-Vollverben gehören:
- haben, sein, werden, die als Hilfsverben im engeren Sinne
zusammen mit Inf. und Part. II vorkommen und der Bildung der
zusammengesetzten Tempus- und Passivformen dienen:
Er ist gekommen. Sie hat gelesen. Wir werden essen.
- Modalverben (dürfen, können, mögen, sollen, wollen, müssen), die
zusammen mit dem Infinitiv ohne zu vorkommen und eine Modalität
ausdrücken;
- modifizierende Verben, die zusammen mit Inf. mit zu vorkommen
und in der Bedeutung den Modalverben ähnlich sind (scheinen, brauchen,
bekommen, pflegen, wissen, belieben, gedenken, pflegen, suchen, verstehen
u.a.):
28
Er scheint zu schlafen. (= Er schläft möglicherweise.)
Er weiß sich zu helfen. (= Er kann sich helfen.)
Sie braucht nicht zu kommen. (= Sie muss nicht kommen.)
Ich bekam ihn nicht zu sehen. (= Es war nicht möglich, ihn zu
sehen.)
Er beliebt zu scherzen. (= Es gefällt ihm zu scherzen.)
Der Gast gedenkt, noch eine Weile zu bleiben. (=Der Gast will noch
eine Weile bleiben.)
Der Junge pflegt zu spät zu kommen. (= Der Junge kommt
gewöhnlich zu spät.)
Sie sucht zu vergessen (= Sie bemüht sich zu vergessen.)
- das Verb „kommen“ mit Part. II eines Verbs der Bewegung deutet
die durative Aktionsart an:
Ein Vogel kommt geflogen.
- Funktionsverben (Verben, die zusammen mit einem nominalen
Bestandteil eine semantische Einheit darstellen und damit das Prädikat
bilden):
zur Aufführung bringen, Anerkennung finden
- „bekommen“-Verben (bekommen, erhalten, kriegen), die in einer
bestimmten Verwendung nur zusammen mit dem Part. II vorkommen und
zur Beschreibung des Passivs dienen:
Er bekommt das Buch geschenkt. (= Ihm wurde ein Buch
geschenkt.)
- Kopulaverben (sein, werden, bleiben), die zusammen mit einem
Adjektiv oder Substantiv (als Prädikativ) ein Prädikat bilden:
Er ist/wird/bleibt krank.
- das Verb „tun“ wird in volkstümlicher Umgangssprache zur
Verstärkung gebraucht:
Das tue (tät) ich mir gern ansehen.

Nach dem Verhältnis zum Subjekt lassen sich vier Gruppen von
Verben unterscheiden:
- persönliche Verben, die sich mit einem Subjekt aller drei Personen
verbinden können:
ich schwimme, vergesse, laufe, esse
du schwimmst, vergisst, läufst, isst
er schwimmt, vergisst, läuft, isst
29
- einige Verben,die nur mit einem logischen Subjekt der 3. Person
verbunden werden können (misslingen, gelingen, geschehen, geziemen,
glücken, missglücken, widerfahren u.a.):
Die Arbeit misslang ihm.
- unpersönliche Verben, die nur mit dem unpersönlichen es als
Subjekt verbunden werden:
Es regnet. (*Der Regen regnet. - *Du regnest.)
- eine weitere Gruppe bilden Verben, die notwendig mit einem
logischen Subjekt im Plural, das grammatisch entweder durch ein
pluralisches Subjekt oder durch ein singularisches Subjekt in Verbindung
mit einer Präpositionalgruppe ausgedrückt wird (vereinbaren, ausmachen,
sich einigen, übereinkommen, verabreden, sich verschwören, wetteifern
u.a):
Wir vereinbaren einen Termin.
Ich vereinbare mit ihm einen Termin.

Nach dem Verhältnis zum Objekt unterscheidet man transitive und


intransitive Verben:
- transitive Verben sind solche Verben, bei denen ein
Akkusativobjekt stehen kann, das bei einer Verwandlung ins Passiv zum
Subjektsnominativ wird (z. B. besuchen, finden, erwarten, senden);
- intransitive Verben sind solche Verben, bei denen kein
Akkusativobjekt stehen kann (unabhängig davon, ob ein anderes Objekt
stehen kann) (z. B. denken, helfen, glauben, wachsen, warten).
Diese Grobklassifizierung verlangt einige Spezifizierungen. Als
transitiv werden auch solche Verben bezeichnet, bei denen das (subjekt-
fähige) Akkusativobjekt im konkreten Satz nicht erscheint, wohl aber
erscheinen kann (intransitive Verwendung transitiver Verben):
Er prüft (die Studenten).
Nicht zu den transitiven Verben gerechnet werden jene Verben mit
einem Akkusativobjekt, das bei der Verwandlung ins Passiv nicht zum
Subjektsnominativ werden kann ("Mittelverben" oder pseudotransitive
Verben) (z.B. haben, es gibt, behalten, erhalten, enthalten, bekommen,
umfassen). Zu den intransitiven Verben gehören sowohl solche Verben, die
außer dem Subjekt keine weitere Ergänzung im Satz brauchen (z. B.
blühen, scheinen, schwimmen, untergehen) – sie werden absolute Verben
genannt, als auch ein Teil derjenigen Verben, die außer dem Subjekt
mindestens eine weitere Ergänzung im Satz brauchen, damit der Satz
grammatisch vollständig wird (z.B. helfen, sich widmen, gedenken,
30
wohnen, sorgen) – diese Verben werden relative Verben genannt. Relative
Verben können transitiv (wenn sie ein Akkusativobjekt bei sich haben)
oder intransitiv sein (wenn sie ein Dativ-, Genitiv- oder Präpositionalobjekt
bei sich haben); absolute Verben sind immer intransitiv. Alle transitiven
Verben sind relativ, transitivive Verben können aber relativ oder absolut
sein:
Er besucht seinen Freund. (transitiv; relativ)
Der Koffer enthält zwei Anzüge. (Mittelverb; relativ)
Er hilft seinem Freund. (intransitiv; relativ)
Die Rosen verblühen. (intransitiv; absolut).
Die Unterscheidung zwischen transitiv und intransitiv gibt somit
keine Auskunft darüber, welcher Art die Ergänzungen sind und ob sie
obligatorisch oder fakultativ auftreten. Solche Unterscheidungen sind erst
von der Valenz her möglich.
Es gibt transitive Verben, die intransitiv gebraucht werden und
intransitive, die transitiv verwendet werden, aber die letzte Möglichkeit ist
äußerst begrenzt und auf die Dichtersprache beschränkt:
Der Bäcker bäckt heute Kuchen. (transitiv) – Der Bäcker bäckt
heute. (intransitiv)
Die Glocke tönt. (intransitiv) – Die Glocke tönt einen traurigen
Gesang. (transitiv)
Da der transitive Gebrauch der intransitiven Verben äußerst begrenzt
ist, kann die Transitivierung intransitiver Verben mit Hilfe von Präfixen
erfolgt werden:
Er wartet auf den Freund. – Er erwartet den Freund.
In zahlreichen Fällen kann das gleiche Verb transitiv und intransitiv
gebraucht werden. Es handelt sich dabei um verschiedene Varianten eines
Verbs mit verschiedener Valenz:
Der Bäcker bäckt frisches Brot. – Das Brot bäckt.
Die Köchin kocht die Suppe. – Die Suppe kocht.
Der Unterschied zwischen transitiven und intransitiven Verben hat
zwei syntaktische Reflexe:
1. Bei transitiven Verben ist ein persönliches Passiv möglich,
Mittelverben lassen keine Passivformation, intransitive Verben bilden nur
ein subjektloses Vorgangspassiv.
2. Transitive Verben und Mittelverben bilden Perfekt/Plusquam-
perfekt in der Regel mit dem Hilfsverb haben; intransitive Verben – mit
haben oder sein (das hängt von semantischen Kriterien der Aktionsart ab):
Er hat geschlafen. – Er ist eingeschlafen.
31
Mit Blick auf die Objekte werden die Verben syntaktisch auch nach
ihrer Rektion eingeteilt. Rektion ist ihre Fähigkeit, ein von ihnen
abhängiges Substantiv (oder Pronomen) in einem bestimmten Kasus
(Akk., Dat., Gen., Präpositionalgruppe) zu fordern. Die von der Rektion
des Verbs geforderten Kasus heißen casus obliqui (= abhängige Kasus) –
im Unterschied zum Subjektsnominativ als casus rectus (= der
unflektierte, unabhängige Kasus). Nach der Rektion sind zahlreiche
Gruppen zu unterscheiden:
- Verben, die den Akkusativ regieren (z.B. achten, benutzen,
bewundern, beschreiben, beurteilen, ersteigern, essen, hassen);
- Verben, die den Dativ regieren (z.B. ähneln, angehören, beistimmen,
danken, einleuchten, entlaufen, nutzen, schaden, helfen);
- Verben, die den Genetiv regieren (z.B. sich bedienen, bedürfen, sich
bemächtigen, sich enthalten, sich erinnern, gedenken);
- Verben, die einen Präpositionalkasus regieren, die weiter differenziert
werden können danach, welche Präposition stehen muss, z.B. hängen,
denken (an), basieren (auf), sich ergeben (aus), anrufen (bei), eintreten
(in), sich täuschen (in), sich abgeben (mit), duften (nach), sich ärgern
(über), sich sorgen (um);
- Verben, die einen doppelten Akkusativ regieren (z.B. abfragen,
kosten, lehren, nennen, schelten, schimpfen);
- Verben, die Akkusativ und Dativ regieren (z.B. anbieten, geben,
befehlen, entziehen, nachweisen, verbieten, zuweisen);
- Verben, die Akkusativ und Genetiv regieren (z.B. anklagen,
belehren, berauben, beschuldigen, entheben, verdächtigen).

Nach dem Verhältnis zu Subjekt und Objekt unterscheidet man


die besonderen Gruppen der reflexiven und reziproken Verben, die mit
dem Reflexivpronomen „sich“ gebraucht werden.
Unter den reflexiven Verben differenziert man:
- echte reflexive Verben (wenn sich das Reflexivpronomen auf das
Subjekt des Satzes bezieht, nicht ersetzbar ist und als Prädikatsteil
angesehen wird): sich bedanken, sich befinden, sich eignen, sich betrinken,
sich erkälten;
- unechte reflexive Verben (wenn das Reflexivpronomen ersetzbar
ist und nicht als Prädikatsteil angesehen wird): (sich) waschen, (sich)
verletzen, (sich) fragen, (sich) verzeihen.
Reziproke Verben sind solche, bei denen eine wechselseitige
Beziehung zwischen mehreren Subjekten und Objekten besteht und
32
mithilfe des Reflexivpronomens „sich“ oder Reziprokpronomens
„einander“ ausgedrückt werden kann:
Sie begegnen sich.= Sie begegnen einander.

Die Rektion der Verben gibt keine Auskunft, ob Subjekte,


Adverbialbestimmungen, Infinitive, Nebensätze usw. stehen können oder
müssen, ob die Objekte obligatorisch oder fakultativ auftreten. Diese
Eigenschaften werden von der Valenz festgelegt.
Die Valenz (analogisch dem Begriff aus dem Bereich der Chemie)
des Verbs ist dessen Fähigkeit, bestimmte Leerstellen im Satz zu eröffnen
(zu bilden), die durch Aktanten (Ergänzungen) besetzt werden müssen
(obligatorische Aktanten) oder besetzt werden können (fakultative
Aktanten). Außer den obligatorischen und fakultativen Aktanten treten im
Satz freie Angaben, die von der Valenz der Verben nicht bestimmt werden
und syntaktisch im Satz hinzugefügt und weggelassen werden können. Im
Satz wird das Verb als Haupt-Valenzträger (der primäre Valenzträger)
angesehen, darum legt es durch seine Valenz einen Stellenplan für den Satz
fest. Die Abgrenzung zwischen obligatorischen, fakultativen Valenz und
freien Angaben erfolgt auf folgende Weise:
Er legt das Buch auf den Tisch. (obl. Valenz)
Sie steigt in die Straßenbahn ein. (fak. Valenz)
Er arbeitete in Bremen. (freie Angabe)
Freie Angaben sind reduzierte Sätze und können auf vollständige
Sätze zurückgeführt werden. Obligatorische und fakultative Aktanten sind
dagegen Besetzungen von Leerstellen des Verbs und nicht auf Sätze
zurückführbar:
*Er legt das Buch, als er auf dem Tisch war.
*Er steigt ein, als die Straßenbahn da war.
Er arbeitete, als er in Bremen war.
Den Unterschied zwischen der obligatorischen und fakultativen
Valenz ist vom Kontext abhängig (von der Vorerwähntheit, vom Kontrast
u.a.). Die obligatorischen Aktanten einerseits werden von den fakultativen
Aktanten und freien Angaben andererseits mit Hilfe des Eliminierungs-
testes (Weglassprobe) geschieden. Ein Glied ist obligatorisch, wenn bei
seiner Eliminierung der Satz ungrammatisch wird; sonst ist es fakultativ:
*Er legt das Buch.
Er steigt ein.
Er arbeitete.
33
Nach der Valenz des Verbs lassen sich (nach der Anzahl der
obligatorischen Aktanten) folgende Gruppen unterscheiden:
- nullwertige Verben (z.B. donnern, schneien, blitzen, rieseln):
Es blitzt.
Es donnert.
- einwertige Verben (z.B. eingehen, schwimmen, schlafen):
Die Pflanze geht ein.
Er schläft (im Sessel mit einem Buch in der Hand).
- zweiwertige Verben (z.B. erwarten, besuchen, lesen, begegnen):
Der Direktor erwartet seine Gäste.
Der Sohn begleitet seinen Vater (in die Stadt).
- dreiwertige Verben (z.B. geben, beschuldigen, nennen, stellen):
Der Lehrer gibt uns gute Noten.
Der Vater legt das Kind schlafen.

2.3. Klassifizierung der Verben nach semantischen Kriterien


Eine Klassifizierung der Verben unter dem semantischen Aspekt
erfolgt nach der Bedeutungsstruktur der Verben, nach ihrer Aktionsart und
nach dem Grad ihrer Grammatikalisierung bzw. Desemantisierung (nach
der Möglichkeit/Unmöglichkeit allein das Prädikat zu bilden).
Lange Jahre galt die semantische Klassifikation der deutschen
Verben von H. Brinkmann als die plausibelste. Er teilt die gesamte verbale
Lexik in: a) Tätigkeitsverben, das sind transitive Verben (machen, essen,
sagen); b) Vorgangsverben, das sind intransitive Verben, die eine Ver-
änderung der Menschen und der Dinge bezeichnen (steigen, fallen, laufen);
c) Zustandsverben, das sind Verben, die eine bleibende Lage von Men-
schen und Dingen bezeichnen (stehen, schlafen, liegen); d) Geschehens-
verben, die „das Leben als Geschehen" darstellen (gelingen, misslingen,
passieren); e) Witterungsverben, die kein logisches Subjekt bei sich haben
können (es regnet, es blitzt, es stürmt). Diese Klassifikation ist sowohl von
großer Subjektivität geprägt, als auch werden neben den semantischen auch
grammatische Kriterien herangezogen, deshalb kann diese Klassifikation
nicht als rein semantische gelten.
Eine neue semantische Klassifikation der deutschen Verben, die auf
rein semantischen Kriterien beruht, entwickelte Gerhard Helbig Anfang der
80-er Jahre. Aufgrund der Bedeutungsstruktur unterscheidet er folgende
Hauptgruppen von Verben:
1.Tätigkeitsverben, die anweisen, dass ein tätiges Subjekt (ein Täter oder
Agens) in aktiver Weise etwas tut, eine Handlung/Geschehen ausführt:
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arbeiten, aufschreien, bewegen, sich bemächtigen, springen, töten,
öffnen, singen, wandern, zerbrechen
2. Vorgangsverben, bezeichnen eine Veränderung, einen Prozess, der auf
das Subjekt einwirkt:
erfrieren, erkranken, ermüden, erwachen, einschlafen, fallen,
hinfallen, sterben, verfaulen, verblühen, verhungern
3. Zustandsverben drücken einen Zustand, ein Bestehen, ein Beharren aus,
dabei verändert sich das Subjekt nicht:
sich befinden, liegen, sein, stehen, umgeben, wohnen
G.Helbig verwendet zwei Kriterien zur Unterscheidung dieser drei
Hauptgruppen von Verben. Das erste semantische Merkmal ergibt sich aus
der Bedeutung des Verbs als [± statisch], das zweite – aus dem seman-
tischen Charakter des Substantivs als [± Agens], das sich mit dem Verb
verbindet. Statisch sind Zustandsverben; Tätigkeitsverben und Vorgangs-
verben sind dynamisch. Tätigkeitsverben unterscheiden sich von
Vorgangsverben dadurch, dass ihr Subjekt immer Agens (Täter) ist.
Danach ergibt sich:
statisch Agens
+
Tätigkeitsverb –

Vorgangsverb –

Zustandsverb +

Tätigkeitsverben und Vorgangsverben können von den Zustands-


verben dadurch unterschieden werden, dass sie auf die Frage: „Was
geschieht/geschah?“ antworten:
Was geschah?
- Er zerbrach den Teller. (Tätigkeit)
- Er fiel in den Graben. (Vorgang)
-*Er wohnte in Dresden. (Zustand)
Die Tätigkeitsverben unterscheiden sich von den Vorgangsverben
dadurch, dass sie durch Pro-Verben (wie tun, machen) ersetzt werden
können:
Was tat der Junge?
Er sang ein Lied. Er tat (machte) es. (Tätigkeit)
*Er schlief ein. *Er tat (machte) das. (Vorgang)
Jede von drei semantischen Klassen von Verben unterteilt G.Helbig
in semantische Unterklassen, indem er zusätzliche semantische Kriterien
verwendet. Die Zustandsverben werden in 10 Unterklassen unterteilt, z.B.
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lokal relationale Verben (weilen, hocken, sitzen, stehen, ruhen, rasten),
temporal relationale Verben (währen, dauern), kognitive Zustandsverben
(wissen, kennen), symmetrische Zustandsverben (sich decken, grenzen,
ähneln, sich entsprechen) usw.
Die Tätigkeitsverben werden in 10 Unterklassen unterteilt, unter
ihnen aktive Bewegungsverben (gehen, fahren, sich bewegen, klettern,
segeln, bummeln), Verben des Besitzwechsels (geben, schenken, kaufen,
leihen, erwerben), aktive kognitive Verben (entdecken, erfahren, einsehen,
beurteilen, versehen, einschätzen), die Verben des Wahrnehmens (sehen,
fühlen, spüren, hören) usw.
Die semantische Klasse der Vorgangsverben wird in 6 Subklassen
unterteilt, darunter Verben, die den Zustand des Subjekts bezeichnen
(sterben, wachsen, gedeihen, sich verbessern, faulen, verblassen, verhun-
gern), Verben der passiven Bewegung des Subjekts (fallen, landen,
rutschen, sinken, sprudeln), Verben der passiven Kommunikation
(schweigen), Ereignisverben (regnen, donnern) usw.
Die Verben bezeichnen nicht nur Vorgang, Zustand und Tätigkeit,
sondern auch die Verlaufsweise und Abstufung des Geschehens, die als
Aktionsart eines Verbs verstanden werden. Das Geschehen kann nach dem
zeitlichen Verlauf (Anfang, Übergang, Ende; Ablauf, Vollendung) und
nach dem inhaltlichen Verlauf (Veranlassung, Intensität, Wiederholung,
Verkleinerung) differenziert werden. Der zeitliche und inhaltliche Verlauf
greifen oft ineinander.
Aus der Sicht der aktionalen Semantik bezeichnen die Verben den
Verlauf eines Geschehens unterschiedlich. Den Verben der slawischen
Sprachen ist der verbale Aspekt eigen, sie geben ein Geschehen entweder
als vollendet (заснути) oder als unvollendet (спamu) an. Die deutschen
Verben besitzen diese Eigenschaft nicht. Die meisten deutschen
Germanisten (E. Agricola, W.Jung u.a.) sind der Ansicht, dass die
aktionale Semantik der deutschen Verben der aspektuellen Semantik der
slawischen gegenübergestellt werden kann. Unter der Aktionsart eines
Verbes versteht man die Verlaufsweise und Abstufung des Geschehens,
das vom Verb bezeichnet wird. Die Differenzierung des Geschehens
erfolgt nach dem inhaltlichen Verlauf (Ablauf, Vollendung, Anfang,
Übergang, Ende) und nach dem inhaltlichen Verlauf (Veranlassung,
Intensität, Wiederholung, Verkleinerung). Der zeitliche und inhaltliche
Verlauf greifen oft ineinander. Die Verben, die ein Geschehen in seinem
Verlauf ohne Grenzen bezeichnen, nennt man durativ, oder imperfektiv
(arbeiten, blühen, essen, laufen, schlafen).
36
Zu den durativen Verben gehören auch:
1. iterative oder frequentative Verben, die die Wiederholung eines
Geschehens ausdrücken (flattern, gackern, plätschern, streicheln)
2. intensive Verben, die die Verstärkung eines Geschehens ausdrücken
(brüllen, saufen, sausen)
3. diminutive Verben, die die Abschwächung eines Geschehens ausdrücken
(hüsteln, lächeln, tänzeln)
Die Verben, die mit ihrer Semantik das Geschehen durch das Merkmal
Anfang/Ende zeitlich begrenzen, nennt man perfektiv. Man unterscheidet
folgende Subklassen der perfektiven Verben:
1. ingressive oder inchoative Verben, die den Anfang des Geschehens
bezeichnen (aufblühen, einschlafen, entflammen, erblicken, loslaufen).
2. egressive Verben, die die Endphase und den Abschluss eines
Geschehens bezeichnen (platzen, verblühen, verklingen, zerschneiden).
3. mutative Verben, die einen Übergang von einem Zustand in einen
anderen bezeichnen (reifen, rosten, sich erkälten).
4. kausative oder faktitive Verben, die ein Verlassen in einen neuen
Zustand ausdrücken (beugen, öffnen, senken, sprengen, schwenken).
In slawischen Sprachen ist die Aktionsart eine grammatische
Kategorie und bezeichnet das Geschehen als vollendet/unvollendet, in der
deutschen Sprache ist es eine semantische Kategorie und kann durch
verschiedene sprachliche Mittel ausgedrückt werden:
1. Die Aktionsart wird ausgedrückt durch die Bedeutung des Verbs selbst,
das betrifft in den meisten Fällen einfache Verben von durativer
Aktionsart: arbeiten, blühen, essen, lesen, schlafen u.a.
Es gibt auch einfache Verben, die von ihrer Bedeutung perfektiv
sind: finden, kommen, treffen, sterben u.a.
2. Die perfektive Aktionsart wird ausgedrückt durch Wortbildungsmittel
(Präfixe, Suffixe, Zusammensetzung, Umlaut des Stammvokals, e/i-
Wechsel):
blühen – erblühen, aufblühen (ingressiv)
blühen – verblühen (egressiv)
brennen – anbrennen (ingressiv)
gehen – losgehen (ingressiv)
schlafen – einschlafen (ingressiv)
bohren – durchbohren (egressiv)
frieren – gefrieren (egressiv)
kämpfen – erkämpfen (egressiv)
reißen – abreißen, zerreißen (egressiv)
37
schlagen – totschlagen (egressiv)
glatt – glätten (kausativ)
offen – öffnen (kausativ)
sinken – senken (kausativ)
bitten – betteln (iterativ)
klingen – klingeln (iterativ)
platschen – plätschern (iterativ)
streichen- streicheln (iterativ)
husten – hüsteln (diminutiv)
künden – kündigen (intensiv)
spenden – spendieren (intensiv)
3. Die Aktionsart wird durch zusätzliche lexikalische Mittel ausgedrückt:
Er arbeitet immer/unaufhörlich. (durativ)
Er arbeitet und arbeitet. (durativ)
Er ist und bleibt ein erfahrener Fachmann. (durativ)
Es klingelte plötzlich. (ingressiv)
Es begann zu regnen. (ingressiv)
Es hörte auf zu regnen. (egressiv)
Er fuhr fort zu arbeiten.(durativ)
Er arbeitet weiter. (durativ)
Er pflegte abends spazieren zu gehen. (durativ)
4. Die Aktionsart wird durch syntaktische Mittel (Konstruktionen mit
Hilfsverben und Funktionsverben) ausgedrückt:
Der Schüler bleibt sitzen. (durativ)
Er ist beim Arbeiten. (durativ) – Er arbeitet.
Der Baum steht in Blüte (durativ) – Der Baum blüht.
Er ist im Begriff zu verreisen (ingressiv) – Er verreist.
Das Mädchen wird rot. (mutativ)
Der Film gelangt zur Aufführung. (ingressiv)
Er setzt die Maschine in Betrieb. (ingressiv)
Er bringt die Produktion in Gang. (ingressiv)
Er kommt ins Schwitzen. (ingressiv)
Er bringt die Arbeit zum Abschluss. (egressiv)
5. Da die Mittel zur Bezeichnung der Aktionsarten sehr verschieden sind,
ist es schwer, die Aktionsarten – als semantische Kategorien – deutlich
voneinander zu trennen. Es gibt Verben und Sätze, die mehreren
Aktionsarten zugeordnet werden können:
Die Kinder rupfen immer wieder die Blumen heraus. (perfektiv +
intensiv + iterativ)
38
Als allgemeines Kriterium zur Unterscheidung der durativen und
perfektiven Verben kann das semantische Kriterium der Verträglichkeit
mit bestimmten Arten von Adverbialbestimmungen gelten. Durative
Verben sind verträglich mit einer durch seit eingeleiteten Temporalangabe;
perfektive Verben sind im Gegensatz unverträglich mit dieser Temporal-
angabe:
Das Institut besteht seit 20 Jahren. (durativ)
*Das Institut wird seit 20 Jahren gegründet. (perfektiv)
Er kränkelt seit 2 Jahren. (durativ)
*Er erkrankt seit 2 Jahren. (perfektiv)
Die beiden Klassen der Aktionsarten - die durativen und perfektiven
Verben – finden ihren Ausdruck in der syntaktischen Struktur:
1. Wenn intransitive Verben durativ sind, bilden sie Perfekt in der
Regel mit dem Hilfsverb haben. Wenn diese Verben perfektiv sind, wird
das Perfekt mit sein gebildet:
Er ist eingeschlafen. (perfektiv) – Er hat geschlafen. (durativ)
Die Rose ist erblüht. (perfektiv) – Die Rose hat geblüht. (durativ)
2. Das Partizip II kann als Attribut verwendet werden nur bei
perfektiven, nicht bei durativen intransitiven Verben:
*das geschlafene Kind
das eingeschlafene Kind
das aufgewachte Kind
3. Das Zustandspassiv kann in der Regel nur bei perfektiven transitiven
Verben (erfüllen, impfen, verdrängen, verkaufen) gebildet werden:
Die Arbeit ist vollendet.
Die Tür ist geöffnet.
3. Beziehungen zwischen semantischen Klassen und gramma-
tischen Kategorien
Wenn semantische Klassen in systematischer Weise mit morpholo-
gischen/syntaktischen Formen verbunden sind, kann man von gramma-
tischen Kategorien sprechen. Im Allgemeinen betrifft diese These die
semantischen Klassen von Aktionsarten nicht. Nur in drei Fällen liegen
systematische Beziehungen zwischen semantischen Klassen und
morphosyntaktischen Formen:
1. Wenn ein Geschehen (Vorgang, Tätigkeit) in seinem reinen Ablauf
oder Verlauf ohne Aufweisung auf seine Veränderung, Begrenzung,
Abstufung, Anfang oder Ende ausgedrückt wird, geht es um durative
oder kursive Verben [dur].
39
2. Wenn eine Veränderung des Zustands bezeichnet wird, geht es um
inchoative oder transformative Verben [incho].
3. Wenn das Bewirken einer Zustandsveränderung, eines Zustandes
ausgedrückt wird, spricht man von kausativen Verben [caus].
Durativa, Inchoativa und Kausativa werden folglich als Namen der
grammatischen Kategorien verstanden, die in bestimmter Weise zu-
sammenhängen. Die Inchoativa implizieren von ihrer Bedeutung Durativa,
weil sie einen Vorzustand und einen Nachzustand voraussetzen. Die
Kausativa implizieren wiederum Inchoativa (oder Durativa) durch die
Einwirkung eines Agens. Die durativen Verben sind Zustandsverben, die
inchoativen – Vorgangsverben, die kausativen gehören zu den Tätigkeits-
verben. Diese drei grammatischen Kategorien der Aktionsarten sind
einerseits enger, als semantische Klassen der Aktionsarten, andererseits
werden sie in einem weiteren Sinne verstanden, als in slawischen
Sprachen. Durativa, Inchoativa und Kausativa haben systematische
grammatische Ausdrucksmittel, z.B. in den Funktionsverben, bei den
Genera des Verbs. Außerdem haben sie noch lexikalische Ausdrucksmittel
(Lexikalisierungen mit sein, haben, werden):
[dur] [incho] [caus]
schlafen einschlafen einschläfern
liegen sich legen legen
tot sein sterben töten, tot machen
krank sein krank werden, erkranken krank machen
wach sein wach werden, aufwachen wach machen, wecken

4. Aufgaben
1.Warum gilt das Verb im Deutschen als eine zentrale Wortart?
2.Wie groß ist das morphologische Paradigma des Verbs?
3.Welche Kriterien liegen der morphologischen Klassifikation zugrunde?
4.In welche Gruppen werden die Verben nach der Konjugiertheit geteilt?
5.Welche grammatischen Kategorien haben finite Verben?
6.Bestimmen Sie finite und infinite Verbformen in folgenden Sätzen,
nennen Sie ihre grammatischen Kategorien:
Ich habe ihn gestern besuchen können. Ich lehre ihn lesen.
7.Welche Gruppen von Verben werden nach der Art der Konjugation
unterschieden?
8.Welche Verhältnisse des Verbs liegen der syntaktischen Klassifikation
zugrunde?
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9.Welche syntaktische Funktion erfüllen die Vollverben und Nicht-
Vollverben?
10.Bestimmen Sie die Arten der Verben nach dem Verhältnis im Prädikat:
1) Der Gast gedenkt, noch eine Weile zu bleiben. 2) Er weiß sich zu helfen.
3) Ich kann gut schwimmen. 4) Ich habe ihm beim Studium geholfen. 5) Er
bekommt das Buch geschenkt. 6) Er besitzt die Fähigkeit zu noch besseren
Leistungen.
11.Welche Arten von Verben unterscheidet man nach dem Verhältnis zum
Subjekt? Bestimmen Sie diese Arten:
1) Sie schwimmt gut. 2) Ich vereinbare mit ihm den nächsten Termin. 3) Es
hagelt. 4) Es glückt ihm immer.
12.Welche Arten von Verben werden nach dem Verhältnis zum Objekt
unterschieden? Gehören Mittelverben zu transitiven oder zu intransitiven
Verben? Bestimmen Sie diese Arten:
Der Kollege hat drei Söhne. Ich arbeite im Garten. Er isst den Apfel.
13.Sind alle intransitiven Verben absolut? Sind transitive Verben relativ
oder absolut?
14.Welche syntaktische Folgen (Reflexe) hat der Unterschied zwischen
den transitiven und intransitiven Verben?
15.Was versteht man unter der Rektion und unter der Valenz des Verbs?
Wodurch unterscheiden sich diese Begriffe?
16.Welche Gruppen von Verben werden nach der Zahl und Art der
Aktanten unterschieden?
17.Welche Hauptgruppen von Verben lassen sich nach der Bedeutungs-
struktur unterscheiden? (nach Brinkmann und nach G.Helbig) Aus welchen
Kriterien ergibt sich diese Klassifikation?
18.Zu welcher von drei Gruppen gehören diese Verben:
aufschreien, wandern, wohnen, stehen, verhungern, sterben, erkranken,
sein, singen, essen, springen, kennen, wissen.
19.Was ist die Aktionsart? Ist das eine grammatische oder eine
semantische Kategorie für die deutschen Verben? Wie kann sie
ausgedrückt werden?
20.Wodurch unterscheiden sich durative Verben von den perfektiven?
Welches Kriterium lässt durative Verben von perfektiven unterscheiden?
21.Welche Reflexe in der syntaktischen Struktur zeigen beide Haupt-
klassen der Aktionsarten?

5. Literatur
1. Die Grammatik. Duden. Bd. 4. 7. Aufl. – Mannheim: Brockhaus, 2005.
41
2. Engel U. Deutsche Grammatik München: Iudicum, 2004. – S. 201-268.
3. Jung W. Grammatik der deutschen Sprache. – Leipzig: VEB Bibliographisches
Institut, 1980.
4. Hentschel E., Weydt H. Handbuch der deutschen Grammatik. 3. Aufl. – Berlin,
New York: de Gruyter, 2003. – S. 36-145.
5. Heibig G., Buscha J. Deutsche Grammatik. – Berlin, 2004.
42

Lerneinheit 5. Das Verb: Tempusformen

1. Kategorie der Zeit. Tempus und Temporalität


2. Semantische Beschreibung der Tempora
3. Synonymie der Tempora
4. Aufgaben
5. Literatur

1. Kategorie der Zeit. Tempus und Temporalität


Von den 5 grammatischen Kategorien des Verbs sind Tempus,
Modus und Genus primäre verbale Kategorien (weil sie unmittelbar aufs
Verb bezogen sind). Laut W. Admoni (1986: 54) ist die Kategorie der Zeit
eine der wichtigsten, denn sie verbindet das Verb und dadurch den Satz mit
dem Redeakt und Redemoment. Die grammatischen Tempora
(Tempusformen): Präsens, Präteritum, Perfekt, Imperfekt, Plusquam-
perfekt, Futur I und Futur II lassen sich nicht in direkter und gradliniger
Weise auf objektiv-reale Zeit beziehen. Die objektive Zeit (Zeitinhalt,
Temporalität) hat als philosophischer Begriff drei Zeitstufen:
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Diese Zeitinhalte können nicht nur
durch grammatische, sondern auch durch lexikalische Mittel zum
Ausdruck kommen, darum ist es schwer das Verhältnis zwischen
grammatischen Tempusformen und objektiver Zeit festzustellen. Zum
Beispiel, im Satz: Jetzt/morgen/neulich bringt er das Buch. ist die
grammatische Tempusform gleich (Präsens), aber durch Temporalbestim-
mungen werden verschiedene Stufen der objektiven Zeit dargestellt: Ver-
gangenheit, Gegenwart, Zukunft. Andererseits drücken die grammatischen
Zeitformen nicht nur die Zeitinhalte, sondern auch modale Inhalte aus:
Er wird angekommen sein. (Vergangenheit + Vermutung)
Darum kann man nicht vom „symmetrischen“ Aufbau des deutschen
Tempussystems ausgehen, wie es in vielen Schulgrammatiken vorgelegt ist
(Präsens als unvollendete Gegenwart; Präteritum als unvollendete, Perfekt
als vollendete, Plusquamperfekt als längst vollendete Vergangenheit usw.).
Es gab Versuche den Zeitformen eine „Grundbedeutung“ zuzuschreiben
(z.B. „allgemeine Zeit“ für Präsens, „vergangen“ für Präteritum,
„vollgezogen“ für Perfekt), aber dann erwiesen sich diese Grundbedeu-
tungen als zu allgemein und zu wenig trennscharf. Damit wurde der Boden
vorbereitet, die Tempora als „Einstellungsphänomene“ (als Sprech-
haltungen des Besprochenes oder Erzählers) anzusehen (H. Weinrich,
43
1985) und schließlich das Tempussystem im Deutschen in Frage zu stellen
(Engel, 2004). H.Weinrich teilt das Tempussystem in 2 Tempus-Gruppen:
zur 1. Gruppe („besprochene Welt“) gehören Präsens, Perfekt, Futur I und
Futur II; die Sprecher dieser Gruppe „besprechen“ die Welt. Zur Gruppe 2,
die die „erzählte Welt“ heißt, gehören Präteritum, Plusquamperfekt,
Konditionalis I und Konditionalis II; das günstigste Beobachtungsfeld für
dieses Tempusmodell ist die Literatursprache. Trotzdem halten viele
Sprachforscher (Baumgärtner, Wunderlich, Helbig, Buscha, Eisenberg) an
den primär zeitlichen Bedeutungen der Tempora fest, ohne sich diese
Bedeutung zu beschränken. Die temporale Charakteristik der Tempus-
bedeutungen ergibt sich mit Hilfe von drei temporalen Merkmalen:
Aktzeit, d.h. die objektiv-reale Zeit, in der sich das Geschehen
abspielt.
Sprechzeit, d.h. die Zeit der Mitteilung über das Geschehen.
Betrachtzeit, d.h. die Zeit der Betrachtung (der Perspektive) des
verbalen Aktes durch den Sprecher.
Im Satz – Bis Sonnabend habe ich meine Arbeit abgeschlossen. – ist
die Sprechzeit heute, die Betrachtzeit – Sonnabend, die Aktzeit liegt
zwischen heute und Sonnabend. Durch das zeitliche Verhältnis zwischen
Aktzeit, Sprechzeit und Betrachtzeit kann in diesem Fall die Bedeutung des
Perfekts mit resultativem Charakter beschrieben werden.
Mit Hilfe dieser drei Merkmale können die temporalen Bedeutungen
der Tempusformen im absoluten Gebrauch beschrieben werden. Der
absolute Gebrauch bedeutet, dass die Wahl des Tempus nur von der
objektiven Zeit, vom Sprechakt, der Perspektive des Sprechers, nicht aber
vom Kontext und von einem anderen zeitlichen Geschehen abhängt. Dem
absoluten Gebrauch der Tempora steht der relative gegenüber:
Er kam in Berlin an. Er besuchte mich. (absolut)
Nachdem er in Berlin angekommen war, besuchte er mich. (relativ)
In einem einfachen Satz werden die Tempora absolut gebraucht, in
einem zusammengesetzten – relativ. In zusammengesetzten Sätzen werden
verschiedene zeitliche Verhältnisse zwischen zwei oder mehreren
Geschehen hergestellt: das Geschehen eines Teilsatzes kann zeitlich mit
dem Geschehen eines anderen Teilsatzes zeitlich zusammenfallen (Als ich
ihn besuchte, war er krank.), oder die Geschehen von zwei Teilsätzen
können in verschiedenen Zeitebenen liegen, d.h. ein Geschehen kann dem
anderen vorauskommen oder ihm folgen (Nachdem ich die Schule beendet
hatte, bewarb ich mich um einen Studienplatz). Diese zeitlichen
Beziehungen nennt man Gleichzeitigkeit (beim zeitlichen Zusammenfall),
44
Vorzeitigkeit (wenn sich ein Geschehen zeitlich vor dem anderen abspielt)
und Nachzeitigkeit (wenn ein Geschehen zeitlich dem anderen folgt).
Zum Ausdruck der Gleichzeitigkeit steht in jedem Teilsatz das
gleiche Tempus:
Als der Vorgang aufging, herrschte im Zuschauerraum Stille.
Wenn es regnet, bleiben wir zu Hause.
In manchen Fällen kann die Gleichzeitigkeit durch verschiedene
Tempusformen ausgedrückt werden, besonders, wenn sich die entspre-
chenden Tempora im absoluten Gebrauch überschneiden. Das gilt vor
allem für Präsens und Futur I (Bezeichnung der Zukunft) sowie für
Präteritum und Perfekt (Bezeichnung der Vergangenheit):
Wenn er kommt, werden wir ins Kino gehen.
Es hat uns nicht gefallen, dass er seine Mutter allein ließ.
Zum Ausdruck der Vorzeitigkeit steht im Nebensatz in der Regel das
Perfekt, wenn im Hauptsatz das Präsens steht. Im Nebensatz erscheint in
der Regel das Plusquamperfekt, wenn im Hauptsatz das Präteritum
verwendet wird:
Als die Sonne aufgegangen war, standen sie auf.
Als die Sonne aufgegangen ist, stehen sie auf.
Seitdem er aus dem Krankenhaus erlassen ist, lebt er bei Kindern.
Nachdem wir die Arbeit beendet hatten, fuhren wir nach Hause.
Zuweilen kann das Präteritum als relatives Tempus zum Präsens
stehen; das Präteritum lässt sich mit dem Perfekt kombinieren:
Ich weiß nicht, ob er zu Hause war.
Ich habe das erzählt, was ich von anderen Leuten hörte.
Das Plusquamperfekt steht häufig als relatives Tempus, aber sehr
selten als absolutes. Umgekehrt erscheint das Futur II kaum in relativer
Verwendung. Wenn das Futur I in relativer Verwendung auftritt, steht es
im Allgemeinen in Beziehung zum Präsens oder Perfekt:
Nachdem er die Prüfung bestanden hat, wird er Medizin studieren.
Wenn er die Prüfung besteht, wird er Medizin studieren.
Zum Ausdruck der Vorzeitigkeit dienen auch Formen, die aus
Perf./Plusq. von haben + Part. II eines Vollverbs gebildet werden und als
„doppelte Perfektbildung“ oder „Doppelperfekt“ bzw. „Doppelplusquam-
perfekt“ bezeichnet werden:
Er hatte die Rechnung schon bezahlt gehabt, als er die Mahnung
erhalten hatte.
Der Status dieser Konstruktionen ist umstritten, es ist noch nicht
endgültig geklärt, ob sie eigenständige Tempusformen sind. In der
45
Schriftsprache finden sie Verwendung, wenn im Hauptsatz das Perfekt
oder Plusquamperfekt steht. Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt
bezeichnen das vorvergangene Geschehen:
Nachdem ich ihn schon gesehen gehabt habe, ist er wieder
verschwunden.
Nachdem ich ihn schon wieder gesehen gehabt hatte, war er wieder
verschwunden.
In der Umgangssprache kommen diese Doppelformen oft und
willkürlich als Tempusformen zur Bezeichnung von einfacher Vergangen-
heit und Vorvergangenheit vor (synonym. zu Präteritum, Perfekt, Plus-
quamperfekt):
Die Mutter besuchte ihn, aber er hat den Koffer noch nicht gepackt
gehabt.
Verläuft das Geschehen im Nebensatz nach dem Geschehen im
Hauptsatz, so werden die Tempora entweder ähnlich wie bei der
Gleichzeitigkeit oder umgekehrt wie bei der Vorzeitigkeit gebraucht:
Er blieb in München, bis er mit seinem Studium fertig war.
Er hatte sich schlafen gelegt, als Telefon klingelte.
Ich warte auf dich, bis du zurückkommst.
Sie möchte die Arbeit nicht abschließen, bevor sie alle Probleme
gelöst hat.
Neben den drei temporalen Merkmalen (Sprechzeit, Aktzeit,
Betrachtzeit) können die grammatischen Tempusformen noch zusätzliche
Merkmale haben, die zur semantischen Beschreibung dieser Zeitformen
gehören: einen Modalfaktor der Vermutung oder Annahme, einen
aktionalen Faktor (die Resultativität), einen kommunikativ-pragmatischen
Faktor (die Sprechhaltung der Umgangs-, Hoch-, Schriftsprache).

2.Semantische Beschreibung der Tempora


Präsens
Die Vielfältigkeit der Bedeutungsvarianten von Präsens kann
dadurch erklärt werden, dass das Geschehen nicht punktuell, sondern in
einer Zeitspanne betrachtet wird. Die Anzahl dieser Bedeutungsvarianten
ist verschieden: bei W.Jung – 8, bei W. Admoni – 6, der russische
Germanist V. Szerebkov findet bei Präsens 26 Bedeutungsschattierungen,
das hängt davon ab, auf welchen Kriterien die Ausgliederung beruht. G
Helbig und J. Buscha gliedern 4 Bedeutungen des Präsens, ausgehend aus
3 temporalen Merkmalen (Sprechzeit, Aktzeit, Betrachtzeit) und
46
zusätzlichen Merkmalen des Modalfaktors (Vermutung, Annahme), des
aktionalen Faktors der Resultativität und der Sprechhaltung.
1. Aktuelles Präsens
Aktz = Sprz = Betrz (alle temporalen Merkmale fallen zusammen)
Das aktuelle Präsens drückt gegenwärtige Sachverhalte aus und
enthält keinen Modalfaktor; es kann dabei eine fakultative Temporalangabe
haben:
Er sucht (gerade, in diesem Augenblick, jetzt) eine Wohnung.

2. Präsens zur Bezeichnung eines zukünftigen Geschehens oder


futurisches Präsens:
Aktz =Betrz, Aktz und Betrz nach Sprz
Diese Variante des Präsens enthält keinen Modalfaktor der
Vermutung, aber kann eine zusätzliche Angabe der Vermutung und eine
fakultative Temporalangabe (bald, morgen u.a.) bei sich haben:
In diesem Monat haben die Kinder Ferien.
Die Gäste kommen (bald) (vermutlich).
Diese Bedeutung hat das Präsens automatisch bei perfektiven
Verben, sie wird mit Hilfe der zusätzlichen Temporalbestimmung
verstärkt:
Wir treffen uns (morgen) am Bahnhof.

3. Historisches Präsens zur Bezeichnung eines vergangenen


Geschehens:
Aktz = Betrz, Betrz und Aktz vor Sprz
In dieser Variante des Präsens ist ein Modalfaktor der Vermutung
ausgeschlossen, dagegen muss die Vergangenheitsbedeutung durch eine
obligatorische Temporalangabe (gestern, neulich, im Jahre 1990 u.a.) oder
durch einen Kontext deutlich werden. Diese Variante kommt in den
Erzählungen, in den Beschreibungen der historischen Tatsachen, in der
Dichtersprache vor, um das Vergangene lebendig zu gestalten, zu
„vergegenwärtigen“. In diesem Fall ist das Präsens ein stilistisches Mittel.
1914 beginnt der Erste Weltkrieg.
Neulich treffe ich einen alten Schulkameraden.

4. Generelles oder atemporales Präsens


Sprz = Betrz, Aktz während, vor, nach Sprz und Betrz
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Dieses Präsens drückt in dieser Bedeutungsvariante allgemein
gültige Sachverhalte aus und ist an keine objektive Zeit gebunden; enthält
keinen Modalfaktor und lässt eine zusätzliche Temporalangabe nicht zu:
Die Erde bewegt sich um die Sonne.
Silber ist ein Edelmetall.

Präteritum
Laut G. Helbig und J. Buscha (2005: 132) hat das Präteritum nur
eine einzige Bedeutungsvariante – die Bezeichnung der vergangenen
Sachverhalte:
Aktz = Betrz, Betrz und Aktz vor Sprz
Das Präteritum enthält keinen Modalfaktor. Es wird sowohl in der
Umgangssprache, als auch in der Dichtersprache gebraucht, es kann sogar
als das spezifische Tempus der Erzählung bezeichnet werden. Das
Präteritum kann bei sich eine fakultative Temporalangabe (gestern, im
vorigen Jahr, neulich u.a.) haben, die an der Vergangenheitsbedeutung
nichts ändert:
Er arbeitete (gestern) den ganzen Tag.
Er kam (vor drei Tagen) aus Ausland.
Beim Präteritum können die Adverbialbestimmungen der
Gegenwart oder sogar der Zukunft stehen, die aber auf die Vergangenheit
gerichtet sind:
Schiller wurde 1759 in Marbach geboren. Jetzt war alles nicht
mehr so arg.
Heute sollte es sich entscheiden.
Bald darauf kam mein Bruder.
Das Präteritum kann in einigen erstarrten Formeln („Raffsätzen“)
statt des Präsens gebraucht werden, wenn gegenwärtige Sachverhalte
gemeint sind, und der Sprecher sich an einer vorher bestehenden Situation
orientiert. In diesen Fällen ist das Präteritum durch das Präsens ersetzbar:
Wie war doch ihr Name? (Wie ist ihr Name?)
Wer war hier noch ohne Fahrschein? (Wer ist hier noch ohne
Fahrschein?)
Herr Ober, ich bekam noch Kompott. (Ich bekomme noch Kompott.)
Das Präteritum ist oft dem Perfekt identisch, sie sind darum
austauschbar:
Er arbeitete den ganzen Tag.
Er hat den ganzen Tag gearbeitet.
48
Zwischen beiden Tempora sind nur Gebrauchsunterschiede auf
folgenden Ebenen festzustellen:
1. Aus phonetischen Gründen wird das Perfekt bevorzugt, wenn die
Präteritalformen kompiziert zum Aussprechen sind:
du hast geschossen (statt: du schossest)
du hast gebadet (statt: du badetest)
ihr habt gebadet (statt: ihr badetet)
2. Aus Gründen der Verträglichkeit der lexikalischen Bedeutung der
Verben mit der Tempusbedeutung wird bei einigen Verben (angehen,
gebrechen, gereichen, münden, sprießen, verlauten u.a.) ausschließlich das
Präteritum gebraucht:
Er stammte aus Berlin.
3. Es wird aus semantischen Gründen das Perfekt bevorzugt, wenn
im Satz solche Temporalangeben wie: schon, schon oft, schon immer, noch
nie stehen:
Er hat das Buch schon gelesen. (statt: Er las schon das Buch.)
Das Kind hat schon oft die Flugzeuge gesehen. (statt: Das Kind sah
schon oft die Flugzeuge.)
4. Aus morphosyntaktischen Gründen werden die Hilfsverben sein,
haben und auch Modalverben vorzugsweise im Präteritum gebraucht:
Peter wollte/sollte/ musste gestern abfahren. (statt: Peter hat
gestern abfahren wollen/sollen/müssen.)
5. Aus dialektischen Gründen wird im Süden Deutschlands das
Perfekt und im Norden das Präteritum bevorzugt.
6. Aus stilistischen Gründen wird bei seltenen starken Verben das
Präteritum oft vermieden:
Man hat die Verletzten geborgen. (statt: Man barg die Verletzten).
Umgekehrt wird manchmal das Präteritum bevorzugt, wenn der
Sprecher besonders „gepflegt“ sprechen möchte („Ästeten-Präteritum“).
7. Aus der soziolinguistischen Sicht wird in der Umgangssprache das
Präteritum seltener verwendet; das hängt mit der sprachgeschichtlichen
Tendenz zusammen, dass Perfekt aufgrund seines analytischen Charakters
immer mehr gebraucht wird.
8. Das Präteritum wird vorwiegend als Erzähltempus in der
schöngeistigen Literatur gebraucht, während das Perfekt in Gesprächen,
Erörterungen verwendet wird.
49
Perfekt
Das Perfekt hat 4 Bedeutungsvarianten:
1. Perfekt zur Bezeichnung eines vergangenen Geschehens
(Vergangenheitsperfekt):
Aktz = Betrz, Betrz und Aktz vor Sprz
Diese Bedeutungsvariante des Perfekts enthält keinen Modal-
faktorund kann eine Temporalangabe (gestern, im vorigen Jahr, neulich,
1914 u.a.) bei sich haben:
Wir haben (gestern) die Stadt besichtigt.
Sie sind (neulich) im Gebirge viel gewandert.
Zum Ausdruck der Vermutung muss im Satz ein zusätzliches
lexikalisches Element (ein Modalwort) erscheinen:
Die Gäste haben vermutlich die Stadt besichtigt.
Diese Variante des Perfekts ist aufgrund der gleichen zeitlichen
Charakteristik austauschbar:
Die Gäste haben die Stadt besichtigt. = Die Gäste besichtigten die
Stadt.
2. Perfekt zur Bezeichnung eines vergangenen Geschehens mit
resultativem Charakter (Resultatsperfekt):
Betrz = Sprz, Aktz vor Betrz und Sprz
Diese Bedeutungsvariante drückt vergangene Sachverhalte aus,
dessen Resultat für die Kommunikation viel wichtiger ist, als die Aktzeit.
Ein Modalfaktor ist nicht enthalten, eine Temporalangabe kann fakultativ
hinzugefügt werden:
Peter ist (vor einigen Stunden) eingeschlafen. (Peter schläft jetzt)
Diese Bedeutungsvariante des Perfekts ist nicht durch Präteritum
ersetzbar.
3. Perfekt zur Bezeichnung eines zukünftigen Geschehens
(futurisches Perfekt):
Aktz vor Betrz, Betrz nach Sprz, Aktz nach Sprz
Diese Bedeutungsvariante drückt zukünftige Sachverhalte, die man
sich als abgeschlossen vorstellt; enthält keinen Modalfaktor und ist an
obligatorische Adverbialangabe (morgen, bald, bis Sonnabend u.a.)
gebunden:
Bis zum nächsten Jahr hat er seine Dissertation abgeschlossen.
Bald hat er das geschafft.
4. Atemporales oder zeitloses Perfekt:
Aktz vor, nach und während Sprz, Sprz = Betrz
50
In dieser Bedeutungsvariante drückt das Perfekt allgemeine
Sachverhalte aus, ist an objektive Zeit nicht gebunden und kann deswegen
durch atemporales Präsens ersetzt werden:
Ein Unglück ist bald geschehen. = Ein Unglück geschieht bald.

Plusquamperfekt
Das Plusquamperfekt erscheint in zwei Bedeutungsvarianten:
1. Zur Bezeichnung eines vorvergangenen Geschehens:
Aktz vor Sprz, Aktz vor Betrz, Betrz vor Sprz
Die dreiteilige Struktur dieser Bedeutungsvariante zeigt den
relativen Charakter des Gebrauchs. Das Plusquamperfekt ist in dieser
Variante durch Perfekt nicht ersetzbar und muss eine Temporalangabe bei
sich haben:
Bei meiner Ankunft hatte er die Arbeit schon beendet. (=Als ich
ankam, hatte er die Arbeit schon beendet.)
Gestern hatte er das Buch schon wieder zurückgegeben. (=Als ich
ihn gestern traf, hatte er das Buch zurückgegeben.)

2. Zur Bezeichnung eines vergangenen Geschehens mit resultativen


Charakter.
Aktz vor Sprz, Aktz vor Betrz, Betrz = Sprz
In dieser Variante ist das Plusquamperfekt durch das resultative
Perfekt zu ersetzen, enthält keinen Modalfaktor und kann eine fakultative
Temporalangabe bei sich haben:
Er hatte (gestern) seine Mütze verloren. (= Er hat verloren.)

Futur I
Das Futur I hat zwei Bedeutungsvarianten:
1. Futur I zur Bezeichnung eines vermuteten Geschehens in der
Gegenwart:
Aktz = Betrz = Sprz
Diese Bedeutungsvariante enthält einen Modalfaktor der Vermu-
tung, eine zusätzliche Temporalangabe (jetzt, in diesem Augenblick u.a.)
kann fakultativ auftreten:
Er wird (jetzt) im Büro sein. = Er ist (jetzt) wohl im Büro.
Diese Bedeutungsvariante ist dem aktuellen Präsens synonymisch,
aber beim Präsens fehlt der Modalfaktor. Um ein vermutetes Geschehen
durch das Präsens auszudrücken, muss es ein Modalwort bei sich haben:
51
Wir werden das Resultat (bald) erfahren. = Wir erfahren wohl
(bald) das Resultat.
Bei perfektiven Verben bezeichnet Futur I nicht ein gegenwärtiges,
sondern ein zukünftiges Geschehen:
Wir werden uns (wohl) am Bahnhof treffen.
Er wird (wohl) einen Breif bekommen.

2. Futur I zur Bezeichnung eines zukünftigen Geschehens:


Betrz = Aktz, Betrz und Aktz nach Sprz
In dieser Variante kann das Futur I mit einer Temporalangabe
verbunden sein:
Wir werden (bald) das Resultat erfahren. = Wir erfahren bald das
Resultat.
Diese Bedeutungsvariante verfügt über 2 Nebenvarianten, die ihre
Bedeutung aus dem Kontext erhalten, unterschiedliche Sprechhaltungen
bezeichnen und starken Distributionsbeschränkungen unterliegen:
1) Die erste Nebenvariante kann neben der Zukunft noch eine
Absicht ausdrücken:
Wir werden uns kurz fassen. = Es ist unsere Absicht, kurz zu fassen.
2) Die zweite Nebenvariante kann neben der Zukunft einen
ausdrücklichen Befehl ausdrücken:
Du wirst jetzt schlafen gehen. = Geh jetzt schlafen!
Diese Variante kommt ausschließlich in der 2. Person vor, sie kann
in den Imperativ transformiert werden.

Futur II
Das Futur II hat 3 Bedeutungsvarianten:
1. Futur II zur Bezeichnung eines vermuteten Geschehens in der
Vergangenheit („Vergangenheits-Futur II“):
Betrz = Aktz, Betrz und Aktz vor Sprz
Diese Bedeutungsvariante enthält einen Modalfaktor der Vermu-
tung, eine zusätzliche Temporalangabe (gestern, vor einigen Tagen u.a.)
kann fakultativ auftreten:
Er wird (gestern) die Stadt besichtigt haben. = Er hat wohl
(gestern) die Stadt besichtigt.
Seine Tochter wird (in den vergangenen Jahren) in Berlin gewohnt
haben.= Seine Tochter hat wohl (in den vergangenen Jahren) in Berlin
gewohnt.
52
Diese Bedeutungsvariante ist dem Vergangenheitsperfekt synony-
misch, aber Perfekt muss obligatorisch ein lexikalisch eingefügtes Element
(sicher, wohl, gewiss, vielleicht, vermutlich u.a.) haben, das die Vermutung
ausdrückt. Da das Vergangenheitsperfekt mit Präteritum in der Zeit-
charakteristik übereinstimmt, kann das Futur II auch durch Präteritum
ersetzt werden, aber man muss den Modalfaktor, verschiedene
kommunikative, phonetische und morphosyntaktische Bedingungen in
Acht nehmen:
Er wird (gestern) (wohl) die Stadt besichtigt haben.= Er besichtigte
(gestern) wohl die Stadt.

2. Futur II zur Bezeichnung eines vermuteten Geschehens in der


Vergangenheit mit resultativem Charakter („resultatives Futur II“):
Betrz = Sprz, Aktz vor Betrz und Sprz
Diese Bedeutungsvariante enthält den Modalfaktor wie die erste
Variante, aber unterscheidet sich davon durch den relevanten Folgezustand.
Darum ist diese Bedeutungsvariante auf transformative Verben beschränkt
und kann nur durch resultatives Perfekt (mit Modalwort) ausgetauscht
werden:
Der Reisende wird sich (in der vergangenen Woche) (vermutlich)
einen neuen Koffer gekauft haben. = Der Reisende hat sich (in der
vergangenen Woche) vermutlich einen neuen Koffer gekauft.

3. Futur II zur Bezeichnung eines zukünftigen Geschehens mit


resultativem Charakter („Zukunfts-Futur II“):
Aktz vor Betrz, Betrz nach Sprz, Aktz nach Sprz
Diese Bedeutungsvariante kann (auch ohne zusätzliches lexika-
lisches Element) einen Modalfaktor der Vermutung enthalten und ist an die
obligatorische Temporalbestimmung (morgen, bald, bis Sonnabend u.a.)
gebunden:
Morgen wird er die Arbeit beendet haben.
Bis Sonntag wird er sich das Buch gekauft haben.
Bald wird er sich es geschafft haben.
Diese Bedeutungsvariante ist dem futurischen Perfekt synonymisch,
unterscheidet sich von dieser durch den fakultativ enthaltenen Modalfaktor:
Morgen wird er die Arbeit (vermutlich) beendet haben.= Morgen hat
er die Arbeit vermutlich beendet.
Ungeachtet der verschiedenen temporalen Bedeutungen unter-
scheiden sich drei Varianten des Futurs II voneinander dadurch, dass die
53
zusätzliche Temporalbestimmung mit dem Bezug auf die Zukunft bei
„Zukunfts-Futur II“ nicht fakultativ, sondern obligatorisch auftritt:
Er wird die Arbeit (gestern/in der vorigen Woche) beendet haben.
(Vergangenheit + Resultat)
Er wird die Arbeit morgen/in der nächsten Woche beendet haben.
(Zukunft + Resultat)

4. Synonymie der Tempora


Da die Tempusformen keine Indikatoren für die objektive Zeit sind
und jede von ihnen nicht nur mehrdeutig ist, sondern auch modale Inhalte
enthalten kann, ist die Frage der Synonymie sehr wichtig. Die
Bedeutungsvarianten der Tempora weisen synonymische Beziehungen
zueinander auf. Die Wahl der Tempora aus der synonymischen Reihe
erfolgt in der Rede jedoch nicht willkürlich, sondern nach bestimmten
sprachlichen Normen, weil die temporalen Synonyme nicht immer frei
austauschbar sind und ihr Gebrauch von vielen Faktoren abhängig ist.
Wenn ein vermutetes Geschehen in der Gegenwart bezeichnet wird,
kann es durch das aktuelle Präsens oder das modale Futur I ausgedrückt
werden. Diese Bedeutungsvariante des Futur I enthält einen Modalfaktor
der Vermutung, eine zusätzliche Temporalangabe (jetzt, in diesem Augen-
blick u.a.) kann fakultativ auftreten. Wenn das Präsens eine vermutete
Gegenwart bezeichnet, ist das Modalwort obligatorisch:
Wir werden das Resultat (bald) erfahren. = Wir erfahren wohl
(bald) das Resultat.
Zur Bezeichnung eines zukünftigen Geschehens werden das
futurische Präsens oder das Futur I gebraucht. Die perfektiven Verben
sind im futurischen Präsens typischer als im Futur I, weil das Präsens von
diesen Verben automatisch die zukünftige Bedeutung erhält. Die durativen
Verben weisen keine Neigung zu einem oder anderen Tempus auf. Damit
aber das Präsens der durativen Verben die zukünftige Bedeutung erhält,
muss es eine Temporalbestimmung bei sich haben:
Wir werden (bald) ins Theater gehen. = Wir gehen bald ins Theater.
Die Präsensformen verweisen eine starke Konkurrenz für die
Bedeutungsvarianten des Futur I. Nach Auszählungen L. Weisgerbers
(1962: 323) verwendet man im Deutschen meistens Präsensformen, wenn
man Zukünftiges ausdrücken will: „unter zehn Fällen, in denen es von
Zukünftigem die Rede ist, wird Futur I einmal gebraucht.“
54
Viel öfter (80,8% des Gebrauchs vom Futur I) wird Futur I zur
Bezeichnung einer Vermutung, Zweifels in der Gegenwart gebraucht
(Weinrich 1984: 56).
Das historische Präsens ist ein Tempus der Erzählung oder
Beschreibung und hat somit nur ein Synonym, und zwar das Präteritum.
Aber diese Bedeutungsvariante vom Präsens muss durch eine obligato-
rische Tempusangabe (gestern, neulich, 1914 u.a.) oder durch einen
Kontext deutlich werden. Das historische Präsens dient als ein stilistisches
Mittel der „Vergegenwärtigung“ der historischen Tatsachen in Erzäh-
lungen, Beschreibungen, Dichtungen, aber es kommt im wissenschaft-
lichen Bericht und in der Erörterung kaum vor.
Das generelle Präsens drückt allgemein gültige Sachverhalte aus,
dieselben Bedeutungsvarianten haben Perfekt und Futur I. Perfekt und
Futur I können in dieser Bedeutung durch Präsens ersetzt werden, aber
generelles Präsens lässt sich durch Perfekt und Futur I nicht austauschen:
Ein Unglück ist bald geschehen. = Ein Unglück geschieht bald.
Ein aufrechter Mensch wird das niemals zur Lüge nehmen. =
Ein aufrechter Mensch nimmt das niemals zur Lüge.
Silber ist ein Edelmetall.
*Silber ist ein Edelmetall gewesen.
*Silber wird ein Edelmetall sein.
Zwar sind das Vergangenheitsperfekt und das Präteritum aus der
Sicht der grammatischen Semantik synonymisch, doch in der Rede sind sie
nicht immer austauschbar. Hier spielen semantische, grammatische,
phonetische, pragmatisch-kommunikative Faktoren ihre Rolle. Der seman-
tische Faktor spielt eine Rolle in dem Fall, wenn im Satz Temporalangaben
wie schon, noch nie, schon oft, schon immer stehen. Die semantische
Verträglichkeit dieser Temporalangaben beeinflusst den vorwiegenden
Gebrauch des Perfekts und schränkt den Gebrauch des Präteritums ein:
Er hat den Aufsatz schon geschrieben.(*Er schrieb schon den
Aufsatz.)
Ich bin noch nie nach Süden gefahren. (*Ich fuhr noch nie nach
Süden.)
Er hat schon immer bei Siemens gearbeitet. (*Er arbeitete schon
immer bei Siemens.)
In Temporalsätzen mit Konjunktionen „der Gleichzeitigkeit“ wie als,
während wird Präteritum statt Perfekt verwendet, besonders in der
Umgangssprache:
55
Es hat ununterbrochen geregnet, als wir im Walde spazieren gingen.
(*als wir im Walde spazieren gegangen sind.)
Einige Verben in der übertragenen Bedeutung sind aus semantischen
Gründen nur in der Form des Präteritums gebräuchlich, sonst kann die
Assoziation mit der direkten Bedeutung entstehen:
Die Fenster gingen auf die Straße.
Der Erzähler fuhr am nächsten Tag fort.
Ihre Augen schwammen in Tränen.
Der Stein heulte durch die Luft.
Der grammatische Faktor schränkt den Gebrauch der Hilfsverben
haben, sein und der Modalverben in der Form des Perfekts ein:
Ich wollte es gestern machen.
Das konnte er auch nicht wissen.
Gestern war ich krank.
Das Perfekt wird bevorzugt, wenn das Präteritum aus phonetischen
Gründen schwer auszusprechen ist:
Du hast (ihr habt) gebadet. (statt: Du badetest. Ihr badetet).
Die beiden Tempora unterscheiden sich auch stilistisch. Das Perfekt
wird meistens in kurzen Mitteilungen, in Berichten, in Dialogen verwendet,
während das Präteritum als ein Tempus der Erzählung und der
Beschreibung gilt.
Das resultative Perfekt mit der zusätzlichen Bedeutung der
Vermutung hat als temporales Synonym das Futur II in seiner 2.
Bedeutung („resultatives Futur II“). Zur Bezeichnung eines solchen
Geschehens muss das Perfekt modale Wörter der Vermutung bei sich
(sicher, wohl, gewiss, vielleicht, vermutlich u.a.) haben:
Ich habe das vielleicht für dich erledigt. = Ich werde das für
dich erledigt haben.
Das futurische Perfekt ist dem Futur II synonymisch. In der Rede
wird aber die zweiteilige Struktur des Perfekts der dreiteiligen des Futur II
bevorzugt, außerdem hat sich das künstlich gebildete Futur II im
gesprochenen Deutsch nicht vollständig eingebürgert:
Du hast deine Prüfung bald bestanden. = Du wirst deine Prüfung
bestanden haben.
Das Plusquamperfekt hat keine temporalen Synonyme. Es ist unter
allen Tempora das einzige, das im isolierten einfachen Satz nur unter
besonderen Umständen erscheinen kann:
Ich hatte es schließlich vergessen. Ich hatte die Mütze gestern
bereits verloren.
56
In allen einfachen Sätzen steht das Vorkommen eines
Plusquamperfekts in Beziehung zu einem Kontext. Lediglich in
norddeutschen Mundarten wird dieses Tempus alternativ zum Perfekt oder
Präteritum gebraucht.

5. Aufgaben

1. Welche Kategorien sind für das Verb primär und warum?


2. Welche Tempusformen gibt es im Deutschen?
3. Bezeichnen die Begriffe „Tempus“ und „Temporalität“ dasselbe?
4. Durch welche Mittel können zeitliche Verhältnisse zum Ausdruck
kommen? Führen Sie die Beispiele an!
5. Welche Inhalte (außer den zeitlichen) können den grammatischen
Formen noch eigen sein?
6. Wie sieht das Tempussystem laut H. Weinrich aus und in welche
Tempus-Gruppen teilt der Sprachforscher das Tempussystem?
7. Welche temporalen Merkmale lassen die Tempusbedeutungen
charakterisieren?
8. Wann wird der Tempus absolut und in welchem Fall relativ gebraucht?
9. Analysieren sie den Tempusgebrauch:
Als ich ihn anredete, erschrak er.
Ich habe mich hier einsam gefühlt.
Es hat uns nicht gefallen, dass er seine Mutter allein ließ.
Ich habe das erzählt, was ich von anderen Leuten hörte.
10. Wie werden Doppelformen vom Perfekt und Plusquamperfekt gebildet
und in welchem Sprachstil benutzt man sie?
11. a) Stellen Sie in den folgenden Sätzen fest, auf welche Zeit des
Geschehens sich das Präsens bezieht.
b)Lassen Sie in den folgenden Sätzen die lexikalischen Tempus-
angaben weg und prüfen Sie, ob und in welcher Weise dadurch die
Zeit des Geschehens verändert ist.
c) In welchen Fällen ist die lexikalische Tempusangabe obligatorisch,
falls im Satz die Zeit des Geschehens nicht verändert werden soll?
Ich besuche dich heute Nachmittag.
Plötzlich sehe ich meinen Freund vor mir stehen.
Wir treffen uns heute in der Vorlesung.
Er sucht seine Vorlesungsnachschriften bestimmt in den nächsten Tagen.
Wir beobachten das Experiment seit Langem sehr genau.
57
In der nächsten Woche haben wir eine Besprechung zu dem neuen
Entwurf.
Das Telefon klingelt gerade.
12. Ersetzen Sie in den folgenden Sätzen, wenn es möglich ist, das Präsens
durch ein anderes Tempus, ohne dadurch die Zeit des Geschehens zu
verändern. Erklären Sie im negativen Fall, warum das nicht möglich ist:
Bulgarien liegt im Südosten Europas auf der Balkanhalbinsel.
Neulich treffe ich meinen Freund ganz zufällig in der Stadt.
Wir treffen uns morgen pünktlich auf dem Bahnhof.
Heute schreibt er einen Brief.
Jetzt schreibt er einen Brief.
Seit mehreren Tagen sucht er das verloren gegangene Buch.
Bis zum Wochenende kauft er das neu erschienene Buch.
13. Ersetzen Sie in den folgenden Sätzen das Perfekt ohne Veränderung der
objektiven Zeit durch das Präteritum und / oder durch das Futur II:
In der nächsten Woche hat er sich wieder erholt.
Der Student hat seine Abschlussprüfung nicht bestanden.
Bald haben wir den Winter überstanden.
Die Leistungen des Prüflings haben die Kommission heute überzeugt.
Der Zug ist eingefahren.
In einigen Tagen hat er seine Magisterarbeit abgeschlossen.
Vor zwei Tagen hat er seine Magisterarbeit abgeschlossen.
Er hat seine Mutter oft besucht.
Bis zur nächsten Woche hat er sich das Buch gekauft.
14. Lassen Sie in den folgenden Sätzen die lexikalische Temporalangabe
weg und stellen Sie dabei fest, ob die Zeit des Geschehens gleich bleibt
(dann handelt es sich um Vergangenheit oder resultative Vergangenheit)
oder ob sie sich verändert (dann handelt es sich um Zukunft):
Jetzt ist der Zug im Hauptbahnhof eingefahren.
In der vorigen Woche ist er mit den Studenten auf einer Exkursion
gewesen.
In der nächsten Woche hat er sich wieder erholt.
Bis zum nächsten Jahr haben wir diesen Forschungsauftrag
abgeschlossen.
Vor einigen Wochen ist er zu einer Konferenz gewesen.
In der nächsten Woche sind die Beeren gereift.
Wegen der Hitze sind die Beeren dieses Jahr in wenigen Wochen gereift.
58
15. Fügen Sie in den folgenden Sätzen mit Futur I Temporalbestimmungen
ein, sodass sie sich einmal auf gegenwärtiges, das andere Mal auf
zukünftiges Geschehen bezieht:
Muster: Er wird morgen operiert werden. (=Zukunft)
Er wird wohl gerade operiert werden. (=Gegenwart)
Der Junge wird baden gehen.
Der Abiturient wird sich auf die Prüfung vorbereiten.
Sie wird in Berlin sein.
Der Schriftsteller wird an seinem neuen Roman arbeiten.
Der Lektor wird in München übernachten.
Der Arzt wird den Patienten selbst operieren.
16. Ersetzen Sie in den folgenden Fällen das Futur I durch das Präsens
ohne Bedeutungsveränderung und achten Sie dabei auf den richtigen
Gebrauch der Modalwörter:
Er wird jetzt Hunger haben.
Der Abgeordnete wird das Problem vielleicht in der nächsten Woche in
Berlin klären.
Der Abgeordnete wird die Fragen jetzt in Leipzig besprechen.
Er wird jetzt schon im Ausland sein.
Der Patient wird den nächsten Tag nicht mehr überleben.
In der nächsten Woche werden die Schüler wohl das Resultat der Prüfung
erfahren.
Der Lehrer wird krank sein.
Das Wetter wird wahrscheinlich nicht lange so schön bleiben.
Er wird gewiss jetzt in seinem Büro arbeiten.
17. Lassen Sie in folgenden Sätzen mit Futur II die lexikalische
Temporalangabe weg und stellen Sie dabei fest, ob die Geschehenszeit
gleich bleibt oder ob sie sich verändert, bestimmen Sie dabei die
Geschehenszeit.
Bis zum Sonntag wird er mir das Buch zurückgegeben haben.
Gestern wird die Patientin operiert worden sein.
Der Student wird im vorigen Monat seine Jahresarbeit abgeschlossen
haben.
Der Student wird bis zum Sommer seine Magisterarbeit erfolgreich
abgeschlossen haben.
Im Sommer wird das Ehepaar die neue Wohnung bezogen haben.
Die letzten zwei Jahre wird er an seinem Bungalow gebaut haben.
59
18. Ersetzen Sie in folgenden Sätzen das Futur II durch das Perfekt ohne
Bedeutungsveränderung und achten Sie dabei auf den richtigen Gebrauch
der Modalwörter:
Sie wird in der vorigen Woche auf Dienstreise gewesen sein.
Bis zum nächsten Sommer wird er wohl längst operiert worden sein.
Der Uhrmacher wird diese Uhr schon repariert haben.
Bis morgen wird der Schüler den Aufsatz abgegeben haben.
Er wird die Probleme längst geklärt haben.
In der nächsten Woche wird er die Probleme längst geklärt haben.
Gestern wird er in Dresen gewesen sein.
19. Fügen Sie in den folgenden Sätzen mit Perfekt, Futur I, Futur II eine
mögliche lexikalische Temporalbestimmung ein und stellen Sie auf diese
Weise fest, auf welche Zeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) oder
Zeiten sich die Sätze beziehen oder beziehen können:
Er hat sich den Film angesehen.
Das Kind wird wohl Hunger haben.
Er wird wohl nach Deutschland fahren.
Der Mitarbeiter wird seinen Fehler korrigiert haben.
Das Gebäude wird schon wieder Schäden aufzuweisen haben.
Das Kind wird schlafen.
Der Professor hat die Diplomarbeiten gesehen.

6. Literatur
1. Admoni W. Der deutsche Sprachbau. – Moskau, 1986.
2. Bierwisch M. Grammatik des deutschen Verbs. 2. Aufl. – Berlin: Akademie-
Verlag, 1965.
3. Deutsche Sprache. Kleine Enzyklopädie. // Hrsg. W.Fleischer, G.Helbig,
G.Lerchner. – Frankfurt am Main: Peter Lang, 2001.
4. Die Grammatik Duden Bd. 4. 7. Aufl. – Mannheim: Brockhaus, 2005.
5. Eisenberg P. Grundriss einer deutschen Grammatik. – Stuttgart, 2001.
6. Engel U. Deutsche Grammatik. – München: Iudicum, 2004.
7. Flämig W. Grammatik des Deutschen. – Berlin: Akademie Verlag, 1991.
8. Helbig G., Buscha J. Deutsche Grammatik. – Berlin, 2004.
9. Jung W. Grammatik der deutschen Sprache. – Leipzig: VEB Bibliographisches
Institut, 1980.
10. Radtke P. Die Kategorien des deutschen Verbs. – Tübingen: Narr, 1998.
11. Rödel M. Doppelte Perfektbildungen und die Organisation von Tempus im
Deutschen. – Tübingen: Stauffenburg, 2007.
12. Weinrich H. Tempus. Besprochene und erzählte Welt. – Stuttgart, 1985.
60
Lerneinheit 6. Das Verb: Genus, Modus, Person und Zahl

1. Kategorie des Genus


2. Kategorie des Modus
3. Kategorien der Person und der Zahl
4. Aufgaben
5. Literatur

1. Kategorie des Genus (Diathesen, Handlungsrichtungen)


Als Genera verbi (lat., Singular: Genus verbi, griech. Diathese =
Geschlecht des Verbs, Handlungsrichtung, Handlungsart) werden
zunächst Aktiv und Passiv unterschieden, mit denen das Verhältnis des
Subjekts zum Geschehen ausgedrückt wird. G. Helbig und J. Buscha
(2004: 143) unterscheiden 3 Genera beim Verb: Aktiv, Vorgangspassiv
(oder werden-Passiv) und Zustandspassiv (oder sein-Passiv). Laut W.
Schmidt macht die grammatische Kategorie des Genus möglich, das
Verhältnis des vom Verb bezeichneten Ablaufs zum Subjekt auf
verschiedene Weise auszudrücken: beim Aktiv fungiert das gramma-
tische Subjekt als Geschehensträger, beim Passiv wird das Subjekt zum
Zielpunkt eines Geschehens. Aktiv und Passiv bezeichnen den gleichen
Sachverhalt in der objektiven Realität, aber unterscheiden sich durch
verschiedene Perspektivierung dieses Sachverhalts, durch eine
verschiedene Blickrichtung auf das gleiche Geschehen:
Der Lehrer lobt den Schüler.
Der Schüler wird vom Lehrer gelobt.
Das Aktiv lässt das Geschehen als agensorientiert (agenszu-
gewandt) auf der semantischen Ebene und Passiv – als nicht-
agensorientiert (agensabgewandt) erscheinen. Auf der pragmatischen
Ebene wird das Passiv dann verwendet, wenn der Sprecher das Agens
nicht nennen will oder kann. Wenn das Agens im Passivsatz genannt
wird, erscheint es oft in rhematischer Position und wird kommunikativ
als besonders wichtig empfunden.
Im heutigen Deutsch konkurrieren drei Genusarten miteinander:
das Aktiv, das Vorgangspassiv (werden-Passiv) und das Zustandspassiv
(sein-Passiv). In der Schriftsprache sind Aktiv und Passiv sehr ungleich
verteilt: „auf das Aktiv fallen im Durchschnitt etwa 93%, auf das Passiv
etwa 7% (Vorgangspassiv macht ca. 5%, Zustandspassiv ca. 2%)“
(Duden-Grammatik 2005: 176). Solche Zahlenangaben haben einen
relativen Wert, weil dabei Funktionalstile beachtet sein müssen (das
61
Passiv wird stark im wissenschaftlichen Stil gebraucht). Eichler/Bün-
ting nennen in ihrer Grammatik (1976: 78) drei Merkmale, die drei
Genusarten voneinander unterscheiden lassen:
1. Täterzugewandtheit bzw. Täterabgewandtheit;
2. Orientierung auf das Geschehen, auf den Vorgang;
3. Orientierung am Zustand (Nicht-Orientierung im Hinblick auf
das Geschehen).
Also, das Aktiv ist immer: täterzugewandt, vorgangsorientiert; der
Täter muss genannt werden.
Das Vorgangspassiv ist: täterabgewandt, vorgangsorientiert; der
Täter kann genannt werden.
Das Zustandspassiv ist: täterabgewandt und nicht vorgangs-
orientiert; der Täter darf nicht genannt werden.
Aktiv und Vorgangspassiv sind miteinander verbunden: der Täter
(das Agens), d.h. das Subjekt des aktiven Satzes bleibt im Passivsatz
logisches Subjekt (aber wird zum grammatischen Objekt):
Er (grammatisches und logisches Subjekt) trifft das Ziel
(grammatisches und logisches Objekt). > Das Ziel (grammatisches
Subjekt, logisches Objekt) wird von ihm (logisches Subjekt,
grammatisches Objekt) getroffen.
Es werden vier Haupttypen des Vorgangspassivs unterschieden:
1. Das Vorgangspassiv bei transitiven Verben, das zwei-, drei-
oder viergliedrig sein kann („persönliches Passiv“). Die viergliedrige
Passivkonstruktion enthält außer der Passivform des Verbs noch ein
substituierbares syntaktisches Subjekt, ein durch Präposition ange-
schlossenes Agens und einen weiteren Kasus (Dativ, Genitiv,
Präpositionalkasus):
Der Rechner wird dem Schüler von dem Lehrer für gute
Leistungen geschenkt.
Das dreigliedrige Passiv nennt die am Geschehen beteiligte
Person (den beteiligten Gegenstand), die/der in diesem Fall logisches
Subjekt, aber grammatisches Objekt ist und zeigt, worauf das Ge-
schehen gerichtet ist (logisches Objekt, aber grammatisches Subjekt):
Der Rechner wird von dem Lehrer geschenkt.
Beim zweigliedrigen Passiv fehlt das grammatische Objekt (das
logische Subjekt), welches auch Träger des Geschehens ist, und es wird
nur hervorgehoben, mit wem (womit) etwas passiert. Als Synonym
dieser Passivkonstruktion gilt nur der unbestimmt-persönliche Satz mit
dem Pronomen man als Subjekt:
62
Die Wohnung ist gemietet worden. = Man hat die Wohnung
gemietet.
2. Das Vorgangspassiv bei intransitiven multivalenten Verben
(unpersönliches Passiv), das subjektlos ist und zwei-, dreigliedrig sein
kann:
Wir helfen dem Lehrer. > Dem Lehrer wird (von uns) geholfen.
Wir sorgen für die Kinder.>Für die Kinder wird (von uns) gesorgt.
Bei diesem Typ müssen im Aktivsatz mindestens 2 Aktanten sein,
von denen der zweite kein Akkusativobjekt ist. Das obligatorische
Subjekt des Aktivsatzes (Agens) wird zum Präpositionalobjekt.
3. Das zweigliedrige Vorgangspassiv bei monovalenten
intransitiven Verben mit bestimmt-persönlichen Agens:
Die Zuschauer klatschten. > Von den Zuschauern wurde
geklatscht.
Bei diesem Typ tritt das Agens (als Subjekt des Aktivsatzes) als
obligatorische Präpositionalgruppe auf, wenn das Subjekt des
aktivischen Satzes bestimmt- oder unbestimmt-persönlich ist.
4. Das eingliedrige Vorgangspassiv bei monovalenten intransi-
tiven Verben mit unbestimmt-persönlichem Agens:
Man tanzte. > Es wurde getanzt.
Das eingliedrige Passiv (auch unpersönlich, oder subjektlos
genannt) schaltet das grammatische und logische Subjekt und das gram-
matische und logische Objekt aus, denn sie sind nicht von Bedeutung,
und stellt das Geschehen selbst in den Mittelpunkt der Aussage:
Es wird gelesen..
Von allen Typen des Vorgangspassivs kann ein formengleiches
Passiv gebildet werden, das als Aufforderung an die erste Person
verstanden wird:
Jetzt liest du/ lest ihr (endlich) ein Buch!>Jetzt wird (endlich) das
Buch gelesen!
Jetzt schläfst du/ schlaft ihr (endlich)!>Jetzt wird (endlich)
geschlafen!
Diese Formen sind beschränkt auf das Präsens mit Zukunfts-
bedeutung, haben oft eine Adverbialbestimmung oder Partikel bei sich
und sind kommunikativ-pragmatisch als Aufforderung markiert.
Nicht jeder aktivische Satz lässt die Bildung des Vorgangspassivs
zu. Ein Vorgangspassiv kann gebildet werden, wenn das Verb ein
Tätigkeitsverb ist:
63
Der Sohn hilft dem Vater. – Dem Vater wird (von dem Sohn)
geholfen.
Die Bildung des Vorgangspassivs ist nicht möglich:
1. von Modalverben:
Der Arzt will sie besuchen.
*Sie wird (von dem Arzt) besuchen gewollt.
2. von den Wahrnehmungsverben (hören, sehen, spüren, fühlen):
Er sieht die Mutter kommen.
*Die Mutter wird (von ihm) kommen gesehen.
3. von den Reflexivverben:
Er wäscht sich.
*Er wird von sich gewaschen.
4. von den Mittelverben (pseudotransitiv) (bekommen, haben,
besitzen, erhalten, kosten, enthalten, gelten, umfassen, wiegen, es gibt):
Er bekam gestern den Brief.
*Der Brief wurde (von ihm) bekommen.
5. von den Verben, deren Akkusativ-Objekt einen Körperteil oder
ein Kleidungsstück des Subjektes bezeichnet:
Er schüttelte den Kopf. Sie rümpfte die Nase. Sie zog die
Handschuhe aus.
Diese Verben können Passiv ohne Nennung des Handelnden
(Agens) bilden:
Die Hände werden gewaschen.
Die Handschuhe wurden ausgezogen.
Das Zustandspassiv (sein-Passiv) wird in jüngeren Auffassungen
als eigenes Genus (nicht als Kopula-Verb + Prädikativ) geschätzt und
unterscheidet sich vom Aktiv und Vorgangspassiv dadurch, dass es
einen Zustand als Resultat eines vorausgegangenen Prozesses
bezeichnet:
Das Fenster wurde geöffnet. (Prozess)
Das Fenster ist geöffnet. (Resultat)
Jedem Zustandspassiv entspricht ein Vorgangspassiv, aber nicht
jedes Vorgangspassiv hat ein entsprechendes Zustandspassiv:
Die Brotscheibe wird abgeschnitten. – Die Brotscheibe ist
abgeschnitten.
Die Frau wird bewundert.
*Die Frau ist bewundert.
Das Zustandspassiv darf mit dem Vorgangspassiv nicht
verwechselt werden, obwohl beide Formen (vor allem in dialektaler und
64
umgangssprachlicher Verwendung) manchmal aufgrund einer formalen
Ähnlichkeit nicht deutlich genug unterschieden werden. Diese
Ähnlichkeit ergibt sich daraus, dass das Präsens des Zustandspassivs
aus dem Perfekt des Vorgangspassivs, das Präteritum des Zustands-
passivs aus dem Plusquamperfekt des Vorgangspassivs durch Redu-
zierung um worden formal entsteht:
Die Tür ist geöffnet worden. (Perfekt Vorgangspassiv)
Die Tür ist geöffnet. (Präsens Zustandspassiv)
Die Verschiedenheit der Tempus weist auf den unterschiedlichen
semantischen Unterschied hin: das Zustandspassiv drückt einen
statischen Zustand aus, der das Resultat eines vorhergegangenen
dynamischen Vorgangs ist.
Ein Zustandspassiv kann von Verben gebildet werden, die ein
Vorgangspassiv bilden und zugleich resultative Bedeutung haben, d.h.
von Verben, die einen Übergang zu einem neuen Zustand bezeichnen.
Deshalb ist das Zustandspassiv möglich bei Verben wie z.B. verletzen,
verbinden, brechen, einreihen, annähen, abschneiden, kämmen,
waschen, ernten, schreiben, vollenden, öffnen, operieren, schließen,
pflastern, impfen, aber unmöglich bei: bewundern, loben, betrachten,
sehen, befragen, beglückwünschen, zeigen.
Die letzten Untersuchungen der Konkurrenzformen des
Vorgangspassivs lassen von einem „Passivfeld“ (Fleischer 1983: 151)
sprechen, zu dessen Paradigma außer dem werden-Passiv folgende
Passivsynonyme gehören:
1. Aktivsätze: Der Wagen bremste. („Der Wagen“ ist kein Täter,
er wurde gebremst.)
2. bekommen/erhalten/kriegen + Part. II des Vollverbs
(bekommen-Passiv):
Er bekommt/erhält/kriegt das Buch geschenkt. (Ihm wurde ein
Buch geschenkt.)
In dieser Konstruktion verlieren die Verben bekommen/er-
halten/kriegen bei bestimmten semantischen Gruppen von Vollverben
(den Verben des Besitzwechsels: schenken, schicken, spendieren, über-
reichen, aushändigen, zusenden außer geben; den Verben des Mit-
teilens: sagen, mitteilen, darstellen, erklären, erläutern; den Verben der
aktiven Tätigkeit. ziehen, brechen, waschen, schneiden, reparieren,
tapezieren, operieren, reinigen) ihre lexikalische Bedeutung.
Diese Konstruktion wird auch „Dativ“-, „Rezipienten“-,
„Adressaten“-Passiv oder „indirektes“ Passiv genannt, weil im
65
Vorgangspassiv-Satz der grammatische Subjekt zum Adressaten (Dativ-
Objekt) wird:
Er bekommt ein Buch geschenkt. (= Ihm wurde ein Buch
geschenkt.)
Er kriegt den Aufsatz geschickt. (=Ihm wurde der Aufsatz
geschickt.)
3. gehören + Part. II des Vollverbs:
Dieses Verhalten gehört bestraft. (Dieses Verhalten muss bestraft
werden.)
Diese Konstruktion enthält eine Modalbestimmung.
4. sich lassen + Infinitiv:
Das Fenster lässt sich öffnen. (=Das Fenster kann geöffnet
werden)
Diese Konstruktion enthält: eine Modalbestimmung, das Agens
ist dabei unbestimmt-persönlich (nicht umzutauschen mit: Der Gast
lässt sich rasieren. > Der Gast veranlasst, dass er rasiert wird)
Dazu gehört Konstruktion „es lässt sich + Infinitiv +
Lokal/Temporalbestimmung“:
Hier lässt es sich gut arbeiten. (Hier kann gut gearbeitet werden.
Hier arbeitet man gut.)
5. sein/bleiben + zu + Infinitiv:
Der Schmerz ist kaum zu ertragen. (Der Schmerz kann kaum
ertragen werden.)
Diese Konstruktion enthält einen Modalfaktor, der den
Modalverben müssen, sollen, können im Vorgangspassivsatz entspricht.
6. Funktionsverbgefüge, die aus Funktionsverben (bekommen,
erhalten, finden, gehen, gelangen, kommen u.a.) und Nomen actionis
(meist auf -ung) bestehen:
Der Wunsch ging in Erfüllung. (= Der Wunsch wurde erfüllt.)
Das Buch findet Anerkennung. (= Das Buch wird anerkannt.)
Er hat Unterstützung bekommen. (= Er ist unterstützt worden.)
Die Funktionsverben verlieren in diesen Gefügen ihre eigene
lexikalische Bedeutung und bekommen ihre volle Bedeutung nur in
Verbindung mit dem nominalen Bestandteil:
in Behandlung sein – behandelt werden
sich unter Kontrolle befinden – kontrolliert werden
Anerkennung finden – anerkannt werden
einen Auftrag bekommen/erhalten – beauftragt werden
66
7. Reflexivkonstruktionen, die als Reduzierungen der
Konstruktion sich lassen + Infinitiv in der Sprache vorkommen:
Das Buch verkauft sich gut. (Das Buch lässt sich gut verkaufen)
8. Konstruktion mit sein + Adjektiv (auf -bar, -lich, -fähig):
Der Wunsch ist erfüllbar. (Der Wunsch kann erfüllt werden)
Seine Schrift ist leserlich. (Seine Schrift kann gelesen werden)
Der Aufsatz ist erweiterungsfähig. (Der Aufsatz kann erweitert
werden.)
Diese Konstruktion enthält einen Modalfaktor und kann nomina-
lisiert werden:
die Erfüllbarkeit des Wunsches
die Erweiterungsfähigkeit des Aufsatzes
9. Konstruktion mit es gibt + zu + Infinitiv:
Es gibt hier viel zu lesen. (Es kann hier viel gelesen werden.)
Es gibt eine Menge Arbeit zu erledigen. (Es muss/kann eine
Menge Arbeit erledigt werden.)
Diese Konstruktion enthält einen Modalfaktor (der Notwendigkeit
oder der Möglichkeit).
10. Konstruktion mit gehen + zu + Infinitiv:
Das Radio geht zu reparieren. (Das Radio kann repariert
werden.)
Diese Konstruktion enthält einen Modalfaktor (der Möglichkeit)
und kommt nur in der Umgangssprache vor.
Es gibt viele stilistische Diskussionen anhand der Aktiv-Passiv-
Opposition. Fast alle Stilkunden warnen vor dem häufigen Passiv-
gebrauch und begründen diese Warnungen mit den schwerfälligen
werden-Formen. Die Passiv-Kritik bekommt sogar psychologische
Gründe. G.Wustmann (1966: 79) schreibt: „Das häufige Passivum im
Schreiben und Reden trägt den Makel der Energielosigkeit“. L.Reiners
(1964: 78) gibt sogar medizinische Beurteilung, denn der häufige
Gebrauch der „Leideform“ (Passivs) gehört zu den „Stilkrankheiten“.
An anderer Stelle wird der Passivgebrauch als Ausdruck des
„Papierstils“ kritisiert.
Die anderen Sprachkunden finden im Gegensatz viele markante
Beispiele für den Passivgebrauch in der Literatursprache. W. Schneider
schreibt, dass viele Schriftsteller „einen besonders gewählten Gebrauch
von Passiv machen, damit erzielen sie eine besondere stilistische
Wirkung“ (1959: 260-268): „Es ist beschlossen, Lotte, ich will sterben“
67
(Goethe: Die Leiden des jungen Werthers); „Dem Mann kann geholfen
werden“ (Schiller: Die Räuber).
Die starke Vorgangsorientiertheit und Täterabgewandtheit des
Passivs ist eine Ursache für das Häufige Vorkommen dieses Genus in
der Fachsprache. W.Hahn spricht von einer „Passivierung“ der
Fachsprachen (1983: 68). Nach den Untersuchungen von H. Wagner
(1970: 18) erreicht der Passivgebrauch in der Verwaltungssprache einen
Anteil von 40%.

2. Kategorie des Modus (der Aussageweise)


Die Kategorie des Modus gehört zu den kommunikativ-
grammatischen Kategorien des Verbs (wie Kategorie der Zeit, zum Teil
der Person), weil sie das Verb aufs engste mit dem Redeakt und dem
gesamten Kommunikationsprozess verbindet. Diese Beziehung kann
zwei Richtungen haben (zum Kommunikationsprozess und zum
Sprechenden) und durch verschiedene grammatische oder lexikalische
Mittel ausgedrückt werden.
Zu den lexikalischen Mitteln der Modalität zählen Modalwörter
(hoffentlich, sicher, vermutlich, leider u.a.), modale Partikeln (doch,
aber, bloß, fast, beinahe u.a.), Modalverben. Zu den grammatischen
Mitteln gehören die Verben haben und sein + zu + Infinitiv (syntak-
tische Mittel) und die drei Modi, oder Aussageweisen (Indikativ,
Konjunktiv, Imperativ) als morphologische Mittel.
Der am häufigsten in der Rede vorkommende Modus ist der
Indikativ. Er ist die allgemeine Form der sprachlichen Äußerungen (mit
Ausnahme der Aufforderungen) und dient sowohl zur Führung eines
Gesprächs als auch zur Erzählung und zur sachlichen Darstellung. In
ihm werden Fragen und Antworten formuliert, in bejahender und
verneinender Art, in direkter und indirekter Form. Mit dem Indikativ
können auch bei Verwendung verschiedener enrsprechenden lexika-
lischer Mittel unterschiedliche Stellungnahmen zur Geltung einer
Äußerung (Wirklichkeit, Annahme, Zweifel usw.) ausgedrückt werden.
W.Jung nennt ihn „neutral“. Er stellt ein Geschehen als wirklich dar.
Wie W.Schmidt (1972: 134) bemerkt, soll das nicht bedeuten, dass der
Indikativ nur reale Geschehen darstellt, denn er kann Vermutung
(Vielleicht ist er schon da. Er wird gekommen sein.) oder Befehl,
Aufforderung (Du stehst hier!) ausdrücken. Aus diesem Grund wäre es
nach W. Schmidt richtiger, den Indikativ als einen Modus zu
68
bezeichnen, der die Sachverhalte als „gegeben" darstellt. Ein
Geschehen kann nicht real sein, aber als real hingestellt werden.
Gegenüber dem Indikativ spielen der Konjunktiv und der
Imperativ eine beschränkte Rolle. Dabei dient der Imperativ zum
Ausdruck der verschiedenen Formen der Aufforderung. Der Konjunktiv
wird an bestimmte Satzformen verbunden.
Der Konjunktiv bezeichnet nicht wirkliche (irreale), gewünschte,
nicht überprüfte, zweifelhafte, mittelbar berichtete Tatbestände.
Verschiedene Formen des Konjunktivs bezeichnen nicht nur ver-
schiedene Grade der „Irrealität“: Vermutung, Zweifel, völlige Irrealität,
sondern auch Aufforderung, das mittelbar Berichtete, das Nichttatsäch-
liche. Die sechs Zeitformen des Indikativs stehen den acht Tempora des
Konjunktivs gegenüber. Zwischen den Zeitformen des Indikativs und
des Konjunktivs bestehen keine Parallelitäten. So z.B. bezeichnet das
Präteritum Indikativ nur vergangene Geschehen, während das
Präteritum Konjunktiv niemals für die Vergangenheit, sondern für die
Gegenwart oder die Zukunft da ist. Das historische Präsens Indikativ
steht für vergangene Sachverhalte da, das Präsens Konjunktiv dagegen
kann niemals die Vergangenheit bezeichnen, es hat imperativische
Bedeutung („Das Geburtstagskind lebe hoch, dreimal hoch!“). Da in
den Konjunktivformen überwiegend nicht absolute zeitliche Bedeu-
tungen (nur Ablauf oder Vollendung des Geschehens) zum Ausdruck
kommen, sondern modale, spricht man heute vom Konjunktiv I und
Konjunktiv II. Unter Konjunktiv I (der präsentische Konjunktiv)
versteht man Präsens Konj., Perfekt Konj., Futur I/II Konj.; unter
Konjunktiv II (der präteritale Konjunktiv) – Präteritum Konj.,
Plusquamperfekt Konj., Konditionalis I, Konditionalis II.
Der Konjunktiv I drückt die erfüllbare Bitte, die Aufforderung,
den erfüllbaren Wunsch, die Möglichkeit aus:
Er lebe hoch!
Ich habe einige Zeilen ... geschrieben, damit uns ihre
Begegnung ... im Gedächtnis bleibe...(Keller)
Der Konjunktiv II ist der Modus zur Kennzeichnung der
Nichtwirklichkeit, unsicherer Behauptung, unerfüllbaren Wunsches:
Ich möchte es fast glauben.
Könnte ich doch sprechen!
Wenn er käme, müsste ich dich anrufen.
Wenn ich ihn gefragt hätte, hätte er bestimmt geholfen.
Das Wasser war zu kalt, als dass man darin hätte baden können.
69
Bei absoluter Verwendung des Konjunktivs gibt es zwei
Zeitsphären: die gegenwärtig-zukünftige Sphäre, die vom Präsens,
Präteritum und Konditionalis I ausgedrückt wird, und die Sphäre der
Vergangenheit, die im Plusquamperfekt und Konditionalis II ihren
Ausdruck findet (Perfekt und Futur werden als absolute Zeitformen
nicht gebraucht).
Der Konjunktiv I/II bezeichnet auch das mittelbar Berichtete
(indirekte Rede), dabei verliert er oft seinen gewöhnlichen modalen
Wert („Nullform der Modalität“) und dient nur dazu, die fremde
Aussage von der Aussage des Sprechenden zu unterscheiden:
Sage ihm, ich habe (hätte) dich geschickt.
In der indirekten Rede kommen alle Tempusformen vor:
- zur Wiedergabe der Gegenwart erscheinen Präsens Konj.,
Präteritum Konj., Konditionalis I:
Er hat mir gesagt, dass er jetzt das Buch lese/läse/lesen würde.
- zur Wiedergabe der Vergangenheit erscheinen Perf. Konj.,
Plusquamp. Konj.:
Er hat mir gesagt, dass er das Buch gestern gelesen habe/hätte.
- zur Wiedergabe der Zukunft erscheinen Futurum Konj., Präsens
Konj., Präteritum Konj., Konditionalis I:
Er hat mir gesagt, dass er das Buch bald lese/läse/lesen
werde/lesen würde.
Weil der Konjunktiv ein Mittel neben den anderen zur
Kennzeichnung der indirekten Rede ist, gibt es eine gewisse Freiheit in
der Moduswahl. Manchmal sind diese verschiedene Ausdrucksmittel
modal interpretiert, d.h. als Ausdruck unterschiedlicher Sprecher-
stellungsnahmen und -intentionen verstanden worden (z.B. Indikativ als
Ausdruck der Identifizierung mit dem Gesagten, Präsens Konj. als
Ausdruck der Neutralisierung, Präteritum Konj. als Ausdruck der
Distanzierung vom Gesagten); diese Interpretationen haben sich in
verschiedenen Forschungen nicht bestätigt. Deshalb wird heute nicht
um „Modusoppositionen“ gesprochen, sondern um verschiedene
fakultative Varianten, die sich durch andere Parameter unterscheiden
(Textsorte, Stilbesonderheiten, phonetische, morphologische Besonder-
heiten, territoriale Differenzierung u.a.).
Was den Gebrauch von Indikativ und Konjunktiv in der
indirekten Rede betrifft, neigt die Entwicklung der deutschen Sprache
dazu, den Indikativ in immer stärkerem Masse zu verwenden. In den
verschiedenen Funktionsstilen ist der Modusgebrauch auch verschieden.
70
Laut Duden-Grammatik (2005: 173) wird in der Umgangssprache
vorwiegend der Konjunktiv von 3 Verben gebraucht (haben, sein,
werden), die als Voll/Hilfsverben auftreten (60% von allen Konjunktiv-
formen), und von Modalverben (20%). Sonst werden besonders in
weniger ausgebildeten Kreisen in der indirekten Rede nur Konjunktiv II
und Indikativ verwendet. Es gibt territoriale Differenzierung im
Gebrauch des Konjunktivs: in Nord- und Mitteldeutschland wird
ausschließlich Konjunktiv II bevorzugt.
Nach Auszählungen von S. Jäger (1971: 20) machen
Konjunktivformen von der Gesamtzahl der Finita in den literarischen,
publizistischen, wissenschaftlichen Texten etwa 7,64% im
Durchschnitt. Besonders hoch liegen die Konjunktivanzahlen in den
politischen Berichterstattungen (17% - 35,6% von allen Finita) der
Pressesprache.
Der Imperativ drückt einen Befehl, eine Aufforderung, eine Bitte
oder eine Erlaubnis des Sprechers (1. Person) an die angesprochene
Person (2. Person) aus. Nach W. Jung (1980: 123) ist der Imperativ
immer eine Willensäußerung, die auf den Angesprochenen oder auf den
Sprecher selbst gerichtet ist. Dieser Modus besitzt kein System der
Zeitformen, wie es beim Indikativ und Konjunktiv der Fall ist, er
kommt in der Regel nur in einfachen Sätzen vor.
Beim Gebrauch der Imperativformen sind einige kommunikativ
bedingte Beschränkungen zu beachten:
1. Verben, die in ihrer Bedeutung nach keine Aufforderung
ausdrücken können, haben keine Imperativformen. Zu diesen Verben
gehören die Modalverben, die unpersönlichen Verben, Verben wie
gelten, kennen, wiedersehen usw.
2. Verben der negativen Bedeutung verwenden den Imperativ
meist nur mit Negation:
Lüge nicht! Verschluck dich nicht!
3. Die vertraulichen Imperativformen stehen in der Regel ohne
Personalpronomen (du, ihr). Wenn bei diesen Formen ein Personal-
pronomen steht, wirde damit die Person vor anderen hervorgehoben:
Komm du einmal! Macht ihr das bitte!
4. In der Umgebung des Imperativs erscheinen oft die Partikeln:
Komm mal schnell her! Komm doch mit!

Es gibt zahlreiche Paraphrasen für den Aufforderungssatz mit


Imperativ (der als Grundform der Aufforderung anzusehen ist):
71
- der kategorische Indikativ des Präsens oder des Futurs:
„Sie fahren nicht weiter!“ schrie sie.
Wir werden jetzt einmal zusammen arbeiten, Hans!
- der Konjunktiv I (Präsens), oft mit unbestimmten Pronomen
man:
Man nehme einen Esslöffel Zucker.
- der Infinitiv:
Aufpassen! Setzen! Unfälle verhüten!
- das Partizip II:
Nicht zu viel geschwatzt! Aufgepasst! Rauchen verboten!
- elliptisch gebrauchte Nomina und Adverbien:
Achtung! Tempo! Zurück!
- ein dass-Satz:
Dass du mir gut aufpasst!
- Umschreibungsformen mit Modalverben sollen, müssen, wollen,
lassen, nicht dürfen:
Du sollst kommen! Wir müssen endlich schreiben! Wollt ihr
gleich aufhören! Wir wollen baden gehen! Wollen wir spielen!
Lasst uns baden gehen! Du darfst hier nicht lärmen!
- ein formengleiches Passiv (an die 2. Person gebunden):
Jetzt wird das Buch gelesen! = Lies/lest das Buch!

3. Kategorien der Person und der Zahl


Diese Kategorien sind für die Verben sekundär, weil sie primär
auf Nomina bezogen sind. W. Admoni (1986: 78) nennt die Kategorien
der Zahl und der Person „logisch-grammatische Kategorien“, weil sie
von der Form des Subjektes abhängen und nicht unmittelbar mit dem
Kommunikationsprozess verbunden sind.
Die grammatische Kategorie der Person kann sein:
Person Singular Plural
die sprechende (1.) Pers. ich wir
die angesprochene (2.) Pers. du ihr
die besprochene (3.) Pers. er, sie, es sie

Die sprechende und die angesprochene Personen sind Personen,


die am Gespräch teilnehmen. Bei der 1. und 2. Grammatischen Person
handelt es sich immer um natürliche Personen. Die besprochene (3.)
Person ist eine grammatische Person, die am Gespräch nicht beteiligt
72
ist. Bei der 3. Person handelt es sich nicht nur um Personen, sondern
auch um Nicht-Personen (z.B. Sachen, Abstrakta) der außen-
sprachlichen Realität.
Falls die angesprochene Person erwachsen, mit der sprechenden
Person nicht verwandt oder näher bekannt ist, wird im Singular und
Plural statt du und ihr die Höflichkeitsform Sie verwendet. Das Verb
nach Sie wird konjugiert wie in der 3. Person Plural:
Du hast mich nicht besucht. – Sie haben mich nicht besucht.
Die Kategorie des Numerus zeigt, ob sich das mit dem Verb
Ausgesagte auf eine Person/einen Gegenstand oder auf mehrere bezieht,
darum sind bei dieser grammatischen Kategorie zu unterscheiden:
-Singular (bezeichnet Einzahl oder Nicht-Gegliedertheit),
-Plural (bezeichnet Mehrzahl oder Gegliedertheit)
Zwischen dem syntaktischen Subjekt des Satzes und dem Verbum
finitum besteht Kongruenz, d.h. Übereinstimmung des finiten Verbs
mit dem Subjekt in Person und Numerus. Person und Numeri werden
durch die entsprechenden Personalpronomen und durch Endungen
gekennzeichnet. Die Personalendungen des Verbs zeigen zugleich, in
welcher grammatischen Zahl (Singular oder Plural) oder in welcher
Person das Verb steht. Die grammatischen Kategorien der Person und
des Numerus kommen also synkretisch durch eine und dieselbe Endung
zum Ausdruck, obwohl diese Endungen traditionell nur Personal-
endungen genannt werden.
Im frühen Neuhochdeutschen war noch die 2. Person Plural
zugleich auch die Höflichkeitsform:
Ich tue, was Ihr befehlt, Eure Majestät.
Infolge der stilistischen Transposition setzte sich allmählich die 3.
Person Plural als Höflichkeitsform durch und verdrängte die 2. Person
Plural. Als stilistisches Mittel – meistens um der Aussage einen
scherzhaften Charakter zu verleihen – dient die Transposition der 2.
Person Singular oder Plural in den Bereich der 1. Person Plural:
Was haben wir heute gemacht? (= Was hast du (habt ihr) heute
gemacht?)
Bei unpersönlichen Verben und beim unpersönlichen Gebrauch
der persönlichen Verben erfolgt die Neutralisation der Person und des
Numerus:
Es blitzt.
Es wird zu laut gesprochen.
4. Aufgaben
73
1. Welche drei Haupttypen des Vorgangspassivs werden im Deutschen
unterschieden?
2. Nennen Sie Konkurrenzformen des Vorgangspassivs.
3. Warum bezeichnet W. Admoni die Kategorie des Modus als
kommunikativ-grammatische Kategorie?
4. Nennen Sie lexikalische und grammatische Mittel zum Ausdruck der
Modalität.
5. Nennen Sie Paraphrasen für den Aufforderungssatz mit Imperativ.
6. Wie kommen die grammatischen Kategorien der Person und des
Numerus zum Ausdruck?
7. Formen Sie folgende Sätze in das Passiv um, wenn es möglich ist,
erklären Sie im negativen Falle, warum es nicht möglich ist:
Die Studenten diskutieren den ganzen Abend.
Der Schüler hat sich gewaschen.
Der Roman umfasst drei Teile.
Das Auto erfasste den Fußgänger.
Die Flasche hat einen Liter gefasst.
Der Briefträger hat dem Adressaten das Päckchen gegeben.
In diesem Sommer hat es viel Regen gegeben.
Wir haben diesen Winter strenge Fröste gehabt.
Der Direktor hat den Gast nicht empfangen.
Der Angestellte hat die Altersgrenze erreicht.
Die Stammgäste haben die besten Plätze besetzt.
Die Couch kostet 200 Euro.
Der Koch kostete die Suppe.
Er duschte sich jeden Morgen.
Der Student erhielt für seine Arbeit eine gute Note.
5. Ersetzen Sie Passiv durch Konkurrenzformen:
Der Schlüssel wird gefunden.
Das Buch kann gut verkauft werden.
Hier kann gut gearbeitet werden.
Dem Mädchen ist zum Geburtstag eine Puppe geschenkt
worden.
Sein Wunsch kann erfüllt werden.
Die Beeren können gegessen werden.
6. Bestimmen Sie die Verbalformen in den folgenden Sätzen nach
Person, Numerus, Tempus, Genus, Modus:
Er ist von der Richtigkeit seiner Ergebnisse überzeugt gewesen.
Das Mädchen wird von ihrem Freund im Cafe gesehen worden sein.
74
Die Bücher würden gelesen, wenn sie einfacher geschrieben worden
wären.
Du warst informiert gewesen, ehe man dir die Aufgabe übertragen
hätte.
Es wäre für mich besser gewesen, wenn ich die Möglichkeit der
Konsultation gehabt hätte.
Vor dem Urlaub werden die Studenten auch die letzten Prüfungeng
bestanden haben.
7. Ordnen Sie den folgenden verbalen Kategorien Person, Numerus,
Tempus, Genus und Modus die entsprechende konkrete Form des in
Klammern stehenden Verbs zu:
Muster: 2. Person Singular Plusquamperfekt Vorgangspassiv
Konjunktiv (überholen) – du wärest überholt worden
a) 1. Person Plural Plusquamperfekt Aktiv Konjunktiv (schneller laufen
müssen)
b) 1. Person Singular Perfekt Vorgangspassiv Indikativ (auszeichnen)
c) 3. Person Singular Präteritum Zustandspassiv Indikativ (verletzen)
d) 2. Person Plural Präteritum Aktiv Konjunktiv (zur Kur fahren
müssen)
e) 3. Person Plusquamperfekt Vorgangspassiv Konjunktiv (überfahren)
f) 3. Person Singular Präsens Aktiv Konjunktiv (die Arbeitszeit besser
ausnutzen können)

5. Literatur
1. Die Grammatik Duden Bd. 4. 7. Aufl. – Mannheim: Brockhaus, 2005.
2. Eichler, Bünting. Deutsche Grammatik. – Kronberg, 1976.
3. Hahn von, W. Fachkommunikation. – Berlin, 1983.
4. Helbig G., Buscha J. Deutsche Grammatik. – Berlin, 2004.
5. Jung W. Grammatik der deutschen Sprache. – Leipzig: VEB, 1980.
6. Radtke P. Die Kategorien des deutschen Verbs. – Tübingen: Narr, 1998.
7. Reiners L. Stilfibel. – München, 1964.
8. Schmidt W. Deutsche Sprachkunde. – Berlin, 1972.
9. Schneider W. Stilistische deutsche Grammatik. – Freiburg, 1959.
10. Wagner H. Die deutsche Verwaltungssprache der Gegenwart. – Düsseldorf,
1970.
11.Weisgerber J. L. Grundzüge der inhaltbezogenen Grammatik. – Düsseldorf,
1962.
12. Wustmann G. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen
und des Hässlichen. – Berlin, 1966.
75
Lerneinheit 7. Infinite Verbformen

1. Infinitiv I und II
2. Partizipien
3. Aufgaben
4. Literatur

1. Infinitiv I und II
Im Unterschied zu den finiten Verbformen, die konjugierbar sind,
drücken die infiniten Formen (Nominalformen des Verbs) nicht die
Kategorien der Person, des Numerus und des Modus, sondern nur die des
Tempus und des Genus aus. Nach den morphologischen Merkmalen unter-
scheidet man drei infinite Verbformen: Infinitiv, Partizip I, Partizip II.
Die Grundform des Infinitivs ist der Infinitiv I (Präsens) Aktiv:
lesen, kommen. Neben dem Infinitiv I Aktiv gibt es noch den Infinitiv II
(Perfekt) Aktiv: gekommen sein, gelesen haben. Diese Kategorie der Zeit
ist nicht auf die objektive Zeit bezogen (wie bei finiten Verben), sondern
stellt den Prozess in seinem Verlauf (Infinitiv I) oder als abgeschlossen
(Infinitiv II) dar:
Er soll das Buch lesen.
Er soll das Buch schon gelesen haben.
Zum Infinitiv I Aktiv und zum Infinitiv II Aktiv gibt es bei
passivfähigen Verben entsprechende Passivformen – Vorgangspassiv und
Zustandspassiv:
geöffnet werden (Infinitiv I Vorgangspassiv) – geöffnet worden sein
(Infinitiv II Vorgangspassiv)
geöffnet sein (Infinitiv I Zustandspassiv) – geöffnet gewesen sein
(Infinitiv II Zustandspassiv)
Infinitiv
Infinitiv I Infinitiv II

Aktiv Passiv Aktiv Passiv

Vorgangs- Zustands- Vorgangs- Zustands-


passiv passiv passiv passiv
Der Infinitiv wird vor allem in Verbindung mit einem finiten Verb
gebraucht, von dem die verbalen Merkmale getragen werden (Person, Zahl,
Tempus, Modus).
76
Man unterscheidet den reinen und den präpositionalen Infinitiv (mit
Subjunktion zu), den erweiterten (Infinitivgruppe) und nichterweiterten
Infinitiv.
Bei den Verbindungen des Infinitivs mit einem finiten Verb ist
zwischen notwendigen (valenzgebundenen) und freien (valenzunabhän-
gigen) Verbindungen zu unterscheiden. Der Infinitiv ist immer Vollverb
und erfüllt in den notwendigen Verbindungen mit finitem Nicht-Vollverb
syntaktische Rolle:
1. Subjektes (immer mit Subjunktion zu):
Zu schreien gehört sich nicht.
Es gefällt ihm, eingeladen zu werden.
Solche Verbindungen können nur wenige unpersönliche oder
unpersönlich gebrauchte Verben eingehen.
2. des grammatischen oder lexikalischen Prädikatsteils (mit oder
ohne zu):
Die Aufgabe war schnell zu lösen.
Sie hat ein Buch zu lesen.
Du brauchst nicht zu fragen.
Ich konnte das übersetzen.
Wir werden verreisen.
Sie blieb stehen.
Das finite Verb ist ein Nicht-Vollverb (Hilfsverb, Modalverb, modi-
fizierende Verben lassen, bleiben).
Die Fügungen haben/sein + zu + Infinitiv drücken die Notwen-
digkeit, manchmal die Möglichkeit aus und werden deswegen als modal
bezeichnet („modaler Infinitiv“). W. Admoni (1986: 132) nennt diese
Modalität „logisch-grammatische Modalität“ im Unterschied zur kommu-
nikativ-grammatischen (der verbalen Modi), weil sie das Verhältnis
zwischen dem Subjekt des Satzes und dem Vorgang (nicht zwischen dem
Subjekt und dem Inhalt der Äußerung) bezeichnet.
Der Infinitiv I Aktiv hat in Verbindung mit Verben bleiben, stehen in
einem bestimmten Kontext passive Bedeutung mit modaler Schattierung:
Die Folgen bleiben abzuwarten. (= Die Folgen müssen abgewartet
werden)
Hier steht zu lesen. (=Hier kann gelesen werden)
3. Objektes (in der Regel mit zu) bei Verben, Adjektiven und
Partizipien:
Ich hoffe, sie bald zu sehen.
Er verlangte, den Schüler zu bestrafen.
77
Der Vater war stolz, diese Worte über seinen Sohn zu hören.
Alle waren erstaunt, so was zu sehen
Ohne Subjunktion zu wird der Infinitiv nach den Wahrnehmungsverben
gebraucht.
Ich sah das Auto halten.
4. des Attributes:
Sein Bemühen, die Prüfung gut zu bestehen, wurde belohnt.
Er hat das Recht, diese Papiere zu lesen.
In der freien Verbindung mit dem finiten Verb (valenzunabhängigen
Infinitivkonstruktionen (an)statt ... zu, ohne... zu, um ... zu) erfüllt der
Infinitiv die syntaktische Rolle der Adverbialbestimmung:
Der Junge ging ins Kino, (an)statt seine Hausaufgaben zu erfüllen.
Das Kind lief auf die Straße, ohne auf die Autos zu achten.
Er rennt, um die Straßenbahn zu erreichen.
Der Infinitiv kann isoliert gebraucht werden als Einwortsatz, der eine
Aufforderung ausdrückt:
Absteigen! Singen! Aufhören!
Syntaktische Funktionen des Infinitivs beweisen seine nominalen
Merkmale und als verbales Merkmal kann seine Funktion des
Hauptvalenzträgers im zusammengesetzten Prädikat genannt werden.

2. Partizipien
Die Partizipien bezeichnen Eigenschaften von Wesen und Dingen,
die als Ergebnis eines Geschehens entstanden sind. Sie besitzen sowohl
nominale als auch verbale Merkmale, weil sie ihrer Entstehung, Bildung
und ihrem Gebrauch nach zwischen Adjektiv und Verb stehen. Man nennt
im Deutschen Partizipien „Mittelwörter“. Wie finite Verben bezeichnen
Partizipien ein Geschehen, aber ohne Bezugnahme auf den Täter und
Kommunikationsprozess, darum enthalten sie die Kategorie des Modus
nicht. Die Kategorien der Person, des Numerus sind für sie nicht eigen,
wenn sie mit einem finiten Verb in Verbindung sind. Die Kategorie der
Zeit wird bei ihnen im Verhältnis zum finiten Verb ausgedrückt: als
Gleichzeitigkeit/Nachzeitigkeit („Präsenspartizip“ oder Partizip I) oder
Vorzeitigkeit („Perfektpartizip“ oder Partizip II) zum finiten Verb.
Nominale Merkmale der Partizipien:
Die Partizipien stehen den Adjektiven nahe und können attributiv
gebraucht werden: das gelesene Buch, das spielende Kind. In Verbindung
mit einem Substantiv übernimmt das Partizip die adjektivischen Merkmale
für Genus, Kasus, Numerus, Deklinationsart und Komparation (Partizip I
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in übertragener Bedeutung: die schreiendsten Farben, ein geeigneteres
Beispiel). In Verbindung mit einem finiten Verb sind Partizipien in der
Form unveränderlich, die verbalen Kategorien werden durch das finite
Verb getragen. Man vergleicht die Genusformen von Partizipien als
Prädikativ und als Attribut:
ihr Vortrag war überzeugend – ihr überzeugender Vortrag
sein Roman ist gelungen – sein gelungener Roman
Manche Partizipien werden als solche nicht mehr aufgefasst und sind
zu Adjektiven geworden, ihre Verbindung mit dem Verb ist verblasst:
verrückt, verlegen, spannend, glänzend, ausgezeichnet, dringend, geschickt
usw. Die Partizipien können substantiviert werden, dabei behalten sie die
Deklination der Adjektive bei: der Gelehrte, der Verwandte, der
Abgeordnete, der Verwundete, der Erwachsene, der Reisende, das
Unbekannte u.a.

Verbale Merkmale der Partizipien:


Das Partizip II ist eine der Grundformen des Verbs und dient zur
Bildung der analytischen Verbformen. In Partizipien kommt das verbale
Genus zum Ausdruck.
Das Partizip I wird vom Präsens Aktiv transitiver und intransitiver
Verben gebildet, es hat deswegen eine aktive Bedeutung und bezeichnet
ein nicht abgeschlossenes Geschehen, das zeitlich mit dem Geschehen des
Prädikats zusammenfällt:
Das spielende Mädchen sitzt auf dem Fußboden.
Das Mädchen sitzt spielend auf dem Fußboden.
Das attributive Partizip I der passivfähigen transitiven Verben mit zu
hat passivische Bedeutung und drückt die Notwendigkeit eines Geschehens
aus (entspricht dem lateinischen Gerundivum). Mit der Negation nicht gibt
es die Möglichkeit an:
die anzuerkennende Leistung (=die Leistung, die anerkannt werden
muss)
die nicht zu regelnde Angelegenheit (=die Angelegenheit, die nicht
geregelt werden kann)
Gerundiv ist nur attributiv möglich.
Im Partizip I von reflexiven Verben bleibt das Reflexivpronomen
sich erhalten:
das sich waschende Kind, das sich schämende Kind
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Das Partizip II der transitiven perfektiven Verben hat eine
passivische Bedeutung und bezeichnet das Resultat eines abgeschlossenen
Geschehens:
Das geöffnete Buch steht im Regal. (= Das Buch, das geöffnet
worden ist, steht im Regal)
Das Partizip II der transitiven durativen Verben hat eine passive
Bedeutung, stellt aber kein Resultat des Geschehens dar, sondern zeigt es in
seiner Dauer, es wird als solches aufgefasst, das sich gleichzeitig mit dem
Geschehen des Prädikats abspielt.
Der getragene Koffer ist schwer. (= Der Koffer, der von ihm
getragen wird, ist schwer)
Das Partizip II der intransitiven perfektiven Verben hat eine aktive
Bedeutung:
Die angekommenen Gäste unterhielten sich laut. (= Die Gäste, die
angekommen sind, unterhielten sich laut)
Im Partizip II von reflexiven Verben bleibt das Reflexivpronomen
nicht erhalten:
das gewaschene Kind, das erkältete Kind
Die Partizipien können im Satz folgende syntaktische Funktionen
erfüllen:
a) des Attributs:
die duftenden Blumen; das verlorene Spiel; die erfüllte Aufgabe
Ausnahme bilden Partizip II von intransitiven imperfektiven Verben
– sie können nur mit adverbialer Angabe attributiv gebraucht werden – und
Part. II von intransitiven Verben, die die Vergangenheit mit haben bilden:
falsch: der gelaufene Junge (richtig: der nach Hause gelaufene
Junge)
falsch: die geblühte Blume
c) der Adverbialbestimmung:
Lächelnd kam sie herein.
d) prädikativen Attributs:
Sie kam aufgeregt nach Hause.
Das prädikative Attribut unterscheidet sich von der
Adverbialbestimmung dadurch, dass es nicht eine nähere Bestimmung zum
Prädikat, sondern eine solche zu Subjekt oder Objekt ist und folglich in ein
Prädikativ (zu Subjekt oder Objekt) verwandelt werden kann:
Man trug ihn verletzt vom Sportplatz. (=prädikatives Attribut)
>Man trug ihn vom Sportplatz, er war verletzt.
Man trug ihn eilend vom Sportplatz. (=Adverbialbestimmung)
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>Man trug ihn vom Sportplatz. Das Tragen war eilend.
d) Hauptgliedes eines eingliedrigen Satzes:
Stillgestanden!
e) Subjektes:
Gesagt – getan.
f) Teils eines einfachen bzw. zusammengesetzten Prädikats:
Die Gäste sind eingeladen.
Wo kann ich dieses Lied gehört haben?
Sie haben schon gegessen.
Das Buch wird vertauscht.
Partizipien können durch notwendige und freie Glieder zu
Partizipialkonstruktionen erweitert sein, die sich unter dem syntaktischen
Aspekt in drei Subklassen geteilt werden
1. attributive Partizipialkonstruktion (bezieht sich auf Substantiv):
Eine ärztliche Behandlung, aufbauend auf einer eindeutigen
Diagnose, hätte den Patienten gerettet. (>Eine ärztliche Behandlung, die
auf einer eindeutigen Diagnose aufbaut, hätte den Patienten gerettet.)
2. adverbiale Partizipialkonstruktion (bezeichnet Art, Zeit, Ort;
Grund des Geschehens):
In Hamburg angekommen, besuchte der Arzt seinen Freund.
(>Nachdem er in Hamburg angekommen war, besuchte der Arzt seinen
Freund)
Sich vor dem Gewitter fürchtend rannte der Junge sofort nach
Hause. (>Weil er sich vor dem Gewitter fürchtete, rannte der Junge sofort
nach Hause)
3. Partizipialkonstruktion als Nebenprädikat (bezeichnet ein
zusätzliches Geschehen):
Der Autor unterscheidet vom 19. Jahrhundert angefangen mehrere
Phasen in der Entwicklung der modernen Kunst. (>Der Autor
unterscheidet mehrere Phasen in der Entwicklung der modernen Kunst,
wobei er mit dem 19. Jahrhundert anfängt.)

3. Aufgaben

1. Welche Kategorien sind den infiniten Verbformen eigen?


2. Wodurch unterscheiden sich finite Verbformen von den infiniten?
3. In welche Gruppen werden infinite Verbformen eingeteilt?
4. Wie können die Verbindungen des Infinitivs mit dem finiten Verb
sein?
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5. Welche syntaktischen Rollen kann der freie und gebundene Infinitiv
erfüllen?
6. Nennen Sie nominale und verbale Merkmale der Partizipien.
7. Welche Bedeutung hat Partizip I?
8. Das Hilfsverb sein mit Partizip I drückt einen Zustand aus, verstärkt
die Bedeutung des Zustandes einer finiten Verbform. Die Zahl der
Verben, die sich in der Form des Partizips I mit sein verbinden können,
ist aus semantischen Gründen stark eingeschränkt.
Welches Verb kann die Zustandsform mit sein + Part. I bilden?
Muster: Das Metall glüht/schmilzt.
Das Metall ist glühend.
Das Metall ist schmelzend.
Die Krankheit bricht aus / steckt an.
Seine Beweisführung überzeugte / misslang.
Das Getränk erfrischt / kühlt ab.
Ihr Hut gefiel / fiel ab.
Der Augenblick vergeht / entscheidet.
Die Diskussion ermüdete / entwickelte sich.
Die Fahrt begann / strengte an.
9. In welche Subklassen werden Partizipialkonstruktionen eingeteilt?
10. Verwandeln Sie die folgenden Partizipialkonstruktionen in
Relativsätze bzw. konjunktionale Adverbialsätze und entscheiden Sie
danach, ob sie attributiv oder nicht attributiv sind. Wenn es möglich ist,
versuchen Sie ein erweitertes Partizipialattribut zu bilden:
Das Flugzeug, mit Medikamenten für das Not leidende Gebiet beladen,
erreichte seinen Bestimmungsort.
Das Obst, sorgfältig in Kisten verpackt, wurde ausgeladen.
Das Mädchen, sich vor Dunkelheit fürchtend, vermied den Weg durch
den Wald.
Die Eltern, besorgt die Stirn runzelnd, sahen dem Spiel des Kindes zu.
Der Autofahrer, durch einen Unfall schwer verletzt, musste in ein
Krankenhaus eingeliefert werden.
11. Wenn die Partizipialkonstruktionen adverbialen Charakter haben,
lassen sie verschiedene semantische Interpretationen zu und sind auf
entsprechende explizite adverbiale Nebensätze zurückführbar. Bilden
Sie aus den folgenden Partizipialkonstruktionen konjunktionale
Nebensätze.
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Muster: Durch das Hauptreferat angeregt, meldete er sich zur
Diskussion.
Nachdem / Weil er durch das Hauptreferat angeregt worden
war, meldete er sich zur Diskussion (=temporal/kausal)
Der Patient, in die Klinik eingeliefert, wurde sofort operiert.
Von der Krankheit genesen, konnte das Kind das Krankenhaus wieder
verlassen.
Von seiner Meinung überzeugt, entfachte der Autor eine scharfe
Polemik.
Von den guten Leistungen der Schüler überrascht, lobte der Lehrer
seine Schüler.
Er verabschiedete sich, die Hand an die Mütze hebend.

4. Literatur
1. Admoni W. Der deutsche Sprachbau. – Moskau, 1986.
2. Deutsche Sprache. Kleine Enzyklopädie. // Hrsg. W.Fleischer, G.Helbig,
G.Lerchner. – Frankfurt am Main: Peter Lang, 2001.
3. Die Grammatik Duden Bd. 4. 7. Aufl. – Mannheim: Brockhaus, 2005.
4. Engel U. Deutsche Grammatik. – München: Iudicum, 2004.
5. Helbig G., Buscha J. Deutsche Grammatik. – Berlin, 2004.
6. Jung W. Grammatik der deutschen Sprache. – Leipzig: VEB
Bibliographisches Institut, 1980
7. Schendels E.I. Grammatik der deutschen Sprache. – Moskau, 1988.
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INHALTSVERZEICHNIS

Teil I
Vorwort..............................................................................................3
Lerneinheit 1. Grundbegriffe der Grammatik....................................4
Lerneinheit 2. Zur Entwicklung der Grammatik................................10
Lerneinheit 3. Wortarten....................................................................16
Lerneinheit 4. Das Verb. Klassifizierung der Verben........................23
Lerneinheit 5. Das Verb: Tempusformen.......................................39
Lerneinheit 6. Das Verb: Genus, Modus, Person und Zahl...............57
Lerneinheit 7. Infinite Verbformen....................................................72

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